Unrealistische Afghanistanpolitik

Warum die NATO den Krieg am Hindukusch verloren hat

von Jürgen Heiducoff

Kein ernst zu nehmender Analyst stellt die Frage, ob dieser Krieg der NATO verloren ist. Vielmehr geht es um die Frage, warum dieser Krieg verloren gehen musste.

Die Truppen der NATO – weder schlecht ausgerüstet, noch ausgebildet, hoch motiviert und in guter physischer Kondition – scheiterten und organisieren ihren Rückzug, obwohl sie über moderne Waffensysteme verfügen, denen die Aufständischen nichts entgegenzusetzen haben.

Dies ist auf eine verfehlte Afghanistanpolitik zurückzuführen. Wie kam es dazu? Politiker, Parlamentarier und Militärs der NATO-Staaten begegnen während ihrer zahlreichen Besuche zur Lagefeststellung in Afghanistan fast ausschließlich Gesprächs- und Verhandlungspartnern, die nicht die Stammesgesellschaft repräsentieren. Daraus resultiert ein realitätsfremdes Lagebild. Dies wird durch die meist schöngefärbten Berichte der verantwortlichen Diplomaten und Militärs weiter verfälscht. Die auf dieser Grundlage entstehenden politischen Entschlüsse und Vorgaben können nicht zielführend sein. Vor allem die Ansätze, die politischen Ziele auch mit militärischer Gewalt zu implementieren, erwiesen sich als völlig ungeeignet. Ein Krieg zur Durchsetzung einer Politik der Umgestaltung einer dazu nicht reifen Gesellschaft muss verloren gehen. Die Militärs werden nicht durchsetzen können, was die Mehrheit der Menschen weder versteht, noch will.

Hauptkriterium erfolgreicher Kriegführung ist die Erreichung der durch die Politik definierten Ziele. Diese sind für Afghanistan mehrmals geändert worden: Entmachtung der Taliban, Beseitigung der Basis für das Terrornetzwerk Al Qaida, Sicherheitsunterstützung für die neue Regierung, Bekämpfung des nicht erwarteten Aufstandes. Keines dieser Kriegsziele konnte nachhaltig erreicht werden. Von mangelndem Realismus zeugt vor allem das politische Ziel der NATO-Staaten, in Afghanistan demokratische Strukturen zu schaffen und (in ihrem Sinne) politische und wirtschaftliche Stabilität zu erreichen sowie die gesamte Region zu beeinflussen. Die meisten NATO-Staaten möchten dennoch auch nach dem Rückzug ihrer Kampftruppen an diesem Ziel festhalten. Aktuelles Beispiel dafür ist das Abkommen zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Afghanistan über die bilaterale Zusammenarbeit vom 16.05.2012. Dort heißt es in einer gemeinsamen Absichtserklärung beider Staaten, dass „ein demokratisches, politisch stabiles Afghanistan, wirtschaftlich aufstrebend in einer stabilen Region zu schaffen sei, das die Einhaltung der Menschenrechte aktiv fördert, einschließlich der Rechte von Frauen und Kindern“. (1)

Derart unrealistische politische Ansätze, die auf die schnelle fundamentale Umgestaltung einer über Jahrhunderte gewachsenen Kultur und Tradition gerichtet sind, werden nicht durchsetzbar sein.

Permanente Änderungen der Afghanistanstrategie
Die strategischen Vorgaben sind immer wieder korrigiert worden, weil die bisherigen meist schon im Ansatz gescheitert waren. Zum militärischen Sieg hat all dies nicht führen können. Auch den internen, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten US- und NATO-Analysen liegt die Erkenntnis vom verlorenen Afghanistankrieg zugrunde. Mit dem Abzug ihrer Kampftruppen will sich die NATO der weiteren verlustreichen Aufstandsbekämpfung entziehen. NATO-Politiker versuchen, den Abzug ihrer Kampftruppen aus Afghanistan als eine logistische Operation nach erfolgreichem Abschluss ihres militärischen Engagements darzustellen. Doch selbst US-Militärs räumen ein, dass ein Aufstand allein militärisch nicht zu besiegen ist. Dies erfordere Aktivitäten in vielen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem den zivilen und wirtschaftlichen Aufbau. Dies würde die finanziellen Möglichkeiten der Staaten des Westens jedoch überdehnen.

Die USA haben vor einem knappen Jahr ihre gesamte globale Strategie grundlegend geändert, den Schwerpunkt auf den asiatisch-pazifischen Raum ausgerichtet, sich aber die Flexibilität vorbehalten, überall auf der Welt politisch-militärisch agieren und ihrer „Schutzverantwortung“ nachkommen zu können. Der verlustreiche und verlorene Krieg gegen Aufständische in Afghanistan passt nicht in diese neue Strategie.

Militärische Aspekte
Zu Beginn des Krieges wurde mit massiven Bombardements der US-Luftwaffe und der Eroberung Kabuls durch die Kämpfer der afghanischen Nordallianz der Sturz der Talibanherrschaft schnell erreicht. Diese singuläre militärische Operation als Sieg über die Taliban zu deklarieren, war falsch. Ein lang anhaltender, zermürbender Krieg ist programmiert worden. Der Widerstand der aus dem Untergrund operierenden, von den Taliban geführten Aufständischen begann Monate später und bediente sich asymmetrischer und terroristischer Kampfmethoden. Teilweise führten Formationen Aufständischer auch offene Feldgefechte gegen die westlichen Truppen. Der Einsatz von Jagdbombern, Kampfhubschraubern und Drohnen konnte den Widerstand nicht brechen. Immer öfter gerieten aber Zivilisten zwischen die Fronten. Amerikanische und britische NATO-Truppen führten einen brutalen Krieg mit Luftangriffen, nächtlichen Kommandoaktionen und Hausdurchsuchungen. Angehörige der Opfer und Augenzeugen wurden zu Multiplikatoren des Hasses gegen die Besatzer. Die Entschuldigungen der Politiker und Militärs für Fehlschläge mit zivilen Opfern erschienen wie Hohn.

Die Aufstellung neuer afghanischer Streitkräfte und der Polizei ging äußerst schleppend voran. Angehörige afghanischer Einheiten liefen zu den Aufständischen über oder griffen NATO-Soldaten an.

Mit steigender Truppenstärke der NATO stiegen deren Verluste. Die Schutztruppe hatte zunehmend damit zu tun, sich selbst in einem feindlichen Umfeld zu schützen. Sie zogen sich immer mehr in ihre Camps zurück, die sie zu Festungen ausbauten. Dort pflegen sie ihre Kultur, spielen ihre Spiele, lesen ihre Bücher, verbessern in den Fitnessstudios ihre Kondition. Die Musik ihrer Diskotheken ist weithin zu hören, sie trinken Alkohol, lärmen, fahren mit ihren Fahrzeugen genervt und aggressiv durch die Dörfer. Ich habe erlebt, wie zu Anfang der Stationierung der deutsche Kommandeur der Kabuler Multinationalen Brigade von seinen Soldaten immer wieder forderte, sich wie Gäste in einem fremden Land zu bewegen. Und ich stellte mit Unverständnis im Jahre 2007 fest, dass diese Forderung einer anderen wich. Nachdem sich die Anschläge auf ISAF-Patrouillen häuften, rückte der Schutz der eigenen Kameraden in den Mittelpunkt der Fürsorge. Kommandeure forderten, auch präventiv die Schusswaffe einzusetzen, wenn sich z.B. ein Fahrzeug oder eine Person verdächtig verhält oder sich dem eigenen Fahrzeug nähert.

Der unberechenbare Feind, der immer wieder aus Hinterhalten zuschlug, führte viele ISAF-Soldaten an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit. Das Erleben von Tod und Leid eigener Kameraden rief posttraumatische Belastungsstörungen hervor. Dies vertiefte Hass und Abscheu. Hinter jedem Einheimischen wurde ein Attentäter vermutet und Vertrauen gegenüber den Afghanen war nicht zu erwarten. Der Krieg war verloren.

Vertiefung der kulturellen Divergenzen
Die unrealistische Vision der westlichen Politik, die afghanische traditionelle Stammesordnung in eine demokratische Gesellschaft nach eigenem Vorbild umzubauen, erfordert tiefe Eingriffe in die Stammes- und Familienstrukturen und deren Funktionalität. Wenn dieses Ziel friedlich und harmonisch erreicht werden soll, bedarf es der Aufklärung und einer breiten Überzeugungsarbeit an der Basis – ein Generationen währender Prozess, der aus dem Inneren der eigenen Gemeinschaft reifen müsste.

Die bestehende Divergenz zwischen westlicher und afghanischer Kultur, Tradition, Mentalität und Religion ist nicht mit interkulturellen Kursen in Vorbereitung der Verlegung der Soldaten ins Kriegsgebiet kompensierbar. Es geht nicht um fehlende Kenntnisse, sondern vor allem um mangelndes gegenseitiges Verständnis und Vertrauen. Nur wenige, privilegierte Afghanen, die eine westliche Bildung erfahren haben, verstehen rational, was mit Demokratie und Menschenrechten gemeint ist. Die Mehrzahl der Afghanen empfinden diese Ziele, wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen, als Teil der Arroganz von Besatzern. Wie erleben die Menschen in den Dörfern die Soldaten der Demokratien? Sie erweisen sich als Wesen einer fremden Welt, wenn sie mit ihren Schutzwesten und modernen Waffen erscheinen oder „Show of Force“ demonstrieren, indem sie ihre Jets und Kampfhubschrauber im Tiefflug ohrenbetäubend über ihre Dörfer jagen. Sie fliegen mit Hubschraubern über ihre mit Mauern umgebenen Gehöfte, verschaffen sich Einblick in die intimen Bereiche der Familie. Sie treten nachts die Tore ihrer Höfe ein, dringen in die Gemächer der Frauen vor und nehmen fest, wer sich widersetzt. Sie zerstören auch hin und wieder ihre Häuser mit Raketen und Kanonen, töten und verletzen friedliche Menschen, bringen ihnen unermessliches Leid. Sie setzen Kampfdrohnen ein, die man nicht anfliegen hört, bevor sie gewaltige Zerstörungen anrichten. Dieser Macht der „Demokratie“ sind die Menschen schutzlos ausgeliefert. All diese Erfahrungen werden in der traditionellen Mund-zu-Mund-Berichterstattung weiter gegeben. Übertreibungen sind darin eingeschlossen. Dies erzeugt Hass und Rache. An Vertrauen ist da nicht im Ansatz zu denken.

In einer Kultur, in der Tradition und Ehre weit wichtiger sind als materieller Reichtum, ist die westliche Arroganz, vieles nach dem eigenen Vorbild verändern zu müssen, nicht zielführend.

Das Vertrauen der Menschen zu gewinnen setzt voraus, den Menschen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Truppen und militärische Gewalt sind dafür völlig ungeeignet.

Der Krieg ist kein Mittel zur Fortsetzung einer unrealistischen Politik, die den völligen Umbau einer dafür nicht reifen Gesellschaft zum Ziel hat.

Der Frage, ob die NATO den Krieg in Afghanistan hätte gewinnen können, halte ich die Feststellung entgegen: Man muss keinen Krieg führen, um die Afghanen zu gewinnen!

Menschentyp und Kampfmotive
Betrachtet man Lebensverlauf und -umstände der meist jungen Männer, die in Afghanistan kämpfend aufeinandertreffen, so können diese unterschiedlicher kaum sein. Junge Afghanen haben bisher nichts anderes als Gewalt, Krieg und die daraus resultierende Armut erlebt. Die meisten von ihnen sind Bauernsöhne. Konflikte sind nicht selten mit Gewalt gelöst worden. Eine Schule haben die meisten nicht besucht. Lebensrichtlinien und Normen sind durch den Vater, durch Stammesregeln und den Islam definiert. Die meisten ISAF-Soldaten kommen aus einem vergleichsweise wohlhabenden Umfeld und kennen weder Mangel noch Not. Sie haben einen Prozess von Bildung, Erziehung und militärischer Ausbildung durchlaufen. Ihre physische Belastbarkeit ist meist zugunsten ihrer technischen und Medienerfahrung weniger stark ausgeprägt. Nicht wenige der Jugendlichen im Westen unterschätzen die Risiken und Gefahren des Krieges. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass bereits die dritte und vierte Generation ohne Kriege in der Heimat aufwächst. Jedoch sollten die Wirkungen der Kriegsspiele für Heimcomputer nicht unterschätzt werden.

Die Motive der meisten NATO-Soldaten, sich an Kriegen zu beteiligen, liegen im Bereich der Karriere und der Finanzen. Auch bei Aufständischen gibt es materielle Motive, jedoch auf einem weitaus niedrigeren Niveau. Sie kommen vor allem der Pflicht nach, ihre Dörfer und Familien zu schützen.

Die Einsatzzeit der NATO-Soldaten ist begrenzt, während die Aufständischen im Dauereinsatz sind. Für sie gibt es keine Erwartungen, sich bald erholen zu können. Sie kennen aber das Kampfgebiet sehr genau und sind die klimatischen und hochgebirgsbedingten Besonderheiten gewohnt.

Perspektiven nach dem verlorenen Krieg der NATO
Niemand vermag vorauszusagen, welche der inneren und äußeren Kräfte ihre Interessen am Hindukusch durchsetzen werden. Die meisten NATO-Staaten wollen sich nach 2014 nicht völlig aus Afghanistan zurückziehen. Ihre Politiker haben erklärt, das Land nicht sich selbst zu überlassen und weitere finanzielle Hilfe in Aussicht gestellt.

Aber die Menschen im kriegsmüden Afghanistan brauchen statt waffenstarrender „Stabilität“ und Sicherheit vor allem endlich einen friedlichen Aufbau. Sollte es um die Lösung der gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Defizite des Landes gehen, bedarf es einer weit tiefgreifenderen Investitionsbereitschaft und -fähigkeit als die unverbindliche Zusage finanzieller Hilfe. Es geht um den Aufbau ganzer Industriezweige, der dazugehörigen Infrastruktur und des sozialen Umfeldes. Kein einzelnes Großunternehmen, keiner der hochverschuldeten Staaten des Westens kann einen solchen Investitionsbedarf decken. Dies vermögen nur staatliche Großinvestoren zu realisieren, die eigene langfristige, über Jahrzehnte andauernde strategische Interessen in Afghanistan haben. Nachhaltiger wirtschaftlicher Aufbau statt einzelner Projekte der Entwicklungshilfe garantiert die dringend notwendige Schaffung einer selbsttragenden materiellen Basis einer modernen Wirtschaft. Dies setzt eine langfristige Investitionsbereitschaft mit allen Risiken voraus. Dazu ist kein privater Investor bereit und fähig. Chinesische Staatsunternehmen werden den Afghanen zeigen, wie durch industrielle Großprojekte langfristig Arbeitsplätze, Infrastruktur und soziale Perspektiven geschaffen werden. Davon zeugen chinesische Kupferbergbau- sowie Öl- und Gasvorhaben. Aus dem Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung 2011: „Die wichtigsten laufenden Bergbauprojekte sind: Aynak Kupfervorkommen: 35 km südöstlich von Kabul, gesicherte 625 Mio. Tonnen Erz ... Derzeit laufen die Erschließungsarbeiten durch die China Metallurgical Group Corporation  (MCC). MCC hat vertraglich zugesagt, zur infrastrukturellen Anbindung der Mine eine Eisenbahnstrecke von der usbekischen bis an die pakistanische Grenze zu bauen … .“ (2)

Auch für die Erschließung der Öl- und Gasfelder im Raum Sar-e-Pul im Norden Afghanistans erhielt die China National Petroleum Corporation (CNPC) den Zuschlag und begann bereits mit den Arbeiten. Dabei werden Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen.

Anmerkungen
1 Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Islamischen Republik Afghanistan über die bilaterale Zusammenarbeit vom 16.05.2012, S. 2.

2 Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung Dezember 2011.

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Jürgen Heiducoff war zu Anfang des ISAF-Einsatzes über ein halbes Jahr als Soldat und in den Jahren 2006 bis 2008 als Diplomat in Afghanistan.