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Die Nato lebt weiter als Instrument der gegenseitigen Einbindung und Kontrolle ihrer auseinanderstrebenden Mitglieder
Von der flexiblen Antwort zur flexiblen Interpretation
vonDie NATO ist tot, es lebe die NATO! Auf diese Kurzformel läßt sich der Verlauf der bisherigen Debatte bringen, die mit dem Gipfel in Rom Anfang November ihr (vorläufiges) Ende fand. Der Dinosaurier wird noch eine Weile weiterexistieren. Mehr denn je zuvor allerdings nicht wegen gemeinsamer Interessen der 16 Mitglieder, sondern als Instrument zur gegenseitigen Einbindung und Kontrolle angesichts wachsender Widersprüche und Gegensätze.
Der politischen Führung in den USA scheint eine - auch nach der Reduzierung ihrer militärischen Präsenz in Westeuropa - weiterhin von Washington dominierte NATO (noch) das beste Instrument zur Einfluss Sicherung auf dem alten Kontinent. Solange die USA die Option globaler militärischer Interventionen nicht aufgeben, brauchen sie Westeuropa als vorgeschobene logistische Basis. Die innenpolitischen Kräfte, die eher auf die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit der USA gegenüber Japan und Westeuropa setzen, erlitten einen erheblichen Rückschlag durch den Golfkrieg und formieren sich erst langsam wieder neu.
Trotz aller verstärkten Diskussion über eine eigenständige (west)europäische Sicherheits- und Militärpolitik denkt auch niemand unter den zwölf EG- bzw. den neun WEU-Staaten derzeit ernsthaft an eine Auflösung der transatlantischen Militärallianz. Selbst die Atomwaffenmacht Frankreich will lediglich das Gewicht der USA im Bündnis reduzieren und damit die eigene Rolle stärken. Die Regierung Kohl/Genscher hat diese begrenzten Widersprüche zwischen Washington und Paris in den letzten drei Jahren nicht ungeschickt genutzt, indem sie mal die eine und mal die andere Karte spielte. Ein Spagat, der allerdings an Grenzen stößt, wie die Reaktionen aus Washington und aus London auf die deutsch-französische Initiative für ein gemeinsames Armeekorps zeigen. London ist derzeit um die Wiederherstellung der im letzten Jahr an die Deutschen verlorenen "special relationship" mit Washington bemüht. Jede dieser drei westeuropäischen Hauptmächte braucht die USA und damit die Struktur NATO zur Einbindung und Kontrolle der beiden anderen. Die vierte Hauptmacht, Italien, hat keine entwickelten sicherheitspolitischen Vorstellungen. Mehr aus Opportunismus schlägt sie sich im innerwesteuropäischen Gerangel mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Zaghafte Ansätze Roms für eine eigenständige Sicherheits- und Kooperationspolitik im Mittelmeerraum (zusammen mit Spanien, Portugal sowie Malta und den nordafrikanischen Anrainerstaaten) wurden im Sommer dieses Jahres auf Einspruch Washingtons hin denn auch sofort aufgegeben. Für die kleinen Mitgliedsstaaten, sofern sie sich überhaupt an der Debatte beteiligen, gilt die NATO und eine starke Präsenz der USA als beste Kontrolle gegen ein wieder erstarktes Deutschland. Am deutlichsten formulieren dies niederländische Politiker.
So garantieren die internen Gegensätze zwar vorläufig die Weiterexistenz der NATO, lassen zugleich aber nicht die Formulierung einer neuen gemeinsamen Strategie zu. Im Kern bleibt alles beim Alten, wie die Gipfeldokumente von Rom zeigen. Nach dem Motto "Von der flexiblen Antwort zur flexiblen Interpretation" werden die Widersprüche durch immer allgemeinere Formalkompromisse zugedeckt. Eine neue "Strategie" der NATO, die das im bisherigen NATO-Dokument MC 14/3 niedergelegte "flexible response" ersetzt, wurde in Rom - entgegen der Darstellung in der FAZ und anderen bundesdeutschen Medien - eben nicht beschlossen. Die Verabschiedung eines entsprechenden Dokuments, das die künftigen militärischen Optionen und Operationsplanungen, die Streitkräfte- und Kommandostrukturen en detail beschreibt, wurde auf die Sitzung der NATO-Verteidigungsminister am 12./13. November in Brüssel verschoben. Ob die Formulierung bis dahin gelingt, ist noch offen. Sicher ist bisher lediglich, daß dieses Dokument entgegen früherer Ankündigungen nun doch geheim bleiben soll.
Allerdings sollte das Fehlen einer bereits ausformulierten und veröffentlichten neuen NATO-Strategie nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Instrumente für militärische Interventionen außerhalb des bislang definierten NATO-Vertragsgebietes bereits geschaffen und systematisch verbessert werden. Entscheidende Schritte auf diesem Weg sind die laufende Veränderung der Streitkräftestrukturen hin zu immer größerer Mobilität, Logistik, Bewaffnung sowie der Beschluss der NATO-Verteidigungsminister vom Mai dieses Jahres zur Aufstellung multinationaler schneller Eingreiftruppen.
Mit ihrem Verharren in alten Strukturen und Denkweisen verspielen die westlichen Staaten die historische Chance, die sich nach den Umwälzungen in Osteuropa ergeben hatte. Zwar fühlten sich die 16 Staats- und Regierungschefs beim Gipfel in Rom zu einem "Kooperations"angebot an die ehemaligen Feindstaaten genötigt. Am 20. Dezember soll es zu einem Treffen zwischen den Außenministern der NATO-Staaten mit denen der ehemaligen Mitgliedsländer der Warschauer Vertragsorganisation sowie der neuen drei baltischen Staaten kommen. Auf Basis höherer Beamten sollen diese Kontakte künftig regelmäßig stattfinden.
Doch dies sind Brotsamen, die weit, weit hinter dem zurück sind, was notwendig wäre politisch und finanziell und zudem eine falsche Richtung anzeigen. Nicht den sicherheits- und militärpolitischen "Sachverstand" der NATO brauchen die osteuropäischen Staaten, sondern massive ökonomische Unterstützung, um selber auf die Füße zu kommen und sich ein Stück unabhängiger vom Westen zu machen.
Doch dazu ist die Bereitschaft in den NATO-Staaten nicht vorhanden. 550 Milliarden US-Dollar geben die NATO-Staaten und ihre politischen Verbündeten im Nahen Osten in diesem Jahr für Militärisches aus. Die Haushaltsplanungen für die nächsten Jahre laufen auf ähnliche Summen hinaus. Solange diese Gelder gebunden sind, sind die NATO-Staaten überhaupt kaum in der Lage, die notwendige Unterstützung zur Überwindung der ökonomischen und sozialen Krisen in Osteuropa zu leisten. Krisen, die im neuen "Strategiekonzept" der Allianz wiederum als "Risiken" zur Rechtfertigung der Aufrechterhaltung des militärischen Apparates dienen.