Militärdienstverweigerung in Polen:

Von der staatlichen Repression über die formale Legalisierung zum Galeeren-Dienst des 20. Jahrhunderts

von Kalle Seng
Schwerpunkt
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Im Fahrtwind von fundamentalen gesellschaftlichen Umbrüchen und Wandlungsprozessen in Ländern Zentral- und Ost-Europas erblickt das bislang in den Gefängnissen ausgeübte Menschenrecht der Militär­dienstverweigerung erstmalig das Licht staatlicher Legalisierung.

Oder es folgen - wie sich in Teilen der Ex-Sowjetunion zeigt - Initiativen zur Wieder-Neu-Herstellung dieses Rechtes. Anknüpfend an Gesetze aus zaristischer Zeit, einem relativ fortschrittlichen Le­nin-Dekret von 1919, einer totalitären Handhabung und gesetzlichen Liquidie­rung Mitte der dreißiger Jahre, beschäf­tigt sich ein Parlaments-Ausschuss der Russischen Föderation mit der Erarbei­tung einer Gesetzesvorlage zur Militär­dienstverweigerung seit Herbst 1991.

In den vergangenen Jahren wurden Le­galisierungen vorgenommen von den Regierungen in: Polen (01.09.1988), Ungarn (30.07.1989), der DDR (20.02.1990 - 02.10.1990), Tschechi­sche und Slowakische Republik (Gesetz Nr. 73 vom 14.03.1990), Lettland (01.03.1990), Estland (1990), Slowe­nien, Kroatien (Verfassungsrecht), Moldavien (10.07.1991), Belo-Russland (1992).

In Ländern wie Bulgarien, Rumänien, Albanien, Serbien, Mazedonien oder der GUS wie Ukraine, Kasachstan ist der Zeitpunkt einer Legalisierung derzeit nicht absehbar.

1988 hat die kommunistische Regierung in Polen dem jahrelangen, ständig wach­senden öffentlichen Druck von seiten der Basis- und Bürgerrechtsbewegungen für eine Legalisierung der Militärdienst­verweigerung nachgegeben - formal. In­haltlich hingegen sind die konkreten Forderungen der Basisbewegungen für die Schaffung menschenwürdiger ge­setzlicher Regelungen von der Regie­rung ignoriert worden. Die bisherige Praxis staatlicher Repression wechselte von den Mitteln der Verfolgung und In­haftierung hin zur Installierung eines Gesetzes, dessen Ausgestaltung mit re­pressiven Inhalten die destruktive politi­sche Grundhaltung der Regierung wi­derspiegelt. Mit der parlamentarischen Gesetzesverabschiedung vom 13. Juli 1988 mit Wirkungskraft zum 1. Sep­tember 1988 begann für Verweigerer der Paragraphen-Dschungel.

Mit dem Stempel "Der Macht von oben" ...

stand 1988 eine Militärdienstdauer von 24 Monaten einem Ersatzdienst von 36 Monaten gegenüber. Im Oktober 1990 wurden die Dienstpflichtzeiten auf 18 bzw. 27 Monate reduziert. Im Januar 1991 erfolgte eine weitere Sen­kung auf 12 Monate und 18 Monate Militärer­satzdienst.

Für Hochschulabsolventen wurde ge­genüber allen anderen Wehrpflichtigen von der Regierung ein Sonderrecht ge­schaffen bezüglich der jeweiligen Dienstdauer. Mit dem Einführungsge­setz von 1988 brauchten sie lediglich 12 Monate Militärdienst zu leisten, im Falle der Verweigerung allerdings einen 24monatigen Ersatzdienst. Mittlerweile erfolgte eine Kürzung auf 6 Monate bzw. 9 Monate für Verweigerer. Ein Regierungsbeschluss besagt ferner, daß Hochschulabsolventen des Jahres 1992 zu keinerlei Dienstleistungen herange­zogen werden. Für 1993 kann eine Fort­setzung dieser Regierungspolitik er­wartet werden.

Für das Anerkennungsverfahren ist eine detaillierte schriftliche Begründung er­forderlich und findet eine Fortführung als mündliche Gewissensausforschung. Unter einem militärischen Kommissi­ons-Vorsitzenden werden mehrköpfig die Urteile gefällt. In Wroclaw wurden 1992 soweit ca. sieben Antragsteller an­schließend zum Militärdienst einberu­fen. Es folgten Anklagen wegen "Fahnenflucht". In den bislang 1992 stattgefundenen Militär-Strafverfahren wurden Gefängnisstrafen zur Bewäh­rung ausgesprochen, mit Neu-Einberu­fungen muß allerdings gerechnet wer­den. Angeordnete Nach-Musterungen mit  dem Ziel der Ausmusterung gehö­ren ebenso zum Urteils-Repertoire der Militärstrafrichter. Gegenwärtig schei­nen die militärischen Verantwortlichen sich mit dieser Form des Repressions-Spiels zu begnügen, um nicht durch die Verhängung von Haftstrafen öffentli­chen Druck auf sich zu ziehen. Zudem drückt die ökonomische Krisensituation in Polen auch das Militär gegenwärtig noch zu Einschränkungen. Während im letzten Jahr der militärische Personalbe­stand etwas über 300.000 betrug, beläuft er sich 1992 auf ca. 220.000. In Krakau sind bislang abgelehnte Anträge nicht bekannt. Teilweise wird der Antrag­stellung eine Bestätigung beigefügt über aktive Mitgliedschaft in einer lokalen Friedensgruppe. Durch diese Schreiben erkennt die Kommission ein Friedens­engagement des Antragstellers. Gleich­zeitig wird signalisiert, daß bei Antrags­ablehnung eine Aktivierung des Freun­deskreises zu erwarten ist und eine ge­wisse "Schutz-Funktion" vor Nicht-An­erkennung darstellt. Während in den Städten der Kontakt zu Beratungsstellen für Verweigerer sich findet, kann es ei­nem auf dem Lande passieren, daß die Existenz eines Verweige­rungsrechtes vom Militär geleugnet wird.

Als Tätigkeitsbereiche für Ersatzdienst­leistende sind vorgesehen: Umwelt­schutz, Gesundheitswesen in Kranken­häusern und der Altenpflege, in der Wasserwirtschaft, im Brandschutz, Wohnungsbau und Nachrichtenwesen sowie weiteren Gebieten von öffentli­chem Nutzen. Faktisch allerdings sind anerkannte Ersatzdienststellen mehr als rar. Die 1989 erhobene Forderung nach Einführung eines Auslandsdienstes für Ersatzdienstleistende blieb unerfüllt. Hingegen erfuhr ich dieses Jahr, daß derzeit zumindest zwei Verweigerer aus Deutschland die volle Auslands-Ersatz­dienstdauer in polnischen Projekten lei­sten. 1993 ist eine Erhöhung der Zahl deutscher Dienstleistender in Polen vor­gesehen.

Statistische Daten wie z.B. die Anzahl der Anträge auf Anerkennung, die An­erkennungs- und Ablehnungsquoten, die Anzahl der Ersatzdienstplätze usw. wer­den anscheinend von der Regierung als "geheim" eingestuft und der Öffentlich­keit vorenthalten.

Unverheiratete und kinderlose Kranken­schwestern müssen mit der Einberufung zum Militär für einen einmonatigen Ka­sernendienst im Sanitätsbereich rech­nen.

Seit einigen Jahren gibt es auch totale Dienstpflichtverweigerer. Im Oktober 1991 kam es in Warschau zu organi­sierten Wehrpass-Verbrennungen, an­sonsten hat die totale Verweigerung stark individuelle Züge ohne Gruppen- oder landesweite Zusammenhänge. Vergleichbar der Praxis in der ehemali­gen DDR seit 1985 verzichtet auch die heutige polnische Regierung auf die ge­setzlich vorgesehene Strafverfolgung, um durch "Nicht-Beachtung" dieser Verweigerungsform die öffentliche Wirkungsweise so gering wie möglich zu halten.

Einige Kontakte zum Thema Militär­dienstverweigerung:

-     Objector Association - Poznan, Büro: Uliza Prusa 3, Room 604, PL-61-??? Poznan, Tel: 0048-61-67 25 63, Fax: 52 79 18.

-     Objector Association - Wroclaw, Büro: Uliza Pilsudskiego 15/17, Room 15, PL-50-045 Wroclaw, Tel: 0048-71-55 72 12

-     Objector Association - Kalisz, Ale­xander Aleksandrzak, Uliza Poznanska 25/5, PL-62-800 Kalisz

-     Objector Association - Rzeszow, Przemek Nowak, 2 Sierpnia 5/34, PL-35-111 Rzeszow

-     WIP - Krakow (Ruchu olnosc i Po­koj/Bewegung Freiheit und Frieden), Büro: Uliza Kollataja 10/2, PL-31-502 Krakow, Tel: 0048-12-22 36 06

Spendenkonto: PKO I/O Krakow, Nr. 35510-163978-132

- WIP - Rzeszow, Jagiellonska 6, PL-35-??? Rzeszow

- WIP - Zakopane, Maciej Tuora, Cha­tudiuskiego 25, PL-34-500 Zakopane, Tel: 0048-165-46 65

- WIP/New formation, Büro: Uliza Piekna 43/9, PL-Warszawa

- Pacyfistyenych Informacja, Marcin Poletylo, Uliza Akermanska 7/13, PL-02-760 Warszawa, Tel: 0048-22-42 21 95

- Radio Objector, Radio "S", Piekary 14/16, PL-61-??? Poznan, Tel: 0048-61-52 79 19, Fax: 52 79 18

Auf Sendung: sonntags 21.00 bis 21.15 Uhr auf Mhz 72,92

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Kalle Seng ist Mitarbeiter im Projekt "Transnationale Friedensarbeit".