"Die da oben" - "Die da unten" und die Jugend in Germersheim im Dialog

Wegweisende Zivile Konfliktbearbeitung mit Therapie Sociale

von Gudrun Knittel

Jugendliche und Erwachsene, Deutsche, Türkinnen und Aussiedlerinnen suchten gemeinsam nach Wegen für das Zusammenleben. Das Thema „Jung sein in Germersheim - Chancen und Gefahren" hatte von April bis September 2004 „Die da oben" und „Die da unten" in einem gemeinsamen Projekt gelebter Demokratie zusammengebracht. Neben der Schaffung von Kontakten untereinander und dem Abbau von Vorurteilen, ging es u.a, um Angebote für Jugendliche und Lernbedingungen an Schulen. Am 30. November 2004 stellte die Rojzman-Gruppe vor gut 100 Bürgerinnen ihre Ergebnisse vor. Außergewöhnlich bei dieser Veranstaltung war allein schon, wer auf dem Podium saß, wer gekommen war und die lebendige Atmosphäre.

Hintergrund: In Germersheim (Rheinland Pfalz) sind mehr als ein Drittel der Einwohnerinnen nicht als Deutsche in Deutschland geboren und aufgewachsen. Innerhalb von 10 Jahren ist die Stadt von 8.000 Einwohnerlnnen auf 22.000 angewachsen, mit einem Anteil von ca.11 %Aussiedlerinnen und ca.25% Ausländerinnen.
Die sogenannte Pilotgruppe bestand aus sechs führenden Persönlichkeiten. Neben den Beigeordneten der Stadt und des Kreises war z.B. die Leitung der Polizei beteiligt. Sie hatten den Auftrag für das Projekt gegeben. Für die Kooperationsgruppe konnten sechs Jugendliche, einige Eltern, ein türkischer Fußballtrainer sowie sechs Mitarbeiterinnen verschiedener Institutionen gewonnen werden. Das Altersspektrum reichte von 15 bis über 50 Jahre, das Geschlechterverhältnis war ausgewogen, die kulturellen Hintergründe unterschiedlich.

Ein Anfang für wirkliche Begegnung und öffentlichen Dialog
Alteingesessene Germersheimer, Jugendliche, Aussiedlerinnen, türkische Eltern, Lehrerinnen und Entscheidungsträger der Stadt und des Kreises zeigten aktives Interesse aneinander. Die Rahmenbedingungen stimmen! Was war passiert?
Im Publikum saßen sehr viele Eltern deutscher, russischer und türkischer Herkunft, als Ehrengäste in der ersten Reihe fanden sich die städtischen Auftraggeber des Projektes. Auch viele Jugendliche waren an diesem Abend in die Musikschule gekommen. Es entstand ein lebhaftes Gespräch. Konfrontative und leidenschaftliche Fragen führten zu neuen Ideen und Verabredungen. Es war spürbar, bei vielen Anwesenden gab es den tiefen Wunsch, in Germersheim lebenswerte Bedingungen zu schaffen, in denen sich alle sicher und zuhause fühlen können.
So manche heftigere Äußerung oder Rückfrage machte deutlich, dass vieles im Argen liegt und dass der Druck und die Sorge groß sind. Die innere Beteiligung war mit Händen greifbar. Statt einem Gegeneinander und einem Besserwissen entstand eine Atmosphäre, die Fragen, Begegnen und Verstehen ermöglichte: Es ging darum, gemeinsam Lösungen für die Probleme des Zusammenlebens zu finden und daran so viele wie möglich zu beteiligen.
„Warum kommen die ausländischen Eltern nicht zum Elternabend?! raunzte ein engagierter Lehrer aus dem Publikum. ,,Ja, warum denn wohl?" konterte die hoch engagiertere türkische Mutter vom Podium. Ja, warum waren zu dieser Veranstaltung so viele gekommen, und woanders so wenige?
Irgendetwas war anders bei diesem Treffen. – Es folgte die raubeinige Einladung an die Frau mit dem Kopftuch, dem Kollegium auf die Sprünge zu helfen - und sie nahm an.

,,Sprecht mit ihnen!"
Ob es um Vandalismus, Ruhestörung oder auch um Sprachbarrieren bei den türkischen Mitbürgern ging, immer wieder war die geduldige Aufforderung von Charles Rojzman gewesen – sprecht mit ihnen. Bereits im Februar 2002 hatte er die Therapie Sociale öffentlich in Germersheim vorgestellt. Im März 2004 war es dann soweit, Germersheim folgte den Beispielen aus Frankreich. Ein wichtiger Anfang des Mit-einander-Redens hatte begonnen, erst im geschützten Rahmen der Kooperationsgruppe und Pilotgruppe dann öffentlich: über Zukunftsaussichten, Gewalt und Diskriminierung: über Sorgen, Gefühle, Vorwürfe und Vorurteile. Die Probleme waren unverblümt auf den Tisch gekommen und viele konkrete Vorschläge entwickelt worden.

Rojzman Gruppe zeigte: Zusammenarbeit ist möglich! Vorurteile können abgebaut werden!
Die Vorstellung der Vorschläge und die Moderation des Abends lagen weitgehend in den Händen der sogenannten Kooperationsgruppe. Sie bestand aus einigen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft, einem russischen jungen Mann, einer alleinerziehenden Mutter, die sich im Elternrat engagiert, einer gläubigen türkischen Frau mit Kopftuch, einem Schulsozialarbeiter, der Frauengleichstellungsbeauftragten, einer stellvertretenden Schulleiterin und einem Pädagogen vom Internationalen Bund. Sie saßen in einer Reihe auf dem Podium, stellten sich gegenseitig vor, spielten sich die Bälle und das Mikrofon zu und bezogen auch das Publikum ein
Es war spürbar, dass hier eine höchst unterschiedliche Gruppe zusammengewachsen war mit dem starken Wunsch, in einen wirklichen Dialog zu kommen; weil ihnen die Jugend der Stadt sehr am Herzen lag. Sie wollten erfahren, wer im Publikum saß und was die Leute dachten. Ihr Wort, ihre Arbeit hatten Gewicht bekommen, und das tat ihnen sichtbar gut.

Wertschätzung durch öffentliche Würdigung der Anliegen und Vorschläge
Sie saßen stellvertretend für viele aus dem zahlreich gekommenen Publikum auf dem Podium. Dies war möglich geworden durch die Bereitschaft und den Mut von leitenden Persönlichkeiten der Stadt und des Kreises, die sich geöffnet hatten für einen demokratischen Dialogprozess. Diese Personen waren interessiert gewesen an den Erfahrungen und Vorschlägen aus der Bevölkerung, hatten das Projekt in Auftrag gegeben und sich selbst daran beteiligt. In diesem Rahmen war ausgewählt worden, welche Gruppen einbezogen werden sollten. Gemeinsam war das Thema bewusst so gewählt worden, dass sich alle eingeladen fühlen konnten, sich zu beteiligen.
Vom April bis September hatten in fünf jeweils zweitägigen Treffen etwa 15 jugendliche und erwachsene Germersheimer mit unterschiedlichem kulturellen sowie sozialen Hintergrund zum Thema „Jung sein in Germersheim - Chancen und Gefahren" gearbeitet. Sie hatten sich kennen gelernt, Erfahrungen ausgetauscht und sogenannte Zeuginnen eingeladen. Einmal lud die Gruppe Schülerlnnen ein, die über Diskriminierungserfahrungen berichteten, zweimal die Pilotgruppe. Die Rahmenbedingungen waren so gestaltet, dass viel Begegnung untereinander, auch Konfrontation, Fragen und Austausch möglich wurden. All das brauchte seine Zeit und vor allem erst mal die Bereitschaft. Die inhaltliche Richtung und auch die Art der Zusammenarbeit waren im wesentlichen aus der Gruppe erwachsen. Die Prozessbegleiter Stefan Maaß und Sherif Korodowou hatten mit Unterstützung von Kerstin Bunte den organisatorischen Rahmen gesetzt und die Gruppe dabei unterstützt, gemeinsam arbeitsfähig zu werden.

Glaubwürdige Politikerinnen - Bereitschaft zuzuhören und zu lernen
Allein dass es gelang, diese Projektbedingungen herzustellen, kann als wichtiges Ergebnis gefeiert werden. Beteiligt an dem langen Vorbereitungsweg hatten sich in der Pilotgruppe der Erste Beigeordnete der Stadt Germersheim, Martus Schaile, der Leiter des 18 Germersheim, Reinhard Werner, der Beigeordnete des Kreises für Jugend, Familie und Soziales, Rainer Strunk, die Agenda-Beauftragte der Stadt, Simone Nelles, der stellvertretende Leiter der Polizeiinspektion, Andreas Müller, und der Leiter des christlichen Jugenddienstes, Gerd Schmid. Finanziert wurde das Projekt aus EU-Mitteln.
Auch in dieser Gruppe galt es; Vorurteile ab- und Vertrauen aufzubauen, damit auch persönliche Sorgen und Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft der Stadt ausgesprochen werden konnten. Immerhin wollte niemand den guten Ruf der Stadt und auch ihrer Vertreterinnen gefährden. Es gab Kreis- und Stadtzuständigkeiten, verschiedene Parteizugehörigkeiten, professionelle Rollenbilder und verschiedene Interessen, so zum Beispiel auch den Wunsch, dass Germersheim nicht nur für die Jugendlichen und die Studentinnen attraktiver werden soll, sondern auch für den Tourismus.

Fazit und Ausblick
Alle sitzen in einem Boot und können eigentlich nur gewinnen beim gemeinsamen Bemühen um eine Stadt, die alle willkommen heißt. Dem Projekt ist zu wünschen, dass es Kreise zieht, Kreise von Hoffnung, dass sich Auswege zusammen finden lassen und es ein Engagement auf breiter Basis dazu gibt. Kollektives Engagement, kollektive Intelligenz und zirkulierende Information konnten in Germersheim entstehen, weil es im Rahmen der Therapie Sociale möglich war, Vorbehalte. Zweifel, Vorurteile, Ärger und Resignation auszusprechen. Die Beteiligten fühlten sich ernstgenommen und konnten deshalb gegenseitiges Vertrauen entwickeln.
Die Bereitschaft und der Mut zuzugeben, dass man leidet, dass man Unterstützung braucht, ist im Lauf dieses Projektes in Germersheim auf allen Seiten gewachsen. Statt der Übermacht der (finanziellen) Sachzwänge wurden Gestaltungsräume sichtbar. Ohnmacht und der Glaube, nichts Wesentliches beitragen zu können, wich der Zuversicht, dass hier ein Rahmen entstanden war, in dem es sich lohnte, sich aktiv zu beteiliqen.
Die Verantwortung für die Umsetzung der zahlreichen Vorschläge liegt nun bei der Pilotgruppe. Gleichzeitig ist in der Kooperat1onsgruppe das Bewusstsein gestiegen, dass auch sie selbst, Jugendliche, Eltern sowie Mitarbeiterlnnen von städtischen Institutionen, ihre eigene Verantwortung wahrnehmen müssen und dass die Möglichkeiten der Pilotgruppe begrenzt sind. Auf diese Weise konnte Ohnmacht, Resignation und Enttäuschung vorgebaut werden und eine realistische Einschätzung entstehen. Zusammen mit den Prozessbegleitern wurde vereinbart, nach einem Jahr ein gemein-sames Resüme zu ziehen. Und vielleicht nehmen ja auch christliche und moslemische Gemeinden den Vorschlag aus der Gruppe auf und bieten gemeinsame Veranstaltungen an, in denen Jugendliche erfahren können, was im Koran und in der Bibel zu Gewalt steht, wo sie sich über bewährte Wege der Konfliktlösung in ihrem Umfeld und ihre eigenen Vorschläge dazu austauschen können.
Integration durch Beteiligen, Zuhören statt Belehren
Nicht nur die Stadt Germersheim braucht die Mitarbeit, die Kreativität und die Intelligenz der Bevölkerung, um tragfähige Wege für die Zukunft zu finden. Die Jugendlichen und Zugezogenen, Alleinerziehenden, Menschen mit niedrigem Bildungsniveau, Alte und Arbeitslose sind ein wesentlicher Bestandteil- sie wollen einbezogen werden! Sprecht mit ihnen!

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Schwerpunkt
Gudrun Knittel, alleweltonair (www.alleweltonair.de), Trainerin für Konfliktbearbeitung Köln.