Über den „Nahostkrieg zweiter Ordnung“

Warum Empathie im eskalierenden Nahostkonflikt Mangelware ist

von Peter Ullrich
Hintergrund
Hintergrund

Der Soziologe Friedhelm Neidhardt analysierte wesentliche Bedingungen für eskalative Gewaltprozesse. Dazu gehören neben den Konfliktanlässen ein grundlegender Wertkonflikt und das Fehlen dritter Parteien, die moderierend intervenieren könnten. Im Eskalationsprozess kommt es zur Verstärkung von Perspektivendifferenz: Die Sichtweisen auf die Geschehnisse gehen immer weiter auseinander, es wird immer unterschiedlicher, was die beiden Seiten überhaupt ‚bemerken‘. Am Ende erscheinen auch härteste Maßnahmen gegen die Gegenseite geboten, ja zwingend. Auslöser verlieren an Bedeutung, die etablierte Feindschaft ist sich selbst Grund genug. Auch nur teilweise die Perspektive der Gegenseite einzunehmen, wird unmöglich. Eskalation ist auch Maximierung von Perspektivendifferenz und damit Minimierung von Empathiefähigkeit.

Jedwede Eskalation im Nahostkonflikt findet ihre Duplizierung im „Nahostkonflikt zweiter Ordnung“, im Konflikt derjenigen, die aus der Distanz kommentieren, skandalisieren oder sich solidarisieren.

Im eigentlichen Nahostkonflikt ist mit dem Krieg die höchste Eskalationsstufe erreicht. Dazu gehören die grausamen Angriffe der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung, mit Szenen des Schreckens, von Erniedrigung, Folter und Mord, Geiselnahmen und dauerhaften Raketenangriffen. Die Brutalität der Angriffe war außergewöhnlich und hinterlässt ein geschocktes Land. Zur Eskalation gehört auch die israelische Reaktion, die Hamas auf eine Art anzugreifen, die eine humanitäre Katastrophe riesigen Ausmaßes über den Gaza-Streifen bringt und die von Seiten extrem rechter Politiker*innen mit genozidalen Ambitionen unterlegt ist. Bombardierungen, Absperrung von Hilfslieferungen, Wasser und Strom sowie Umsiedlungsaufforderungen zermürben die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen und führten dort zu mittlerweile fünfstelligen Opferzahlen.

Auch im Nahostkonflikt zweiter Ordnung vollzieht sich das Eskalationsmuster, angefeuert von sozialen Medien, in rasanter Geschwindigkeit. Es ist erstaunlich, wie schnell viele Worte fanden, und zwar dezidierteste, wo Erschütterung und mit ihr Sprachlosigkeit zu erwarten oder geboten gewesen wären. Was zuerst auf der Strecke bleibt, ist auch hier Empathie mit den Leidtragenden in ihrer Verschiedenartigkeit, auch im Diskurs linker oder progressiver Kräfte.

Linke Stellungnahmen
Natürlich sind die meisten linken Stellungnahmen klar in ihrer Distanzierung von den Taten. Selbst pro-palästinensische Gruppierungen äußern sich überwiegend nicht mit einer Unterstützung der Hamas-Taten. Doch viele Linke und pro-palästinensische Gruppen blieben still, können sich zu keiner Verurteilung der Verbrechen entschließen. Manche fordern Solidarität mit der Bevölkerung Gazas, ohne die Taten der Hamas zu benennen. Und zuletzt: Sympathisant*innen, in einigen Fällen auch von ‚links‘, bejubeln die Terrorangriffe. Insbesondere bei traditionskommunistischen Gruppen wird der Terror gegen die Zivilbevölkerung als „militärische Operation“ bagatellisiert und sich mit dem „palästinensische[n] Widerstand“, inklusive seiner reaktionärsten Elemente, uneingeschränkt solidarisiert. Auf diversen Versammlungen, die sich in dieser Art mit den Taten der Hamas solidarisierten, waren linke Aktivist*innen anwesend oder gar Mitorganisator*innen. Wer in seiner Solidarität mit den unter Besatzung lebenden Palästinenser*innen derartige Taten hinnimmt oder gutheißt, muss schon aktiv die Bilder der Mord-, Jagd- und Folterszenen oder die Verzweiflung der Angehörigen der Hamas-Geiseln ignorieren, um hier etwas Fortschrittliches oder auch nur etwas, zu dem man sich neutral verhalten könne, zu entdecken. 

„Kontextualisieren“ als Schimpfwort?
Andersherum wird in den hitzigen Debatten dieser Tage immer wieder schon der kleinste Verweis auf den Kontext der realgeschichtlichen Eskalation als Relativierung oder Verteidigung des Terrors gebrandmarkt, beispielsweise der Hinweis darauf, dass die Taten der Hamas nur teilweise durch deren reaktionäre, islamistische, misogyne, nationalistische und antisemitische Ideologie und ihre Unterstützung durch den Iran zu erklären sind, und dass die Taten auch über einen Nährboden in den Ungerechtigkeiten der jahrzehntelangen Besatzung (bzw. ihrer indirekten Fortsetzung in der Blockade des Gaza-Streifens) verfügen. Die Besatzung ist gekennzeichnet von struktureller Gewalt und einer Intensivierung manifester Gewaltpraxen der rechten Siedlerbewegung unter der gegenwärtigen rechtsradikalen israelischen Regierung. „Kontextualisieren“ scheint trotzdem schon zum Schimpfwort mutiert zu sein. 

Zu den Demonstrationsverboten
Angesichts dessen stimmt es bedenklich, dass vor allem in den ersten beiden Wochen der gegenwärtigen Zuspitzung viele pro-palästinensische Demonstrationen verboten wurden. Die verstörenden Bilder der nach dem Angriff Süßigkeiten verteilenden Hamas-Sympathisant*innen, die gewalttätigen Ausschreitungen auf Spontanversammlungen und nicht zuletzt die antisemitischen Delikte (Markierungen von Häusern mit Davidsternen, der Wurf von Molotowcocktails auf ein jüdisches Gemeindezentrum) lieferten die diskursive Grundlage für Einschränkungen von Grundrechten. Demonstrationen gegen die Besatzung und die humanitäre Katastrophe durch die israelischen Angriffe, inklusive solcher von linken Jüdinnen und Juden wurden u.a. mit den Begründungen untersagt, dass „pro-palästinensische Symbole“ auftauchen könnten - kein akzeptabler Grund, das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in diesem Ausmaß zu beschneiden. Die Situation ist durchaus dilemmatisch. Es ist verständlich, dass das Ausmaß an Gewalt, Pressefeindlichkeit, Hetzparolen und Billigung von Gewalttaten auf einigen dieser Ansammlungen Menschen besorgt, nicht zuletzt jüdische, die derzeit immer wieder zur Zielscheibe vermeintlicher Israelkritik werden.

Den Verbotsverfügungen liegt jedoch offensichtlich auch eine rassistische Orientierung zugrunde, die Palästinenser*innen und ihre Anliegen unter einen grundsätzlichen Antisemitismusverdacht stellt. In Fortsetzung einer schon in den vergangenen Jahren anlässlich der Proteste zum „Nakba-Tag“ entworfenen Linie werden alle Palästinenser*innen (und ihre Unterstützer*innen) in einen Topf geworfen. Ihren Kontext hat die breite Anwendung von Vorabverboten unter anderem in den Prozessen der Verrechtlichung und Versicherheitlichung der Nahost- und Antisemitismusdebatte.

Hier scheint sich eine grundrechtsfeindliche Verschiebung des Versammlungsrechts abzuzeichnen. Das Differenzierungsgebot aus dem Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet die Polizei jedoch dazu, selbst bei Gesetzesverstößen eines Teils der Teilnehmer*innen das Demonstrationsrecht der anderen zu schützen. Großflächige Verbote schon im Vorhinein aufgrund eines Themas, eines Regionalbezugs oder wegen zu erwartender Wut (so frühere Begründungen) widersprechen dem Versammlungsrecht. Schließlich kann die Polizei auch reaktiv einschreiten oder vorher Auflagen erteilen. Dies gilt gerade bei den hier relevanten Äußerungsdelikten, denen durchaus im Rahmen des Differenzierungsgebotes „in Ruhe“ polizeilich begegnet werden kann. Auch Palästinenser*innen und Kritiker*innen der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser*innen müssen ihren Unmut artikulieren können. Selbstredend sind sie nicht alle Hamas-Unterstützer*innen und Judenhasser*innen. Das gilt umso mehr für die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, deren Versammlungen von der Verbotsorgie ebenso betroffen waren wie die die Demo „Youth against Racism“. Einige der Versammlungen, die dann später doch stattfinden konnten, bestätigen dies.

Externalisierungsfunktion deutscher Antisemitismusdebatten
Hier zeigt sich die starke Externalisierungsfunktion deutscher Antisemitismusdebatten. Während sich Politiker*innen in rassistischen Zuschreibungen, Forderungen nach hartem Durchgreifen und schnellen Abschiebungen überbieten (sogar der Entzug der Staatsbürgerschaft für Hamas-Sympathisant*innen wird gefordert), also die Schuldigen klar in migrantischen Bevölkerungsteilen verorten, ist noch gut die Causa Aiwanger in Erinnerung. Der FW-Politiker hatte in seiner Jugend ein nationalsozialistisches und den Holocaust verharmlosendes Flugblatt verfasst oder verteilt. Er verlor nach dem Bekanntwerden keine Ämter und wurde mit einem hervorragenden Wahlergebnis belohnt. Das Verlangen der Ächtung von Antisemitismus ist in Deutschland offensichtlich nach Herkunftsmustern strukturiert.

Das Formulieren von analytisch wie moralisch widersprüchlichen Gesamtsichten, die sich einer homogenisierenden Gut-Böse-Zuordnung der nahöstlichen Konfliktparteien entziehen, wird derzeit immer schwieriger. Jede der Seiten im Nahostkonflikt zweiter Ordnung verlangt – aus ihrer Perspektive nachvollziehbar – absolute Solidarität und legt damit den Grundstein der Empathielosigkeit für andere Opfer und Betroffene.

Die tagelange Social-Media-Diskussion über die gemeldete Enthauptung israelischer Babys durch Hamas-Angehörige zeigte die Dynamik dieser Grabenkämpfe. Die jeweiligen Wendungen der Geschichte wurden von den Beteiligten dann geteilt, wenn sie ihre eigene Seite zu munitionieren schienen. Das Muster wiederholte sich nach der Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus, bei der nicht klar war, ob sie auf einen israelischen Angriff oder eine fehlgezündete Rakete aus dem Gaza-Streifen zurückgeht.

Mut dafür, aus dieser selbstragenden und sich selbst verstärkenden Logik auszubrechen, machen derzeit nur sehr wenige Dritte, nicht zuletzt aus der Linken vor Ort, deren Perspektive und Engagement sich dem Druck entzieht, weiter zu eskalieren und die Empathie für die Opfer - gleich welcher Herkunft - nicht aufgeben.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die aktualisierte und gekürzte Version eines Artikels, der ursprünglich auf www.rosalux.de erschienen ist: Dort befinden sich auch umfangreiche Quellenangaben, die hier aus Platzgründen weggelassen werden mussten.

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Hintergrund
Peter Ullrich, Dr. phil. Dr. rer. med., Jg. 1976, Soziologe/Kulturwissenschaftler, Senior Researcher, Technische Universität Berlin (Zentrum Technik und Gesellschaft & Zentrum für Antisemitismusforschung), ullrich@ztg.tu-berlin.de, Twitter @textrecycling.