Deutsche Kurdenpolitik: Unterstützung des Staatsterrors und geschlossene Grenzen

Vor der Küste Italiens: Flüchtlingselend "Made in Germany"

von Thomas Klein
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"Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen

Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,

Wenn hinten, weit in der Türkei,

Die Völker aufeinander schlagen.

Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus

Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;

Dann kehrt man abends froh nach Haus

Und segnet Fried und Friedenszeiten."

J.W. Goethe

"Wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen", wie das der berühmteste deutsche Dichter Goethe vor über 200 Jahren zu sagen pflegte, dann dürfte das heute für die Vertreter der deutschen Regierung kaum noch Anlaß sein, ungerührt den Schiffen auf dem Rhein hinterherzusehen. "Krieg und Kriegsgeschrei" in der Türkei haben mit Deutschland und vor allem mit der Bundesregierung mehr zu tun, als vielen Menschen hierzulande bewußt sein wird. Die nun in Italien strandenden kurdischen Flüchtlinge bringen augenblicklich noch dazu die Folgen des Krieges nach Europa `zurück`.

Nach den Zahlen der halbamtlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu wurden allein 1997 im Krieg zwischen der kurdischen Guerilla und türkischen Regierungstruppen fast 6.700 Menschen umgebracht: Schon nur diese offiziell zugegebene Zahl offenbart einen neuen, traurigen `Rekord` bei der Zahl der Toten, steht für eine Eskalation des Krieges im NATO-Land Türkei. Menschenrechtsorganisationen sprechen davon, daß über 2 Millionen Menschen aus den kurdischen Gebieten der Türkei auf der Flucht sind. Hinzu kommen kurdische Flüchtlinge aus dem Nord-Irak, die insbesondere in der Grenzregion in den letzten Monaten permanenter Angriffe der türkischen Armee ausgesetzt waren.

Die Flüchtlingsschiffe in der Adria sind Resultat der türkischen und auch der deutschen Regierungspolitik, denn es ist ein leicht zu belegender Fakt: Vertreibung und Krieg fanden in der Vergangeheit und finden augenblicklich maßgeblich mit deutscher Unterstützung statt. Das zeigt ein Blick in die Geschichte einer engen deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft und einer intensiven Zusammenarbeit auf allen Ebenen.

Waffenlieferungen ohne Ende

1963 gab die NATO-Spitze in einer Empfehlung an alle Mitglieder des Militärbündnisses die Empfehlung aus, die südlichen NATO-Länder Portugal, Griechenland und die Türkei auszurüsten. Die reichen Mitgliedsstaaten sollten mit überschüssigem Material aus ihren Armee-Beständen diesen Partnern Unterstützung gewähren. Bei der Umsetzung dieses Konzepts avancierte die Bundesrepublik zu einem bedeutenden Aktivposten innerhalb des westlichen Militärbündnisses. Ab 1964 versorgte sie in einer "gerechten Arbeitsverteilung" - so die offizielle Sprachregelung - die Türkei mit Finanz- und Militärhilfen. Für die Türkei wurde die Bundesrepublik nach den USA der wichtigste Waffenlieferant.

Die Türkei verfügte lange Zeit über keine eigenständige Rüstungsindustrie. Bis auf wenige, noch dazu kleine Firmen, gab es praktisch keine relevanten Waffenschmieden. In den siebziger Jahren kam es zu ersten Anfängen beim Aufbau einer türkischen Rüstungsindustrie: So wurde z.B. ein Teil der bundesdeutschen Militärhilfe dazu verwendet, um in Arifye und Kayserie Panzerinstandsetzungswerke zu bauen. Die bei der Ausstattung der Streitkräfte bestehende Abhängigkeit von den NATO-Verbündeten USA und BRD verminderte sich erst in den achtziger Jahren in relevantem Maß. 1985 gründete die Türkei die "Behörde zur Förderung der Rüstungsindustrie". Der erste aktive Betreiber auf diesem Gebiet war der staatliche "Verband der Maschinen- und Chemieindustrie" (MKEK). Dieser hatte im November 1985 in Kirikale, östlich von Ankara, eine Panzerrohrfabrik eröffnet. Koordiniert wurden die Arbeiten zur Fertigstellung des Werkes vom deutschen "Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung" in Koblenz. Das hatte schon in den Jahren zuvor die Rüstungskäufe des türkischen Verteidigungsministeriums erledigt. Deutsche Unternehmen waren in dieser Geburtsstunde der türkischen Rüstungsindustrie federführend. Nachdem die BRD mit Waffenverkäufen im Wert von rund 1,5 Milliarden Mark in den Jahren 1979 bis 1983 sogar zum wichtigsten Waffenlieferant der Türkei geworden war, die USA also genau in den Jahren nach dem blutigen Militär-Putsch 1980 auf Platz zwei verdrängt hatte, wußte die deutsche Industrie diesen Vorsprung bei ihren Bemühungen ins Geschäft zu kommen, zu nutzen. Keine Worte vermögen schöner die Rolle der deutschen Industrie zu würdigen, als die aus einer türkischen Ausgabe der Militärzeitschrift "Defense and Aerospace": "Wenn heute in der Türkei überhaupt von einer Rüstungsindustrie gesprochen werden kann, so hat sie das in allererster Linie der Bundesrepublik Deutschland zu verdanken. Firmen wie Fritz Werner, Heckler & Koch, Rheinmetall, MBB und Diehl sind unserem Verband der Maschinen und Chemieindustrie bestens bekannt."

Ebenfalls `bestens` bekannt dürfte den Menschen in Kurdistan die Ausbildug `Made in Germany` sein. Dazu steuerten deutsche Bundesgrenzschützer einiges bei. Während sich aus Sicht der türkischen Generäle in den achtziger Jahren die politische Lage in der Türkei insgesamt stabilisiert hatte - kurz und knapp: die Opposition wurde liquidiert, saß im Gefängnis oder war ins Exil gegangen - funktionierte diese Politik in den kurdischen Provinzen des Landes nicht: Mit Razzien und massiver Unterdrückung konnte das Erstarken der kurdischen Arbeiterpartei PKK nicht verhindert werden, sondern provozierte erst die militärische Eskalation in Kurdistan. Doch auch hier war die Bundesrepublik zur Stelle. 1985 hielt sich die Spitze der türkischen Polizei in der Bundesrepublik auf. Auf dem Programm stand u.a. ein Besuch beim BKA und bei der GSG-9. In dieser Zeit stellte die Türkei Spezialtruppen für den Einsatz in Kurdistan auf.

Im August 1986 gab es zu diesem Thema eine Anfrage der Grünen im Bundestag. Auf die Frage: "Trifft es zu, daß ein Teil der Ausbilder dieser Sondereinheiten, die in der türkischen Presse als "Schwarze Käfer" bezeichnet werden, auf ihre Ausbildungsaufgaben in der Bundesrepublik Deutschland vorbereitet worden sind bzw. immer noch werden?" gab es die vieldeutige Antwort: "Der Bundesregierung sind Berichte über Sondereinsatzkommandos "Schwarze Käfer" aus der überregionalen, seriösen Presse nicht bekannt geworden". Und auf die Frage: "Treffen Berichte zu, daß (...) Angehörige dieser Sondereinheiten u.a. von Spezialisten der Bundesgrenzschutzeinheit GSG-9 in der Bundesrepublik Deutschland ausgebildet wurden?" antwortete die Bundesregierung mit "Nein". Was die Bundesregierung im Bundestag dreist abstritt, brachte die türkische Tageszeitung "Tercüman" am 31.1.87 ausgerechnet auf der Titelseite. Unter der Schlagzeile: "Unsere Kommandos werden in Deutschland ausgebildet" dokumentierten Fotos und ein Interview mit dem GSG-9-Offizier Anselm Weygold, daß die Bundesregierung zuvor scheinbar nach dem Motto "Ist der Ruf erst ruiniert, lügt es sich ganz ungeniert" geantwortet hatte. In dem Tercüman-Artikel war u.a. folgendes zu lesen: "Während unseres langen Gesprächs mit Hauptmann Weygold erwähnte dieser die enge Zusammenarbeit mit der Türkei. Weygold erwähnte, daß im vergangenen Jahr hier zwei Kommandoeinheiten der Gendarmerie ausgebildet worden seien und fuhr fort: "Aus unserer Zusammenarbeit erzielen wir sehr gute Ergebnisse". Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit können u.a. in Berichten von amnesty international und des Menschenrechtsvereins IHD nachgelesen werden.

 NVA-Waffen für den Krieg in Kurdistan

Als ab 1991 die Türkei von der Bundesregierung den Großteil der Waffen aus ehemaligen DDR-Beständen der Nationalen Volksarmee (NVA) erhielt, wurde der NVA-Nachlaß kurze Zeit später im Kriegsgebiet eingesetzt. Doch trotz unzähliger Zeugenaussagen, Fotos, Filmbeiträgen, die belegen, daß ein vertragswidriger Einsatz dieser Waffen (gegen die kurdische Bevölkerung des Landes) stattfindet, blieb die Bundesregierung auch hier ihrer Linie treu: "In der Türkei findet kein Einsatz deutscher Waffen statt" (Klaus Kinkel). Dabei war gerade mit den massenhaft eingetroffenen NVA-Waffen die militärische Eskalation in den kurdischen Provinzen vorangetrieben worden. Auch vor dem Hintergrund, daß bei einzelnen Waffengattungen wie der Infanteriebewaffnung oder den militärischen Nutzfahrzeugen die türkischen Streitkräfte bis zum heutigen Tag vor allem mit deutschen Waffen ausgestattet sind, eine völlig lächerliche Behauptung. Die im April 1994 in Südkurdistan erschossene deutsche Journalistin Lissy Schmidt berichtete zu dieser Zeit: "Zeitgleich mit dem Eintreffen der abgelegten NVA-Waffen begannen die Vorbereitungen für eine von Regierung und Generalstab seit Monaten angekündigten Großoffensive des türkischen Heeres gegen die kurdische Guerilla und Bevölkerung: "Wir werden keinen von ihnen übriglassen, die sollen mal sehen, daß wir das, was Saddam gemacht hat, auch können." Solche markigen Sprüche, die sich zwar für den Ministerpräsidenten eines EG-Anwärterlandes gar nicht schicken, aber dennoch von Süleyman Demirel stammen, waren in der türkischen Presse in den vergangenen Monaten immer wieder zu lesen."

Mit der Überlassung der Ex-NVA-Armeeausrüstung hatte die Bundesregierung die Türkei mit deutscher Gründlichkeit in die Lage versetzt, voll und ganz auf die "militärische Lösung" zu setzten: Über 250.000 Kalaschnikow-Gewehre, 5.000 Panzerfäuste, 300 Infanterie-Panzer vom Typ BTR-60, mehrere Millionen Patronen für die BTR-60-Panzer, 800 LKW, 100.000 Panzerfäuste, 200 Bomben für Raketen usw.usf. - waren schon zuvor die Waffenlieferungen aus der Bundesrepublik nicht gerade kleine Posten, so sprengte diese Waffenlieferung alle bisherigen Dimensionen.

Alle bisherigen Dimensionen sprengten dann auch in der Zeit danach die Zahl der von türkischen Soldaten und Spezialkommandos vorgenommenen Dorfzerstörungen und Vertreibungen. In einer 1993 von verschiedenen Menschenrechts- und Hilfsorganisationen erstatteten Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe "gegen bundesdeutsche staatliche Stellen wegen Unterstützung des Völkermords der türkischen Regierung" wurden die Namen einiger der verbrannten Dörfer Kurdistans aufgezählt: Yukari Ölek, Giresor, Sebane, Akro, Cacase, Kele, alles Dörfer, die allein 1993 von der türkischen Armee ausgelöscht wurden. In der "Völkermordanzeige" hieß es dazu: "Behalten wir diese verlorenen Orte mit ihren uns unverständlich klingenden Namen gut im Gedächtnis. Sie sagen aus, warum sich millionenfach Flüchtlingselend von Osten nach Westen bewegt. Ihr bloßer verzweifelter Klang schreit Exodus und klagt diejenigen an, die Beihilfe zu ihrer Auslöschung leisteten".

Die Menschen aus dem Kriegsgebiet sollen jedoch, geht es nach dem Willen der deutschen Regierung und hier insbesondere von Innenminister Kanther, die Bundesrepublik nicht zu ihrem Zufluchtsort machen: Schließlich wollen die meisten Herren in Bonn nicht mit den Folgen ihrer Politik konfrontiert werden. In der aktuellen Debatte kommt es dabei zu grotesken Situationen: Nicht der deutsche Innenminister hat Grund sich bei der italienischen Regierung zu beschweren, (diese dürfe den kurdischen Flüchtlingen kein Asyl gewähren, bzw. müsse die Grenzen dicht machen), sondern die italienische Regierung hat ganz im Gegenteil Anlaß dazu, einige für die Bundesregierung äußerst peinliche Fragen zu stellen!

Als ein Jahr zuvor die Hilfsorganisation medico international mit einer ganzseitigen Anzeige in deutschen Tageszeitungen Bilder aus der kurdischen Stadt Sirnak abdruckte, auf denen die erwähnten achträdrigen NVA-Panzer in den Straßen der Stadt zu sehen waren, und in großen Lettern die Frage stellte: "Herr Rühe, Herr Kinkel, erkennen Sie die deutschen Panzer in der zertsörten kurdischen Stadt Sirnak?", ließ die Antwort nicht lange auf sich warten: Das zuständigen Außenministerium hatte `selbstverständlich` "keine Hinweise, daß in Sirnak deutsche Waffen eingesetzt wurden". Diese Standardaussage und die Forderung nach dichten Grenzen sind die Begleitmusik aus Bonn zum Krieg in Kurdistan und zur Vertreibung und zur Flucht der kurdischen Bevölkerung: Einer Flucht vor deutschen Waffen, die nun in Bonn zur Fortsetzung einer verlogenen, aber gut eingeübten Schmierenkomödie führt.

DIE ZERSTÖRUNG DER KURDISCHEN STADT LICE

Die 10.000 Einwohner zählende Stadt Lice wurde im Oktober 1993 vom türkischen Militär überfallen. Ca. fünf Tage lang war keinerlei Kommunikation mit den Einwohnern der Stadt möglich. Die Telefonleitungen waren gekappt und niemand konnte die Stadt verlassen. Nach Abzug des Militärs war die Stadt in Schutt und Asche gelegt.

Offiziellen türkischen Angaben zufolge waren PKK-Kämpfer in die Stadt gekommen und hatten sich dort verschanzt. Eine Version der Ereignisse, die keiner Überprüfung stand hielt. Ausnahmsweise gelang es den türkischen Stellen nicht, das Gebiet vor ungebetenem Besuch abzuschirmen. Einer Delegation aus der Bundesrepublik gelang es einer Woche nach den Ereignissen nach Lice zu fahren. Der Reisebericht der an der Delegation teilnehmenden bündnisgrünen Bundestagsabgeordneten Angelika Beer spricht eine deutliche Sprache: "250 Geschäfte sind der gezielten Brandstiftung und Zerstörung zum Opfer gefallen. Die Luft riecht nach Verkohltem. Die Brandherde müssen eine immens hohe Temperatur gehabt haben. Geschmolzener Teer zieht sich wie schwarzes Blut durch die Straßen. Menschen ziehen an uns vorbei. Mit Eseln, zu Fuß, das Letzte Hab und Gut auf den Rücken geschnürt. Lice, eine Stadt von 10.000 Menschen, heute eine Geisterstadt. Panzer fahren durch die Straßen; als müßten sie sich selbst immer wieder davon überzeugen, daß sie ganze Arbeit geleistet haben.

Die Aussagen unserer Gesprächspartner sind identisch: es war das Militär. "Sie" kamen morgens um 9.00 Uhr. Haben die Läden und Häuser geplündert und Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht. Einige der Wohnviertel suchen wir später auf. Verkohlte Trümmer, durchschossene Hauswände. Eine ausgestorbene, zerstörte Stadt, eine Moschee, in der die Menschen Schutz gesucht hatten, deren Türme heute tiefe Einschläge von Granaten aufweist. Häuser der Militärangehörigen und die Kommandatur - als einzige unbeschädigt - werden ihnen verschlossen bleiben.

"Sie" haben nicht nur aus Panzern und Hubschraubern geschossen. Die Soldaten sind in die Wohnviertel gekommen und haben gelbes Pulver verstreut und dann die Häuser angezündet. Manche erzählen uns von den achträdrigen Panzern aus Deutschland." (Schützenpanzer aus ehemaligen Beständen der NVA, die der Türkei in großer Zahl von der Bundesregierung geschenkt wurden; Anm: T.W. Klein) "Die Menschen von Lice haben nichts mehr zu verlieren. Sie haben deshalb auch keine Scheu die Schuldigen offen zu benennen, obwohl die Angeklagten nur wenige Meter neben und stehen."

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