Atomwaffenfreie Zone in Lateinamerika

Was hat der Vertrag von Tlatelolco über eine Kernwaffenfreie Zone in Lateinamerika mit dem Ukraine-Krieg zu tun?

von Raina Zimmering
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Die 55 Jahre des Bestehens des Vertrages von Tlatelolco über eine Kernwaffenfreie Zone in Lateinamerika waren ein großer Erfolg für den Kontinent. Das erste Mal wurde auf besiedeltem Gebiet solch ein Vertrag geschlossen. Er wurde zur Initialzündung für weitere atomwaffenfreie Zonen im Südpazifik, in Südostasien, in Afrika und in Zentralasien, so dass heute mit wenigen Ausnahmen der „Globale Süden“ atomwaffenfrei ist. Er kann ebenfalls als Vorgänger großer internationaler Verträge wie des Atomwaffensperrvertrages (NPT) von 1970, der Proklamation der „Zone des Friedens in Lateinamerika und der Karibik“ 2014, des Atomwaffenverbotsvertrages, der 2017 in New York verabschiedet wurde und 2021 in Kraft trat, betrachtet werden. Er setzt der weltweiten Ausweitung des Ukraine-Konfliktes auf Lateinamerika lebenssichernde Grenzen.

Der Vertrag von Tlatelolco stand immer wieder großen Herausforderungen durch seine Mitgliedsstaaten gegenüber, doch stellen die gegenwärtige internationale Instabilität, der neue Kalte Krieg zwischen den USA und China/Russland und der Ukraine-Krieg eine noch nie da gewesene Bewährungsprobe dar. Der Anlass für den Abschluss des Vertrages war die Kubakrise 1961/62 und sollte für alle Zukunft eine ähnlich gefährliche Situation für Lateinamerika und die Welt verhindern. Da der gegenwärtige Ukraine-Krieg ein noch größeres Konfliktpotential wie die damalige Kubakrise aufweist, kommt auf Lateinamerika trotz seiner geographischen Entfernung zur Ukraine durch die Globalisierung regionaler Kriege eine neue Herausforderung zu.

Der Vertrag verbietet den Besitz, die Produktion, das Testen und das Stationieren von Atomwaffen in Lateinamerika und der Karibik. Er wurde am 14. Februar 1967 in Tlatelolco, einem Stadtteil von Mexiko-Stadt, unterzeichnet und ist am 25. April 1969 in Kraft getreten. (1) Alle 33 lateinamerikanischen und karibischen Staaten haben den Vertrag ratifiziert, Kuba als letztes 2002. In zwei Zusatzvereinbarungen regelt der Vertrag die Rechte und Pflichten von Drittstaaten. In der ersten werden die Besitzer von Überseeterritorien in der Region, die USA, Großbritannien und die Niederlande, verpflichtet, sich an den Vertrag zu halten. In der zweiten wird den Atommächten USA, Frankreich, Großbritannien, China und Russland verboten, den Vertrag zu verletzen. Alle Länder der Zusatzvereinbarungen haben diese ratifiziert. Das ist wichtig in Hinblick darauf, dass die Atommächte, die Nichtmitglieder des Atomwaffenverbotsvertrags sind, durch die Zusatzprotokolle daran gehindert werden sollen, Atomwaffen in Lateinamerika anzuwenden. Alle Mitglieder des Vertrages treffen sich alle zwei Jahre zur Generalversammlung, die Beschlüsse zur Umsetzung und Kontrolle des Vertrages fällt.

Die Realisierung des Vertrages war und ist bis heute keine Selbstverständlichkeit. Zuerst ratifizierten nur Mexiko und El Salvador den Vertrag, bis weitere lateinamerikanische Staaten hinzukamen. In den 1970er und 80er Jahren verhinderten die Militärdiktaturen in Argentinien und Brasilien durch Vorbehalte die Realisierung des Vertrages und traten erst in den 1990er Jahren vollständig dem Vertrag bei. (2) Infolge des Vertrauensverlustes Kubas in die Einhaltung des Völkerrechts durch die westlichen Staaten, die das Land einer völkerrechtswidrigen Blockade unterziehen, des Ausschlusses aus der Organisation Amerikanischer Staaten und der Besetzung Guantanamos` durch die USA, unterzeichnete Kuba den Vertrag erst 1995 und ratifizierte ihn 2002 nach Veränderung der weltpolitischen Lage. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Vertrauen in den internationalen Beziehungen eine Voraussetzung für die Einrichtung atomwaffenfreier Zonen bildet.
Eine eklatante Verletzung des Vertrages fand 1982 während des Malwinen-Krieges statt, als britische Kriegsschiffe Atomwaffen mit sich führten. (3) Die ganze Dimension der Verbringung von Atomwaffen mit hohem Zerstörungspotential in den Geltungsbereich des Vertrages von Tlatelolco wurde erst durch die Freigabe der Archivakten der Thatcher-Regierung am 03.01.2022 deutlich. Dabei kam heraus, dass die britischen Flugzeugträger HMS Hermes 18, Invincible 12 und das Tenderschiff Real Regent eine, insgesamt 31 atomare Wasserstoffbomben mit sich führten. (4) Abgesehen von der Verletzung des von Großbritannien ratifizierten Vertrages hätte das fahrlässige Handeln der britischen Streitkräfte in diesem Krieg zu einer atomaren Katastrophe führen können, wenn die Bombardierungen britischer Kriegsschiffe durch die argentinische Luftwaffe die mit atomaren Waffen mit sehr großer Zerstörungskraft bestückten Flugzeugträger oder das Tenderschiff getroffen hätten. Außerdem hätte es zum Austritt radioaktiven Materials durch die Beschädigungen des Tenderschiffes kommen können.

Die argentinische Regierung protestierte sofort nach Bekanntwerden der Akten im Januar 2022 gegen das Verhalten der britischen Regierung und insbesondere gegen die Weihnachtsbotschaft von Premier Boris Johnson, in der er die Kriegsmacht Großbritanniens im Malwinen-Krieg rühmte, obwohl ihm o.g. Vorfälle bekannt gewesen sein mussten. (5) Auch die USA, zumindest sein militärischer Aufklärungsdienst, hätte während des Malwinenkrieges über die britischen Atomwaffen Bescheid wissen müssen. Trotzdem unterstützten die USA die britische Kriegsaktion mit Militäraufklärung (6), was ihre Vertragsbindung verletzte.

Vertrauenswürdigkeit des Westens
Zur gleichen Zeit des Bekanntwerdens des Vertragsbruches durch Großbritannien, aber vor dem Ukraine-Krieg, reiste der argentinische Präsident Alberto Fernandez nach Russland und China. In Russland machte er das folgenschwere Angebot, als „Tor für Russland zu Lateinamerika“ dienen zu wollen. Für den Vertrag von Tlatelolco ist besonders die Versicherung Russlands und Chinas wirkungsträchtig, den Rechtsanspruch Argentiniens auf die Malwinen zu unterstützen. In China wurde zudem mit Argentinien die Vereinbarung getroffen, das Land in die chinesische „Seidenstraße“ einzubeziehen. Die britische Außenministerin Liz Truss twitterte sofort zu dieser Vereinbarung, dass „China die Souveränität der Falklandinseln respektieren muss“. (7)

Die Enthüllungen über die Verletzung des Vertrages von Tlatelolco durch Großbritannien sind ein schwerer Schlag gegen das gegenseitige Vertrauen aller beteiligten Seiten und lassen sich auf andere regionale Konflikte mit geostrategischer Dimension, wie dem Ukraine-Krieg, übertragen. Damit wird nicht nur die Glaubwürdigkeit Russlands, sondern auch die Glaubwürdigkeit Großbritanniens und der USA im Ukraine-Krieg in Frage gestellt.

Man muss den Initiatoren des Vertrages von Tlatelolco einen großen Weitblick bescheinigen, die vor 55 Jahren Sicherheitsgarantien schufen, die heute wieder so wichtig sind. Der Vertrag hat die lateinamerikanischen und karibischen Staaten bisher vor einem atomaren Krieg bewahrt, ist aber keine generelle Garantie dafür, wie das der Bruch des Vertrages durch Großbritannien zeigt. In dieser Hinsicht kann man schlussfolgern, dass auch Nichtatommächte innerhalb atomwaffenfreier Zonen trotz Sicherheitsgarantien der Atommächte in einen Konflikt mit Atomwaffen hineingezogen werden könnten und nur das allgemeine weltumfassende Verbot von Atomwaffen und deren Abschaffung zu einer wirklich atomwaffenfreien Welt führen kann. Der Krieg in der Ukraine und deren Begehrlichkeiten nach Atomwaffen, die Versetzung des militärischen Abschreckungsarsenals durch die russische Regierung in Alarmbereitschaft und die Ideen für eine „nukleare Option der Europäer“ (Münkler) (8) lassen atomwaffenfreie Zonen zu einem äußerst wichtigen Eindämmungsinstrument gegen die Gefahr eines Atomkrieges und die Bewahrung der Souveränität und Integrität von Ländern werden, die der atomaren Kapazität von Großmächten nichts entgegenzusetzen haben. Der britische Bruch mit dem Vertrag von Tlatelolco, die Fragilität von atomwaffenfreien Zonen und die neuen atomaren Gefahren sollten nun die Länder des „globalen Südens“ neu zusammenschließen, um vor allem ihren atomwaffenfreien Status zu verteidigen.

Durch den Krieg in der Ukraine gerät die ganze Welt, auch die lateinamerikanische, aus dem Gleichgewicht und es wird umso notwendiger, solche Verträge wie den Vertrag von Tlatelolco zu Sicherheitsräumen der internationalen Politik zu machen.

Anmerkungen
1 IAEA, International Atomic Energy Agency: Treaty for the Prohibition of Nuclear Weapons in Latin America (Tlatelolco Treaty). Reproduced from United Nations document A/6663. https://www.iaea.org/publications/documents/treaties/treaty-prohibition-.... downloaded 9.2.2022
2 Zimmering, Raina und Stefan Wilhelm: Konzeptionelle Grundlagen und Positionen ausgewählter lateinamerikanischer Staaten zur regionalen und internationalen Sicherheit. In: Asien, Afrika, Lateinamerika, 1989-01-01, Bd.17 (6), S.1041 ff.
3 Evans, Rob and David Light: Falklands warships carried nuclear weapons, MoD admits. In: The Guardian, 06.12.2003. https://www.theguardian.com/politics/2003/dec/06/military.freedomofinfor.... downloaded 10.02.2022
4 Revelan que Gran Britaña movolizó armas nucleares durante la Guerra de Malvinas. En: Página 12, 05.01.2022. https://www.pagina12.com.ar/393334-revelan-que-gran-bretana-movilizo-arm.... Downloaded 10.02.2022.
5 Carmona aseguró que ya se sabía que el Reino Unido llevó armas nucleares a Malvinas. In Memo, Política, Economia y Poder. 05.01.2022. https://www.memo.com.ar/poder/carmona-malvinas-armas-nucleares/. Downloaded 10.02.2022.
6 Borger, Sebastian: Amerikas Verbanquespiel im Südatlantik. In: Spiegel.de, 03.04.2012. https://www.spiegel.de/geschichte/falkland-krieg-a-947542.html. Downloaded 18.02.2022
7 Truss says Falklands part of ‘British family’ after China backs Argentina. In: The Guardian, 07.02.2022.
https://www.theguardian.com/uk-news/2022/feb/07/truss-says-falklands-par.... downloaded 10.02.2022
8 Politologe Münkler für „nukleare Option der Europäer“ –unabhängig von den USA. In: RND vom 28.02.2022. https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-atomwaffen-in-eu-politologe-her.... downloaded 28.02.2022

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege
Univ.-Prof. Dr. habil. Raina Zimmering ist Historikerin, Politologin, Soziologin, Lateinamerikanistin und Senior Research Fellow am Institut für Internationale Politik (IIP).