Das historische Gedächtnis der Ostermärsche

Von Bertha zu Clara –Gewaltfreiheit als Generationenprojekt

von Renate WanieHelga TempelKonrad Tempel

 Helga Tempel und Konrad Tempel gehören zu der Generation, die bereits in den 1950er Jahren auf die Straße ging, um für Frieden zu demonstrieren. Damals richtete sich der Protest gegen die Atombewaffnung der Bundesrepublik. Nachdem beide 1957 in Trainings „für vernünftiges Verhalten in Konfliktsituationen“ (in gewaltfreier Aktion) mit jungen Kriegsdienstverweigerern Erfahrungen gesammelt hatten, begannen sie 1958 die erste deutsche „Mahnwache“ vor dem Hamburger Rathaus. Der Begriff entstand im Aktionskreis für Gewaltlosigkeit. Konrad Tempel war 1960 Initiator der ersten sternförmigen Ostermärsche und wurde Sprecher der Ostermarschbewegung in Deutschland. Helga hat im selben Jahr gemeinsam mit Andreas Buro die Weltfriedensbrigade mitbegründet und den internationalen Marsch San Franzisko - Moskau organisiert. 2002 waren beide bei der Gründungsversammlung der Nonviolent Peaceforce in Indien.

 

Renate Wanie (RW): In den 50er und 60er Jahren waren Demonstrationen auf der Straße ungewöhnlich und erregten misstrauisches Aufsehen. Ich erinnere mich in meiner Kindheit an einen Besuch bei Verwandten in Frankfurt/M, wo ich mit Staunen und einem gewissen Befremden Ostermarschierer*innen mit Plakaten auf der Straße laufen sah. Was war damals der Anlass für Euer Engagement und die Vorbereitung von Demonstrationen?

Konrad Tempel (KT): Wir waren durch die Beschäftigung mit gewaltfreien Aktionen in anderen Ländern zu der Überzeugung gekommen, dass das NEIN zur Abschreckungspolitik sich nicht auf einmalige „Aufschrei“-Aktivitäten beschränken dürfte - deshalb die 14-tägige Mahnwache, deshalb das Aufgreifen der Idee mehrtägiger Demonstrationen wie der Ostermärsche.

Helga Tempel (HT): 1958 und 1960 war der Anlass die zunehmende Militarisierung bis hin zur Lagerung einsatzbereiter Atomraketen in Deutschland. Nach dem Beispiel der Aldermaston-Märsche in Großbritannien wollten wir den Protest auf die Straße tragen. Durch bestehende Kontakte zu pazifistischen und anderen oppositionellen Gruppen und Organisationen fanden wir recht breite Unterstützung. Ein kleiner Arbeitskreis rief 1960 zum ersten Ostermarsch auf; später bildete sich dann ein bundesweites Aktionskomitee. Die Teilnehmer*innen gehörten vorwiegend zur jüngeren Generation.

RW: In den letzten Jahren gab es kontroverse und auch heftige Debatten in den verschiedenen Bewegungen über Gewaltfreiheit als unbedingte Grundlage bei politischen Aktionen. War Gewaltfreiheit in den Anfängen des Ostermarsches ein Thema?

HT: Die Ostermärsche selbst sollten und sind strikt gewaltfrei verlaufen – alles andere hätte unserer Glaubwürdigkeit geschadet. Dennoch wurde von Teilnehmer*innen keine Selbstverpflichtung zur Gewaltfreiheit verlangt - die Gruppen aus der Arbeiterbewegung hätten dem auch kaum zugestimmt. Kontroversen bezogen sich aber eher auf die Art der Präsentation in der Öffentlichkeit, weniger auf Grundsatzfragen. Für uns als Quäker*innen ebenso wie für religiöse Pazifist*innen, z.B. aus dem Versöhnungsbund, war jedoch eine Absage an jegliche Form der Gewalt selbstverständlich, und wir beriefen uns dabei auf die Botschaft und Haltung Jesu sowie Mahatma Gandhi oder Theoretiker*innen der Gewaltfreiheit wie beispielsweise Gene Sharp.

RW: Heute bemühen wir uns, junge Menschen für die Friedensbewegung zu gewinnen. Die meisten Aktiven in der Friedensbewegung sind zwischen 50 und 80 Jahre. Kennt Ihr, die Ihr in den letzten 40 Jahren auch mit Jüngeren zusammengearbeitet habt, Gründe für die scheinbare Zurückhaltung von Jüngeren?

HT: Ich glaube, junge Menschen lassen sich eher von positiven Visionen leiten und bringen sich bevorzugt dort ein, wo neue Wege und Formen der Problemlösung angeboten werden. Dies haben wir jedenfalls im Rahmen unserer Arbeit für den Zivilen Friedensdienst so erfahren, dies entspricht u.E. auch den Ansätzen der Entwicklungsdienste und der Dritte Welt-Läden. Hier hoffen sie, die Welt noch positiv verändern zu können. Daneben gibt es aber auch breite Proteste gegen die Atomkraft, gegen Lagerstätten von Atomsprengköpfen oder in Hinsicht auf Umweltgefahren etwas durch Braunkohleförderung oder Gen-Manipulationen. Hier vereinen sich Jung und Alt zu aktivem Widerstand bis hin zu zivilem Ungehorsam. Unsere Enkelin Clara ist hier mit einer ganzen Gruppe von jungen Menschen aktiv beteiligt.

KT: Aus meiner Sicht hat sich ein Wandel vollzogen: Die Strukturen und Aktionsformen, die sich von 1960 an entwickelten, über Jahrzehnte hin als brauchbar akzeptiert waren und zu manchen Veränderungen beitrugen, haben ihre Attraktivität und ihre aktuelle Bedeutung verloren. Für mich sieht es so aus, als ob junge Menschen heute nicht mehr so starke und einander ähnliche Bedrohungsgefühle erleben wie wir damals. Sie agieren aufgrund der immens gewachsenen Sensibilität für vielfältige Detail-Bedrohungen weniger kollektiv als wir, ganz individuell und damit weitgehend unsichtbar, aber vielleicht auch nicht so kontinuierlich, wie es uns damals nötig schien.  

RW: Was ist heute anders als vor 50 Jahren? Was hat sich im Vergleich zu damals geändert, was ist neu, z.B. bei der Zusammenarbeit der Generationen oder bei den Aktionsformen?

HT: Neu ist eindeutig ein erweiterter und gegenüber damals realitätsgerechterer Friedensbegriff unter Einschluss von Fragen der Gerechtigkeit und Menschenwürde, der demokratischen Teilhabe und ökologischer Fragen. Ein weites Feld – mit Recht. Die Kriegsgefahr als eher abstrakte Gefährdung tritt hinter real sichtbaren Problemen wie Klimawandel, undemokratischen Abkommen wie CETA und den Genmanipulationen zurück. Und auch die Endlagerfrage liegt unserer Generation näher als der NATO-Aufmarsch im Osten Europas. Wenn wir all diese Bemühungen um eine weniger gefährdete Welt zusammen betrachten, gibt es kaum Grund, mangelndes Engagement der Jüngeren zu beklagen.

Wo es um bedrohliche Entwicklungen wie Intransparenz, Menschenrechte, Waffenhandel etc., aber auch um die Aktivierung größerer Bevölkerungsteile geht, spielen die Protestportale im Internet wie CAMPACT oder ATTAC oder auch Seiten wie ausgestrahlt.de heute die entscheidende Rolle. Dies ist ein bedeutsames Novum, das aus Sicht der Einzelnen,  wenn auch wohl nicht politisch, den aktiven Protest auf der Straße teilweise zu ersetzen scheint.

RW: Möchtet Ihr den sozialen Bewegungen auf dem Hintergrund Eurer jahrzehntelangen Erfahrungen möglicherweise Anregungen auf den Weg geben? Wie könnte ein Wissenstransfer passieren?

HT: Die von vielen von uns als bedrohlich eingeschätzten Anzeichen eines erneuten Kalten Krieges sind nicht so eindeutig wie damals die Atomraketen auf beiden Seiten des geteilten Deutschlands. Waffenlieferungen und Truppentransporte geschehen eher verborgen vor der Öffentlichkeit.

Können wir erwarten, dass junge Menschen heute den Einsichten der „alten“ Friedensbewegung nach dem Motto „Ohne Frieden ist alles nichts“ folgen? Oder müssen wir sie nicht in ihrem selbstgewählten Engagement und ihrer Wachsamkeit gegenüber gefährlichen Entwicklungen unterstützen in der Hoffnung, ja, Gewissheit, dass auf  dieser Grundlage im Ernstfall auch wieder ein breiter öffentlicher Protest gegen Kriegsvorbereitungen entstehen würde?

KT: Als ich jung war, ist mir nicht bewusst gewesen, wie viel ich aus den Gesprächen mit Älteren hätte mitnehmen können.

Heute weiß ich, dass niemand beim Null-Punkt anzufangen braucht und dass viel Zeit verloren gegangen ist, weil ich nicht hinreichend nachgefragt habe und nicht ernst genug genommen habe, dass wir alle auf den Schultern von anderen stehen. Ich wünschte, mir wäre früher aufgegangen, dass es überhaupt nicht darauf ankommt, ob ich die Anliegen der Vorangegangenen im Einzelnen teile, nicht darauf , „dass ein Mensch wandelt und handelt wie ich, sondern dass ich in ihm denselben Geist und dasselbe Leben fühle“.

Täusche ich mich oder stimmt mein Eindruck, dass in den letzten Jahren „unsere“ herausragenden Akteure nur geringen Wert auf das „historische Gedächtnis“ der sozialen Bewegungen und ihrer unterschiedlichen Organisationsformen gelegt haben? Es hat lange gedauert, bis man sich erinnert hat, dass wir in einer Kette mit z.B. mit Bertha von Suttner und Bart de Ligt stehen. Ich bin sicher, eines Tages wird intensiver als heute gefragt werden, welche Erfahrungen etwa von Danilo Dolci, Nikolaus Koch, Andreas Buro, Hanne und Klaus Vack, Jochen Stay oder Dorothee Sölle bedenkenswert oder nützlich sein könnten. Geschichte vollzieht sich in Wellenbewegungen, das entsprechende Bedürfnis kommt bestimmt irgendwann wieder.    

 

Das Interview wurde – mit anderem Titel - für den BSV-Rundbrief 1/2017 geführt.

Nachtrag: Heute, im Jahr 2020, sehen Helga und Konrad Tempel die junge Generation mit anderen Augen als im Interview 2017, sie sind „überglücklich“ über die Aktivitäten der jungen Bewegung „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“. Die Enkeltochter Clara ist mit Aktionen zivilen Ungehorsams aktiv. 

 

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Konrad Tempel war Initiator der deutschen Ostermärsche "gegen Atomwaffen jeder Art und jeder Nation" 1960, beteiligt an der Gründung der Bildungs- und Begegnungsstätte / Kurve Wustrow, des Bunds für Soziale Verteidigung, des forum Ziviler Friedensdienst und der Non-violent Peaceforce und dort jeweils langjährig verantwortlich engagiert, Quäker.