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Vorschlag für eine Zivile Strategie für Afghanistan
vonDie zivile Strategie für Afghanistan, die hier als Grundlage für weitere Diskussionen in der Friedensbewegung vorgeschlagen wird, ist in hohem Maße ein politisches und nicht ein technokratisches Projekt. Wesentliche Akteure der NATO setzen aus vielerlei Gründen auf ein militärisches Vorgehen, auch wenn dadurch eine friedliche Lösung offenbar in immer weitere Ferne rückt. Die Friedensbewegung muss ihren Ansatz mit ihrem übergreifenden Ziel verbinden, militärische Interventionspolitik zurückzudrängen und zivile Konfliktbearbeitung zur gängigen Praxis werden zu lassen.
Aus dieser Sicht sind die Ziele einer zivilen Afghanistan Strategie:
- Frieden und Kooperation zu fördern sowie Sicherheit im Lande zu stärken.
- Einen Ausweg aus der militärischen Konfrontation zu eröffnen.
- Zivile Konfliktbearbeitung (ZKB) zu erproben und als Alternative bekannt zu machen.
- Möglichst viele NATO-Länder auf diesen zivilen Kurs zu bringen.
- Die Selbstständigkeit der EU-Staaten gegenüber der US-Interventionspolitik zu fördern, auch wenn keine Illusion über die Bereitschaft vieler EU-Staaten zu militärischer Interventionspolitik bestehen darf.
Bedingungen in Afghanistan, die zu berücksichtigen sind
Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat und hat somit eine Bevölkerung mit sehr unterschiedlichen Loyalitäten. Paschtunen (ca. 40%), Tadschiken (25%), mongolstämmige Hazara (15%) und Usbeken (5%) sind die größten Völker neben vielen weiteren kleineren. Dari, Paschtu und Usbekisch sind die vorherrschenden Sprachen. Verbindend wirkt, dass fast alle Muslime sind ( ca. 84% Sunniten, 15% Schiiten).
Es bestehen große Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung, welche die große Mehrheit der etwa 29 Millionen Einwohner ausmachen. Sie sind insbesondere durch die dominierenden Lebensweise auf dem Lande mit den Stammestraditionen stark verbunden. Modernisierung ist in der Geschichte Afghanistans immer wieder auf großen Widerstand gestoßen und hat zu Sturz oder sogar Ermordung von Herrschern geführt. Auch die Mobilisierung von Widerstand durch die USA gegen die sowjetische Invasion baute auf traditionale Orientierungen und Werte. Landesweite Kooperationsbereitschaft ist also nicht selbstverständlich.
Ferner ist die Gesellschaft von jahrelangen Kriegen geprägt. Diese haben bestehende Strukturen teilweise zerschlagen und neue unsichere, partielle Herrschaftsformen (Warlords, Opiumkartelle) geschaffen. Eine auf Produktion beruhende Bourgeoisie ist kaum entstanden.
Die Langsamkeit gesellschaftlicher Veränderung ist unbedingt zu berücksichtigen. Modernisierung muss aus der Gesellschaft heraus entstehen, zusammen mit der Veränderung der Produktionsstrukturen.
Die Taliban basieren zum Teil auf Traditionen der paschtunischen Gesellschaft. Das macht ihre Stärke aus. Sie sind eher "national" orientiert, im Gegensatz zu der internationalen Orientierung von Al Quaida. Beide sind also nicht identisch. Bindungen der Bevölkerung an die Taliban haben etwas mit Traditionen, mit Armut, Perspektivlosigkeit und mit lokalen Machtverhältnissen zu tun. Sie sind differenziert wahrzunehmen und zu behandeln. Schwarz-Weiß-Einstufungen sind gänzlich ungeeignet.
Erhebliche Teile der modernen Eliten sind von den Zahlungen der Interventen abhängig und so an sie gebunden.
Probleme und Gefahren der gegenwärtigen Situation
Die westliche Militärintervention steht vor einem doppelten Dilemma. Sie ist weder in der Lage, eine stabile und sichere Ordnung zu bewirken, noch ist dies allein durch den Abzug ihrer Truppen zu erreichen.
Die Armutssituation und die "Kollateral-Opfer" der Bombardierungen veranlassen immer mehr Menschen, sich dem bewaffneten Kampf gegen "den Westen" anzuschließen. Die Bombardierungen stärken also die Gegner der Interventionstruppen.
Da die NATO aus westlicher Sicht nicht besiegt werden darf, ist eine ständige militärische Eskalation zu erwarten, so lange keine Exitstrategie existiert. "Vietnam 1973" soll auf alle Fälle vermieden werden. Dementsprechend soll Berlin zusätzlich 250 Soldaten der Kampftruppen in den Norden schicken.
Schon steht der Konflikt in einem engen Zusammenhang mit der paschtunischen Bevölkerung im pakistanischen Gebiet. Bei einer Ausweitung des Krieges auf Pakistan und - bei einem US-/Israel-Angriff - auf Iran dürfte der Krieg völlig außer Kontrolle geraten.
Mit Eskalation und Ausweitung verschärft sich die Polarisierung zwischen islamischen Ländern und den intervenierenden westlichen kapitalistischen Staaten. Verstärkte Verfeindung und Feindbilder in den Gesellschaften werden das Ergebnis sein. Friedliche Lösungen von Konflikten auch außerhalb von Afghanistan würden immer schwieriger.
Ansätze für eine zivile Alternative
Die Situation in Afghanistan kann nicht schlagartig verändert werden. Die führende NATO-Macht USA sind nicht bereit, ihre Truppen abzuziehen, und auch nicht die NATO. Deshalb ist jede Diskussion unter dem Vorzeichen "Wenn morgen alle Truppen abziehen" völlig unrealistisch. So ist nach einer Möglichkeit der Weichenstellung hin zu Ziviler Konfliktbearbeitung (ZKB) unter den Bedingungen eines fortgeführten Krieges zu suchen. Das wird hier unternommen.
Eine Ausgangsthese lautet, erst wenn die afghanische Bevölkerung eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erkennen kann, wird sie sich auch für Frieden engagieren. Eine wesentliche Verbesserung erfährt sie nicht durch die bisherige Arbeit der ISAF-Truppen. Diese können trotz aller absichtsvollen mythischen Verklärung keine systematische Politik der Entwicklung und Friedensförderung betreiben. Über 80% der deutschen ISAF-Truppen verbringen zudem ihre Einsatzzeit nur im eigenen Militärlager und beschäftigen sich mit ihrer eigenen Sicherheit.
Wir fordern eine Abkehr vom Krieg und eine zivile Entwicklungs- und Friedenspolitik für Afghanistan und seine Menschen. Das ist nicht mit mehr Soldaten, sondern nur mit mehr friedenspolitischem Engagement zu erreichen.
Deutschland könnte hierbei eine wichtige Rolle spielen
- Deutschland verlängert nicht die Mandate für ISAF, Tornado und Enduring Freedom und gibt damit ein deutliches Signal der Neuorientierung. Dabei nennt Berlin ein festes Datum, bis zu dem die deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen sein werden.
- Berlin gibt gleichzeitig bekannt, es würde seine zivile Hilfe um den Betrag aufstocken, der durch den Abzug der Truppen frei würde. Das sind 500 bis 600 Millionen jährlich. Diese Mittel stünden für Entwicklungsprojekte in Afghanistan zur Verfügung, die von Orten und/oder Regionen des Landes gemeinsam für wichtig und nützlich gehalten werden und tatsächlich die Lebensbedingungen der Menschen vornehmlich auf dem Lande verbessern. Dort ginge es um soziale und medizinische Versorgung sowie um Arbeitsplätze und landwirtschaftliche Produktionen, unabhängig vom Mohnanbau für die Opium Herstellung. Von den UN sind Vorschläge hierfür ausgearbeitet worden. Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) wird beauftragt, angepasste Technologien und für die Produktion von Gebrauchsgegenständen unter den Bedingungen in Afghanistan vorzuschlagen, die möglichst vor Ort produziert werden können.
- Die Projektarbeit könnte, angesichts der zu erwartenden langen Vorlaufzeiten, sogleich begonnen werden. Die Bundeswehreinheiten erhalten die Anweisung, sich ab sofort nicht in Kämpfe einzumischen. Dies gilt sowohl für Truppen, die der OEF zugeordnet sind, für ISAF-Truppen und für den Einsatz der Tornados.
- Für die Projekte sollten zunächst Regionen mit besonders günstigen Bedingungen ausgewählt werden, in denen auch eine gewisse Konzentration von Projekten verwirklicht werden kann. Dies hätte Ausstrahlung auf andere Regionen. Die Menschen würden verstehen, dass sich Frieden und Kooperation für sie lohnen. So wüchse die Bereitschaft, sich an Projekten aktiv zu beteiligen.
- Die Konzentration auf den ländlichen Bereich schließt nicht aus, auch allgemeine oder städtische Projekte zu unterstützen. Dazu kann auch die rechtstaatliche Ausbildung von Polizisten gehören, soweit diese nicht zu Kampftruppen umfunktioniert werden.
- Bei den Projekten geht es auch um die Einbeziehung und die örtliche oder regionale Zustimmung derjenigen Kräfte, die sich den Taliban zuordnen. Wer Aussöhnung will, darf die bisherigen Gegner nicht ausgrenzen! Auf diese Weise könnten Dialog und Zusammenarbeit der verschiedenen Kräfte vor Ort, sowie Vertrauen untereinander gefördert werden.
Die folgenden Prinzipien könnten maßgebend sein:
- Vorschläge für Projekte können von allen Seiten gemacht werden.
- Alle zuständigen Kräfte werden zur Erörterung und Beschlussfassung der Projekte von denen eingeladen, die den Vorschlag gemacht haben.
- Projekte werden nur verwirklicht, wenn alle Seiten einschließlich der Geber zustimmen. Kommt keine Einigung zustande, so werden die Projekte nicht verwirklicht.
- Für die Ausführung von Arbeiten werden möglichst örtliche Kräfte einbezogen, auch wenn sich dadurch die Kosten erhöhen sollten. Wichtig ist, dass Einkommen durch Arbeit entsteht und gleichzeitig Produktionsstrukturen gefördert werden.
- Korruption ist nicht hinnehmbar, selbst wenn dann ein Projekt nicht verwirklicht werden kann.
- Projekte und die dabei gemachten Erfahrungen sind zu publizieren, um die Arbeit und ihre Prinzipien bekannt zu machen. Das kann die Projektarbeit ausweiten.
- Die Bundesregierung appelliert an die NATO und die Aufständischen, solche Projekte, Orte und Regionen nicht in die Kriegführung einzubeziehen, selbst wenn an den Projekten Taliban nahe Kräfte beteiligt sind. Solche Appelle sollten auch von denjenigen ausgehen, die an den Projekten interessiert sind und dort mitarbeiten.
- Die Bundesregierung bemüht sich gleichzeitig darum, dass andere NATO- und EU-Staaten ihrem Beispiel folgen.
- Mit einer derartigen Politik könnte Deutschland eine Wende vom Krieg zur zivilen Konfliktbearbeitung, von der Konfrontation zum Dialog einleiten. Das wäre ein Signal, das weit über Afghanistan hinaus in vielen islamischen Ländern gehört werden würde. Damit würde gleichzeitig eine Exitstrategie eröffnet.
Widerstände gegen eine solche Alternative und Probleme
Der Krieg in Afghanistan wird nicht für Demokratisierung geführt. Er ist vielmehr ein Probefall für die weltweite militärische Dominanz der kapitalistischen Industriestaaten. Sie kämpfen dort mit ihrer Militärorganisation NATO, der sich tendenziell auch Japan anschließen wird. Dabei geht es auch um die Kohärenz und die Fähigkeit der NATO, als weltweites Interventionsinstrument zu dienen. Das bedeutet, selbst bei Zweifeln an dem Sinn der Militäraktionen in Afghanistan geht es um das für sie höhere Ziel, das Instrument NATO zu erproben und zu sichern.
Mit dieser zivilen Friedenspolitik, die gleichzeitig eine Exitstrategie aus dem afghanischen Sumpf wäre, würde Deutschland aller Voraussicht nach unter starken Druck aus den USA und auch aus der NATO geraten. Doch hat die Bundesrepublik nicht die Verweigerung einer direkten Beteiligung am Irak-Krieg gut ertragen können? Außerdem würde damit eine fruchtbare Auseinandersetzung innerhalb der NATO angeregt werden.
Der Schutz ziviler HelferInnen ist ein Problem. Denn es ist nicht auszuschließen, dass solche Projekte von Al Quaida, Taliban-Gruppen oder auch von rivalisierenden Kräften der afghanischen Bevölkerung (z. B. bei Entwicklung von Alternativen zur Opium-Produktion) angegriffen werden. Es ist ferner nicht auszuschließen, das solche Projekte auch von den NATO-Truppen in ihre Kampfhandlungen mit oder ohne Absicht einbezogen werden.
Das Argument, Hilfe und Entwicklung bedürfe des militärischen Schutzes, greift nicht. Denn erstens ist das ISAF-Militär nicht in der Lage, die zivilen Helfer zu schützen und zweitens halten die Afghanen Helfer unter militärischem Schutz nicht für neutral, sondern für einen Teil der militärischen Intervention. Dies um so mehr, wenn ISAF zur kämpfenden NATO-Truppe wird und "Zivilmilitärische Zusammenarbeit" (CIMIC bzw. ZMZ) praktiziert wird. Entwicklungshelfer sehen sich deshalb eher durch Militär gefährdet als gefördert. Die Abstimmung von Projekten mit den jeweiligen Kräften vor Ort und deren Beteiligung dürfte die beste Sicherung sein.
Interessen an einer zivilen Alternative
Sollten die Wahlen in den USA zu einem Parteiwechsel in der Präsidentschaft führen, so könnte die neue Administration durchaus interessiert sein, sich von dem Ballast des Afghanistan-Krieges zu befreien und eine solche Alternative zu unterstützen oder zumindest zu tolerieren.
Kleinere NATO-Staaten könnten ebenfalls ein Interesse haben, sich dem interventionistischen Militärkurs der USA und der NATO zu entziehen, da sie sich von zivilen Strategien viel bessere wirtschaftliche Möglichkeiten in Nah- und Mittelostasien versprechen.
Die EU, die oftmals ihre Abhängigkeit von der US-Hegemonialpolitik beklagt, könnte darin eine Chance sehen, ihre eigene Selbstständigkeit auszuweiten. Dies würde voraussichtlich zu Richtungskämpfen innerhalb der EU führen, was ganz im Sinne der Friedensbewegung wäre, da dann die interventionistischen Tendenzen der EU zur Diskussion gebracht würden.
Eine zivile Alternative könnte auch von Seiten der asiatischen Anliegerstaaten unterstützt werden, da sie die US-Interventionspolitik mit Sorge betrachten. In Iran könnte sie als eine Stärkung der eigenen Sicherheit gegenüber Angriffstendenzen der USA verstanden werden.
Aufgaben für soziale Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen (NROs)
In der Bundesrepublik wird es vor allem darum gehen, eine breite Diskussion über diese Alternative in Gang zu setzen, die über verschiedene Aktionsformen sowohl die Gesellschaft wie auch die Abgeordneten des Bundestages erreicht. Die alleinige Forderung nach Abzug der Bundeswehr ist unzureichend.
Es ist ferner erforderlich, eine breite Aufklärung über die Hintergründe und die Wirklichkeit des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan zu betreiben.
Außerdem sollte ein ExpertenInnen-Kreis für Afghanistan gebildet werden, der sich möglichst bald mit einer Ausarbeitung der Details der Alternative befasst, sich um vorbereitende Schritte bemüht und Informationen sowie Stellungnahmen zur weiteren Entwicklung des Konflikts abgibt
NROs, die bereits in Afghanistan arbeiten, könnten in Hearings ihre Erfahrungen zur Verbesserung der Alternative einbringen.
Insgesamt handelt es sich um eine ambitiöse und komplexe zivile Alternative, deren Ziele über Afghanistan hinaus in den Bereich grundsätzlicher politischer Weichenstellung gehen. Man kann durchaus von einem Schritt auf dem Wege zu Vorrang für zivile Konfliktbearbeitung sprechen. Es lohnt sich also, dafür einzutreten und zu arbeiten.
Dieser Text baut auf dem Vortrag auf, den der Autor auf der 5. Strategiekonferenz der "Kooperation für den Frieden" am 19. 1. 2008 in Aachen gehalten hat.