Von einer, die auszug, das Andere zu lernen

von Berthold Keunecke
Initiativen
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Nicht nur einfach um Zivilcourage geht es in diesem Artikel. Die Ge­schichte von Sine Violentia führt in die (Zeit-) Planungen für die Kam­pagne "Wege aus der Gewalt - 1000 Leute lernen gewaltfreies Handeln" ein - und wieder heraus zu der Einsicht, daß es gar nicht so schwer ist, sich und der Gesellschaft zu mehr Gewaltfreiheit zu verhelfen.

April 1995

Es sieht düster aus. Gewalt, Verbrechen, Hass. Sine Violentia ist eine Frau, die ihr "Ohr am Volke" hat. Und sie spürt, daß die Furcht umgeht. Schon in den Schu­len scheint der Teufel "Gewalt" losge­lassen zu sein. Die Zeitungen berichten, wie Menschen bedroht, verletzt, er­schlagen, verbrannt werden. Die CDU versucht, aus der Angst politisches Ka­pital zu schlagen. Da macht sich Sine Violentia auf, um das zu lernen, was ihr die Furcht nehmen könnte.

Mai 1995

Sine spricht mit Leuten aus Leipzig, die 1989 die Montagsdemonstrationen mit­gemacht haben. Sie hatten ihre Angst vor den gewaltbereiten Herrschern überwunden, und hatten gelernt, Druck zu machen ohne Angst zu verbreiten. Sie spricht mit Mitarbeitern aus der Ju­gendarbeit, die nach neuen  Perspekti­ven suchen, und mit Leuten, die sich 1983 der bundesdeutschen Friedensbe­wegung zugerechnet haben. Doch im­mer wieder erlebt sie eine gewisse Hilflosigkeit in Konflikten und Angst vor der Gewalt. Da gibt es viele kluge Analysen, wie stark doch die Strukturen der Gewalt schon sind, da wird lautstark Kritik geübt, daß die Politiker das alles noch fördern - aber bei der Frage nach dem anderen Weg werden Sines Ge­sprächspartner unsicher. Doch da soll es auch Leute geben, die gerade daran ar­beiten - und Sine hört ein paar Namen wie die Graswurzelwerkstatt, den Bund für Soziale Verteidigung und verschie­dene Bildungsstätten.

Juni 1995

Im Zug lernt Sine eine Frau mit Namen Orga Potestas kennen, die gerade von einem Seminar zurückkommt. Sie hat sich für eine Kampagne fortbilden las­sen, die sich zum Ziel gesetzt hat, Men­schen zur Gewaltfreiheit zu ermutigen. Der Bund für Soziale Verteidigung (Minden) hatte die Idee, in der ganzen Bundesrepublik Wochenendworkshops zu diesem Thema anzubieten. Dazu wurden verschiedene TrainerInnen ein­geladen, die schon lange solche "Trainings für Gewaltfreiheit" durchfüh­ren, und dann gab es dieses Seminar, in dem sich Orga gemeinsam mit anderen in Inhalte und Methoden für diese Workshops einarbeiten konnte. Nun er­zählt sie begeistert: Was sie in Übungen und Spielen über sich selbst erfahren hat, daß sie sich nun zutraut, in Gewalt­situationen angemessen zu reagieren, daß sie Möglichkeiten kennengelernt hat, etwas zur Veränderung der Gewalt­verhältnisse zu unternehmen ... Orga hatte schon Erfahrungen aus Friedens­arbeit und pädagogische Kenntnisse aus der Jugendarbeit sammeln können, und nun freut sie sich, in der Kampagne "Wege aus der Gewalt" als "Co-Traine­rin" gemeinsam mit einem Erfahreneren einige Workshops leiten zu können. Dort will sie nun ihre Erfahrungen wei­tergeben und bei dem Projekt "1000 Leute lernen gewaltfreies Handeln" mit­helfen.

Juli 1995

Sine hat sich vom Bund für Soziale Verteidigung Materialien schicken las­sen. Nun beschließt sie, als regionale Organisatorin die Trainingskampagne zu unterstützen. Sie erhält einen Reader, der ihr bei allen organisatorischen Auf­gaben hilft, der einen Überblick über die Inhalte der Workshops gibt und Vor­stellungen der TrainerInnen enthält. Nun macht sie sich an die Arbeit: Da gilt es, Räume für den Kurs zu finden, die Presse mit Informationen zu füttern, sich auch um Finanzen zu kümmern. Sine hat das noch nie gemacht, und doch schafft sie es gut.

August 1995

Der Kurs kann in Sines Heimatstadt stattfinden. Orga Potestas wird ihn ge­meinsam mit einem erfahrenen Trainer leiten. Sine hat alles soweit geklärt. Nun liest sie einiges aus der Literaturliste, die sie in dem Reader gefunden hat. Aber sie spürt: Das Lesen alleine hilft nicht viel. Gewaltfreiheit will geübt sein!

September 1995

Am 1. September, dem Antikriegstg, fängt der Kurs an. Er besteht aus zwei Wochenendworkshops, die jeweils von Freitag abend bis Samstag abend dau­ern. Unter den 15 Teinehmenden sind einige Bekannte von Sine, aber auch neue und interessante Leute sind dabei. Hier ziehen alle an einem Strang, und deshalb können sie sich auch aufeinan­der einlassen. Der erste Workshop the­matisiert das eigene Verhalten in Kon­flikten. Besonders die Kommunikati­onsübungen helfen Sine, weil sie merkt, wie leicht sie sonst mit Worten andere verletzt hat. Doch auch das Rollenspiel zu einer typischen Situation "P"beleien in der U-Bahn" hat ihr einiges über ihr eigenes Verhalten klargemacht.  Der zweite Workshop dreht sich um die Frage, wie denn gewaltfreie Verände­rungen in Gang gesetzt werden können. Auch diesmal gab es Gedanken und übungen, die für Sine ganz neue Ein­sichten bringen - wie z.B. die Konflik­tananlyse oder die Einübung in die Kon­sensfindung. Am Samstagabend will die Gruppe diesmal noch nicht auseinan­dergehen. Sie sitzen noch lange zusam­men und verabreden sich, weiter ge­meinsam was zu machen.

Oktober 1995

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Berthold Keunecke ist Gemeindepfarrer, arbeitet im Bund für Soziale Verteidigung und Versöhnungsbund mit und in der Organisation der "Gewaltfreien Aktion GÜZ abschaffen".