Österreich

Vom "Fall der Mauer" zur Festung Europa: Eine scheinbare Kehrtwende

von Johanna WeichselbaumerBoris Lechthaler

Als im September 2015 täglich Tausende Flüchtlinge über die ungarisch-österreichische Grenze nach Wien weiter Richtung Westen zogen, wurde im Ö1-Mittagsjournal einer der vielen freiwilligen Helfer interviewt. "Es ist wie beim Fall der Mauer!", äußerte er sich, sichtlich enthusiasmiert. Uns ahnte Schlimmes. Lässt sich nicht doch vom Fall der Mauer hin zu jener Außenwirtschaftspolitik und hin zu jenen Kriegen im Umfeld Europas, die für die Fluchtbewegungen wesentlich mitverantwortlich sind, ein Erzählstrang bilden.

 

Tiefe Sehnsucht nach Anteilnahme und Solidarität ...

Was in diesen Tagen als "Willkommenskultur" firmierte, war tatsächlich beeindruckend. Unzählige Menschen waren verbunden in ihrer spontanen Hilfsbereitschaft.  Die grausige Entdeckung von 78 erstickten Menschen in einem Kühl-LKW in Burgenland, wenige Wochen davor, zweifellos auch Opfer des EU-Dublinsystems, drängte die Regierung in die Defensive.  Die Willkommenskultur brachte eine tiefe Sehnsucht nach Anteilnahme und Solidarität zum Ausdruck, die entgegen aller Bemühungen, alle gesellschaftlichen Sphären mit Konkurrenz zu durchdringen, weiterlebt. Diese Willkommenskultur war im Frühherbst 2015 von enormer Spontanität und Vitalität getragen. Einige Zeit lang wagte es kaum jemand aus dem politischen Zentrum sich offen dagegen zu stellen. Selbst die Boulevardmedien sahen sich genötigt, sich in Hilfsbereitschaft und Anteilnahme zu üben. Eine vorausschauende, verantwortungsvolle Politik musste sich die Frage stellen, wie gesichert werden könnte, dass sie nicht bloß ein kurzes Strohfeuer bleibt, sondern zu einer lang andauernden Glut für eine andere Politik wird.

 

... und die erratischen Bewegungen der Regierung

Es konnte der Aufmerksamkeit nicht entgehen, dass diese Welle an Hilfsbereitschaft und Anteilnahme noch lange nicht die ganze Gesellschaft, mitunter nicht einmal eine Mehrheit erreicht hatte. Ein Ereignis in Oberösterreich steht prototypisch für diese Erscheinung. Im Spätsommer 2015 setzte die  Feuerwehr Feldkirchen ein Zeichen: Um insbesondere den Kindern in den Tagen großer Hitze eine Erleichterung zu bereiten, setzten sie kurzerhand eines ihrer Löschfahrzeuge ein, um bei einer Flüchtlingsunterkunft einen Sprühnebel zu inszenieren. Das Foto eines glücklichen syrischen Mädchens im Sprühnebel ging durch alle Medien. Der Facebook-Eintrag eines Lehrlings, es wäre besser gewesen, die Feuerwehr hätte statt des Sprühnebels Flammenwerfer eingesetzt, rief breite Empörung hervor. Der Dienstgeber des Lehrlings reagierte prompt: der Lehrling wurde entlassen. Es gab eine Reihe derartiger Fälle. Aufrufe gegen Hasspostings wurden lanciert, strafrechtliche Maßnahmen gefordert. Etwas genaue Beobachtung musste erkennen, dass die AutorInnen derartiger Postings darauf hoffen konnten, auf verbreitete Aufmerksamkeit und Zustimmung zu stoßen. Die  Aufrufe und Forderungen nach Maßnahmen gegen Hasspostings richteten sich gegen die extremsten und eigentlich tölpelhaftesten Auswüchse, tangierten aber die verbreiteten Haltungen kaum. Dass sie in die Mitte der Gesellschaft vordringen konnten und dort bereitwillig Verbreitung und Aufnahme fanden, steht in enger Verbindung mit der Tatsache, dass die Bundesregierung in jenen Tagen den Eindruck vermittelte, dass ihr die Lage völlig entglitten sei.

 

Eine Verkettung mit Deutschland ...

Ab dem Zeitpunkt, in dem die deutsche Regierung verkündete, das Dublinverfahren für Flüchtlinge aus Syrien auszusetzen, hing die Politik der österreichischen Bundesregierung völlig von Deutschland ab. Ausgesprochen und unausgesprochen wurde deutlich, dass der Einfluss der zivilgesellschaftlichen Bewegung dann ein Ablaufdatum hat, wenn sie in Berlin abgelaufen ist. Die medialen Scharmützel, die jetzt zwischen Berlin und Wien bezüglich Schließung der Balkanroute stattfinden, verdecken kaum, dass auf der operativen Ebene von der deutschen Seite schon längere Zeit kein "Wir schaffen das!" mehr gilt. Inoffizielle  Tageskontingente führten zu einem immer größeren Rückstau an Menschen, die eigentlich nach Deutschland wollten. Menschen aus den Mahgrebstaaten wird schon seit Monaten systematisch die Einreise verwehrt. Der deutsche Innenminister Lothar de Maiziere rüffelte noch beim Februargipfel der EU-InnenministerInnen die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, Österreich müsse das Durchwinken beenden.

 

... und die Umsetzung lang geplanter Vorhaben

Auf der Tastatur der falschen Dichotomien wurde monatelang gespielt, allein die Bereitschaft zuzuhören wurde immer geringer. Zunächst gab es da heftige Wortgefechte zwischen Bundeskanzler Faymann und dem ungarischen Premier Victor Orban. So notwendig es auch war und ist, dessen antihumanistischen Tiraden entgegenzutreten, so notwendig war und ist es, darauf hinzuweisen, dass Ungarn geltendes EU-Recht umsetzt: Schutz der Schengen-Außengrenze, Unterscheidung zwischen Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten. Die Getriebenheit der Bundesregierung war ein gefundenes Fressen für die FPÖ. Deren Propaganda mit Appellen gegen die "Verhetzung" zu begegnen ist notwendig, aber nicht hinreichend, soll ihr der Boden wirklich entzogen werden. Die damit verbundenen Wortgefechte entpuppten sich insofern als hohl, als sie kaum verdeckten, dass man im Wesentlichen das Gleiche forderte: die EU-Außengrenzen müssten dicht gemacht werden. Und so verkündete der freiheitliche NR-Abgeordnete Lothar Höbelt nach der Wahl zum Wiener Landtag Anfang Oktober zynisch, die EU habe bereits zwei Drittel des FPÖ-Programms umgesetzt. Eine andere falsche Dichotomie betraf den Schutz der österreichischen Außengrenzen. Es vermittelte sich der Eindruck, der Schutz der Grenze stünde in fundamentalem Widerspruch zu den Anforderungen an eine von Humanität getragene Flüchtlingspolitik. Wenn aber eine humane Flüchtlingspolitik Ziel einer gesamtnationalen Anstrengung werden sollte, ist die Sicherstellung der notwendigen Logistik eine wesentliche politische Aufgabenstellung. "Wie Österreich für Flüchtlinge unattraktiv machen?" war ein weiterer anschwellender Strang in der innenpolitischen Auseinandersetzung. Asyl auf Zeit (3 Jahre) und Erschwerung des Familiennachzugs wurde beschlossen. Und nunmehr sind wir damit konfrontiert, dass schon lange geplante Einschnitte in den Sozialstaat, wie Kürzungen bei der Mindestsicherung, unter dem Label Flüchtlingsabwehr firmieren. Eine Obergrenze von 37.500 Hilfesuchenden, die aufgenommen werden, wurde verkündet.

 

Das Abschieben der Verantwortung

In diesen Monaten gab es einen mantraartig verkündeten Stehsatz, der beinahe alle politischen Kräfte verband: "Nur auf europäischer Ebene kann das Flüchtlingsproblem gelöst werden!" Effektive Überwachung der EU-Außengrenze, Errichtung von Hotspots zur Registrierung der Flüchtlinge, Aufteilung der Menschen auf die EU-Mitgliedsstaaten nach einem Schlüssel, Machterweiterung von Frontex. Der Zynismus der Ereignisse gipfelt in dem Momentum, dass jetzt, wo die sogenannte Balkanroute dicht ist, die europäische Lösung umgesetzt wird. Natürlich kann Österreich das Problem der großen Migrationsströme nicht lösen. Das kann aber auch nicht die EU. Im Gegenteil, sie ist wesentlich für sie mitverantwortlich. Es ginge darum, Humanität in einer Krisensituation zu verteidigen. Mit der europäischen Lösung haben wir die Verantwortung dafür abgegeben.

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