Die Nato lebt weiter als Instrument der gegenseitigen Einbindung und Kontrolle ihrer auseinanderstrebenden Mitglieder

Von der flexiblen Antwort zur flexiblen Interpretation

von Andreas Zumach

Die NATO ist tot, es lebe die NATO! Auf diese Kurzformel läßt sich der Verlauf der bisherigen Debatte bringen, die mit dem Gipfel in Rom Anfang November ihr (vorläufiges) Ende fand. Der Dinosaurier wird noch eine Weile weiterexistieren. Mehr denn je zuvor allerdings nicht wegen gemeinsamer Interessen der 16 Mitglieder, sondern als Instrument zur gegenseitigen Einbindung und Kontrolle angesichts wachsender Widersprüche und Gegensätze.

Der politischen Führung in den USA scheint eine - auch nach der Reduzierung ihrer militärischen Präsenz in Westeuropa - weiterhin von Washington dominierte NATO (noch) das beste Instrument zur Einfluss Sicherung auf dem alten Kontinent. Solange die USA die Option globaler militärischer Interventionen nicht aufgeben, brauchen sie Westeuropa als vorgeschobene logistische Basis. Die innenpolitischen Kräfte, die eher auf die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit der USA gegenüber Japan und Westeu­ropa setzen, erlitten einen erheblichen Rückschlag durch den Golfkrieg und formieren sich erst langsam wieder neu.

Trotz aller verstärkten Diskussion über eine eigenständige (west)europäische Sicherheits- und Militärpolitik denkt auch niemand unter den zwölf EG- bzw. den neun WEU-Staaten derzeit ernsthaft an eine Auflösung der transatlantischen Militärallianz. Selbst die Atomwaffen­macht Frankreich will lediglich das Ge­wicht der USA im Bündnis reduzieren und damit die eigene Rolle stärken. Die Regierung Kohl/Genscher hat diese be­grenzten Widersprüche zwischen Washington und Paris in den letzten drei Jahren nicht ungeschickt genutzt, indem sie mal die eine und mal die andere Karte spielte. Ein Spagat, der allerdings an Grenzen stößt, wie die Reaktionen aus Washington und aus London auf die deutsch-französische Initiative für ein gemeinsames Armeekorps zeigen. Lon­don ist derzeit um die Wiederherstellung der im letzten Jahr an die Deutschen verlorenen "special relationship" mit Washington bemüht. Jede dieser drei westeuropäischen Hauptmächte braucht die USA und damit die Struktur NATO zur Einbindung und Kontrolle der bei­den anderen. Die vierte Hauptmacht, Italien, hat keine entwickelten sicher­heitspolitischen Vorstellungen. Mehr aus Opportunismus schlägt sie sich im innerwesteuropäischen Gerangel mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Zaghafte Ansätze Roms für eine eigen­ständige Sicherheits- und Kooperations­politik im Mittelmeerraum (zusammen mit Spanien, Portugal sowie Malta und den nordafrikanischen Anrainerstaaten) wurden im Sommer dieses Jahres auf Einspruch Washingtons hin denn auch sofort aufgegeben. Für die kleinen Mit­gliedsstaaten, sofern sie sich überhaupt an der Debatte beteiligen, gilt die NATO und eine starke Präsenz der USA als beste Kontrolle gegen ein wieder erstarktes Deutschland. Am deutlichsten formulieren dies niederländische Politi­ker.

So garantieren die internen Gegensätze zwar vorläufig die Weiterexistenz der NATO, lassen zugleich aber nicht die Formulierung einer neuen gemeinsamen Strategie zu. Im Kern bleibt alles beim Alten, wie die Gipfeldokumente von Rom zeigen. Nach dem Motto "Von der flexiblen Antwort zur flexiblen Inter­pretation" werden die Widersprüche durch immer allgemeinere Formalkom­promisse zugedeckt. Eine neue "Strategie" der NATO, die das im bishe­rigen NATO-Dokument MC 14/3 nie­dergelegte "flexible response" ersetzt, wurde in Rom - entgegen der Darstel­lung in der FAZ und anderen bundes­deutschen Medien - eben nicht be­schlossen. Die Verabschiedung eines entsprechenden Dokuments, das die künftigen militärischen Optionen und Operationsplanungen, die Streitkräfte- und Kommandostrukturen en detail be­schreibt, wurde auf die Sitzung der NATO-Verteidigungsminister am 12./13. November in Brüssel verscho­ben. Ob die Formulierung bis dahin ge­lingt, ist noch offen. Sicher ist bisher le­diglich, daß dieses Dokument entgegen früherer Ankündigungen nun doch ge­heim bleiben soll.

Allerdings sollte das Fehlen einer be­reits ausformulierten und veröffentlich­ten neuen NATO-Strategie nicht dar­über hinwegtäuschen, daß die Instru­mente für militärische Interventionen außerhalb des bislang definierten NATO-Vertragsgebietes bereits ge­schaffen und systematisch verbessert werden. Entscheidende Schritte auf die­sem Weg sind die laufende Veränderung der Streitkräftestrukturen hin zu immer größerer Mobilität, Logistik, Bewaff­nung sowie der Beschluss der NATO-Verteidigungsminister vom Mai dieses Jahres zur Aufstellung multinationaler schneller Eingreiftruppen.

Mit ihrem Verharren in alten Strukturen und Denkweisen verspielen die westli­chen Staaten die historische Chance, die sich nach den Umwälzungen in Osteu­ropa ergeben hatte. Zwar fühlten sich die 16 Staats- und Regierungschefs beim Gipfel in Rom zu einem "Kooperations"angebot an die ehemali­gen Feindstaaten genötigt. Am 20. De­zember soll es zu einem Treffen zwi­schen den Außenministern der NATO-Staaten mit denen der ehemaligen Mit­gliedsländer der Warschauer Vertrags­organisation sowie der neuen drei balti­schen Staaten kommen. Auf Basis höhe­rer Beamten sollen diese Kontakte künftig regelmäßig stattfinden.

Doch dies sind Brotsamen, die weit, weit hinter dem zurück sind, was notwendig wäre politisch und finanziell und zudem eine falsche Richtung anzeigen. Nicht den sicherheits- und militärpolitischen "Sachverstand" der NATO brauchen die osteuropäischen Staaten, sondern mas­sive ökonomische Unterstützung, um selber auf die Füße zu kommen und sich ein Stück unabhängiger vom Westen zu machen.

Doch dazu ist die Bereitschaft in den NATO-Staaten nicht vorhanden. 550 Milliarden US-Dollar geben die NATO-Staaten und ihre politischen Verbünde­ten im Nahen Osten in diesem Jahr für Militärisches aus. Die Haushaltsplanun­gen für die nächsten Jahre laufen auf ähnliche Summen hinaus. Solange diese Gelder gebunden sind, sind die NATO-Staaten überhaupt kaum in der Lage, die notwendige Unterstützung zur Über­windung der ökonomischen und sozia­len Krisen in Osteuropa zu leisten. Kri­sen, die im neuen "Strategiekonzept" der Allianz wiederum als "Risiken" zur Rechtfertigung der Aufrechterhaltung des militärischen Apparates dienen.

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