Nicaragua

Von Schwarz-Rot zur fehlenden Luft zum Atmen

von Camila Bravo
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

„Es herrscht die Normalisierung des Lebens in der Hölle“, schildert Paola. „Es regieren Willkür und Angst, sich frei versammeln und sprechen kann hier niemand. Nicaragua hat sich zu einem Polizeistaat der Premium-Kategorie gemausert.“ Die Polizei hat ihren zivilen und überparteilichen Charakter verloren und sich ein regimetreues, bewaffnetes Korps verwandelt. Wer zu desertieren wagt, dem droht Gefängnis. „Die vermummten Paramilitärs, so wie du sie kennst, benötigt der Staatsterror nicht mehr – auch wenn dieses fanatische, latente Netzwerk weiterhin existiert. ‚Allzeit bereit‘, dem Ruf des Diktators zu folgen.“ Aus Sicherheitsgründen telefonieren wir über eine gesonderte App, denn es besteht permanent Gefahr, abgehört zu werden.

Seit knapp zwei Monaten ist Regenzeit in Nicaragua und im Hintergrund hört man das Plätschern himmlischer Ergüsse. Als wir uns 2018 kennenlernten, sahen wir durch dichte Regenschleier einen „Árbol de la Vida“ taumeln. Das sind 20 Meter hohe, kunterbunte Metallstrukturen, welche die schier omnipotente Vizepräsidentin Rosario Murillo – oder „Co-Präsidentin“, wie sie ihr Göttergatte Daniel Ortega nennt – hauptstadtweit errichten ließ. Des Nachts erleuchten sie die Metropole des zweitärmsten Landes Lateinamerikas wie überdimensionale Partyleuchten. Im Rahmen der an einer umstrittenen Sozialreform entfachten Aufbegehren wurde das Fällen dieser Machtsymbole zum subversiven Akt. Nie vergesse ich, wie der tonnenschwere Lebensbaum den Grund beben ließ, die Euphorie der darauf tanzenden Menschenschar und den Gesang des „Pueblo unido“.

Paola war in der studentischen Protestbewegung organisiert. Zuletzt sah ich sie in einem Sicherheitshaus. Wir spekulierten, wann man wohl endlich zur Nachricht aufwachen würde, dass das autokratische Regent*innenpaar sich in einem flüchtigen Flieger nach Caracas befindet. Damals hegten wir – wie so viele – noch die Hoffnung, dass all die Repression und verrohte und verrohende Gewalt verzweifelte Prankenschläge der vom Volkswillen verwundeten und in die Enge getriebenen Bestie sein. Die vergangenen fünf Jahre haben uns eines Besseren belehrt. Während einer Studie des Meinungsforschungsunternehmens CID Gallup vom vergangenen Juni zufolge nur noch 16% der Nicaraguaner*innen mit der Regierungspartei sympathisieren, konsolidiert das Regime Ortega-Murillo beharrlich ein dynastisches und totalitäres System, das sich auf dem Rücken des Volkes und anhand einer systematischen Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte eisern an der Macht hält. Die Lebensbäume waren längst nicht die Statue des Despoten Anastasio Somoza García, mit dessen Sturz die 45 Jahre andauernde Familiendiktatur im Juli 1979 ihr Ende fand.

Rückblick
„Unser Volk ist Herr seiner Geschichte“, klingt es in der Parteihymne der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN). Sie wurde zum Soundtrack einer Revolution, die abertausende solidarisch gesinnte Internationalist*innen – davon sehr, sehr viele aus Deutschland – in das mittelamerikanische Land zwischen Karibik und Pazifik strömen ließ, um dort den Schöpfungswillen einer emanzipierten und selbstbestimmten Gesellschaft zu unterstützen. Sie verkörperte den vierten Kulminationspunkt linker revolutionärer Projekte Lateinamerikas (1910 Mexiko, 1952 Bolivien, 1959 Kuba) in einem 20. Jahrhundert, das dort weitgehend von externer Einflussnahme und Diktaturen überschattet wurde.

Längst lenkt lediglich Ortega die Geschichtsschreibung und Landesgeschicke. 27 Jahre ist der Altrevolutionär nun an der Macht. Dies kommt dem Medianalter Nicaraguas gleich und übertrifft alle Amtszeiten der Präsident*innen vor ihm. „Es lastet wie ein Fluch. Wir sind in einem ewigen Ping Pong-Spiel zwischen Revolution und Diktatur gefangen. Nie gab es genügend Raum, um eine wirklich demokratische Kultur zu etablieren“, konstatiert Paola. „Meine Generation wuchs mit dem Versprechen einer Demokratie heran, die wir nie erfuhren. Ortegas realpolitische Rechtsbewegung und sein autoritärer Stil haben sich nach seiner erneuten Machtübernahme 2007 sukzessive verfestigt. Das gewaltsame Ersticken der Aufstände vor fünf Jahren hat ihn zwar gänzlich demaskiert, war zugleich jedoch logische Konsequenz seines Habitus.“ Die Präsidentschaftswahlen von 2021, in deren Rahmen  Ortega sämtliche potenziellen Oppositionskandidat*innen inhaftierte, verwischten auch den letzten möglichen Blick auf eine revolutionssuchende Romantik. Laut dem mittlerweile 77-jährigen funktioniere Nicaraguas Demokratie auf „andere Weise“.

Zivilgesellschaft im Widerstand
Vergeblich sucht man unabhängige Parteien, eine Gewaltenteilung gibt es nicht. Als einziges Land Lateinamerikas verfügt Nicaragua über keine gedruckten Zeitungen, Bildungseinrichtungen unterliegen strikter Kontrolle und Nichtregierungsorganisationen sehen sich reihenweise gezwungen zu schließen. Selbst vor der mächtigen Unternehmerschaft – das monopolistische Kapital ist zumeist stiller Verbündeter und Nutznießer der Regierung – machen die Repressalien keinen Halt. Auch widersetzliche Kirchenvertreter erleiden im tief religiösen Nicaragua bittere Verfolgung. Die schwere sozioökonomische Krise hat seit 2018 einen Exodus von fast 600.000 Nicaraguaner*innen produziert. Allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres  haben  fast 130.000 Menschen Asyl in den USA, Costa Rica, Mexiko und Spanien beantragt. In Deutschland weilen über 500 Flüchtlinge aus Nicaragua. Knapp 293 der Asylverfahren sind entschieden, 249 davon wurden abgelehnt und befinden sich jetzt in Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht.

Das gezielte Erodieren tragender Sozialgefüge und demokratischer Räume, die Unmöglichkeit einer unabhängigen Zivilgesellschaft schüren Defätismus und untermauern den autoritären Staat. Aus Costa Rica, wo sich ein Großteil der nicaraguanischen Diaspora befindet, schlagen derweil Bemühungen wie die der „Gruppe Monteverde“ Wellen, die versuchen, oppositionelle Kräfte zu einen und Aktionsprozesse zu konkretisieren. „Die Opposition ist bis dato von persönlichen sowie ideologischen Differenzen und Misstrauen geprägt. Zudem mangelt es an Inklusivität, was eine faule Frucht unserer zutiefst segregierten Gesellschaft ist“, so Paola. „Die permanenten Namen der politischen Elite sind Zeuge davon. In Costa Rica findet sich mittlerweile eigentlich ein Querschnitt der Bevölkerung. Da sollte das Versammeln vielfältiger Stimmen möglich sein.“

Nebst solch prominenteren Initiativen soll hier auf weitere zivilgesellschaftlich organisierte Gruppen verwiesen werden, so zum Beispiel das Menschenrechtskollektiv Nicaragua Nunca Más oder die Kampagne Sé Humano, die sich für die politischen Gefangenen einsetzt. Das Psycholog*innen-Kollektiv Sanar Nicaragua bietet eine virtuelle, kostenfreie und sichere Krisenhilfe in Nicaragua und im Exil an. Der Verein Asociación de Madres de Abril (AMA) kämpft für ein kollektives Gedächtnis und gegen Straflosigkeit. Die Organisation Cenderos arbeitet mit Geflüchteten und Migrant*innen. In Deutschland sind mehrere Solidaritätsgruppen aktiv, ebenso das Informationsbüro Nicaragua und die Nicaragua-Hilfe Bonn.

Paola merkt an, dass „Lebenshaltungskosten steigen, während ohnehin niedrige Löhne stagnieren. Die zunehmende ökonomische Knappheit generiert Unruhe und Ungewissheit. Sie ist ein wichtiger Faktor des Bewusstseinswandels und wird ihre Rolle spielen, wenn die zwar bloß mit gesenkter Stimme geäußerte, jedoch allseits spürbare Nonkonformität sich erneut Luft verschafft.“ Indessen malt die kursgebende Vizepräsidentin ihr eigenes Panorama. In allmittäglichen, religiös-esoterischen Monologen beschwört diese den „siegreichen Juli“, zum 44. Jubiläum der Revolution. Als Leiterin des orwell’schen Rates für Kommunikation und Bürgerschaft berichtet sie von abertausenden Events im ganzen Land, „das in Dankbarkeit zum (Gott-)Vater lebt“. Sie schwärmt von Karnevalen und schmucken Karossen, Schönheitsköniginnen und bunter Mode. Es folgen wirre Aufzählungen allerlei Wohltaten ihrer Regierung. „Repression löst keine Probleme“, sagt Paola. „Leute aus den eigenen Reihen desertieren. Die jüngsten Inhaftierungen hochrangiger Beamter der Polizei und Justiz kreieren Antikörper, deuten auf eine Dekomposition des Regimes von innen hin.“ Schließlich, Murillos Abschiedsgruß: „Hier sind wir und feiern den Frieden. Die Freude, ruhig und in Sicherheit zu leben, arbeitend und prosperierend … eine Umarmung vom Comandante Daniel an alle nicaraguanischen Familien. Immer weiter hinaus, Gefährte. Begleiter im Licht, im Leben, in der Wahrheit. Der Friede ist unser Sieg."

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Krisen und Kriege
Die Autorin lebt zurzeit in Europa. Seit 2018 hat sie unter Pseudonymen und vorwiegend vor Ort über das Geschehen in Nicaragua berichtet.