Europäische Union nach der Wahl

Welchen Kurs nimmt das neue Parlament in der Friedenspolitik?

von Christoph Bongard
Hintergrund
Hintergrund

Von einer Schicksalswahl für Europa war monatelang vor dem EU-weiten Urnengang Ende Mai die Rede. Vor allem von Seiten der großen Parteien wurde die Wahl auf eine Entscheidung zwischen proeuropäischen IntegrationsbefürworterInnen und nationalistischen AntieuropäerInnen zugespitzt. Der politische Streit darüber, welche Vorstellungen europäischer Integration die Parteien haben und welche Positionen sie in wichtigen Fragen der Innen- und Außenpolitik der EU vertreten, drohte in den Hintergrund zu rücken. Dabei gibt es unter den Parteien gerade in friedenspolitischen Fragen deutliche Unterschiede.

Es geht dabei aus friedenspolitischer Sicht um nicht weniger als die Frage, ob sich die Europäische Union weiter zur Militärmacht und Festung entwickelt oder auf den Weg als Friedensprojekt (zurück) findet: Ab 2021 sind Milliardeninvestitionen für die europäische Rüstungsindustrie, gemeinsame Militäreinsätze und noch mehr Grenzsicherung geplant. Dazu passend hat der scheidende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das Leitbild von einem „Europa, das schützt“ geprägt. Die Förderung von Frieden und Menschenrechten durch die EU droht hingegen der Abwehr von Migration und Flucht zum Opfer zu fallen.

Die Abgeordneten werden vor allem an zwei wichtigen Entscheidungen beteiligt sein, die maßgeblichen Einfluss auf den zukünftigen Charakter der EU haben werden: Die Besetzung der nächsten Europäischen Kommission und die Verabschiedung des EU-Finanzrahmens für die Jahre 2021 bis 2027.

Das neue Parlament – starkes Mandat schon verspielt?
Die im Vergleich zu vorangegangenen Wahlen hohe Wahlbeteiligung von mehr als 50 Prozent hat dem neuen Europäischen Parlament ein starkes Mandat gegeben. Das war zunächst eine hoffnungsvolle Nachricht, denn nur ein starkes Parlament kann gegenüber der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat, der Vertretung der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten, friedenspolitischen Anliegen in der europäischen Politik mehr Gehör verschaffen.

Doch einen guten Teil dieser Stärke hat das Parlament gleich wieder verspielt, weil keine beziehungsweise keiner der SpitzenkandidatInnen im Parlament eine Mehrheit für das Amt der Präsident/in der EU-Kommission hinter sich bringen konnte. Daraufhin zauberte der Rat ausgerechnet die bisherige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus dem Hut. Die Ernennung einer Verteidigungsministerin zur Kommissionspräsidentin hat fatale Signalwirkung für das Friedensprojekt Europa: Die Europäische Union setzt den Kurs der Militarisierung und Abschottung fort. Als Verteidigungsministerin hat sich Ursula von der Leyen nachdrücklich und mit Erfolg für eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben und eine europäische Verteidigungsunion eingesetzt. Und ihre Nachfolgerin im Amt, Annegret Kramp-Karrenbauer, fiel im Europawahlkampf vor allem mit der Forderung nach einem europäischen Flugzeugträger auf.

Mit diesen Wahlen haben sich zudem die Mehrheitsverhältnisse im Parlament deutlich verändert. Die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten (S&D) stellen erstmals weniger als die Hälfte der Abgeordneten. Sie sind nun auf die Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen angewiesen. Die Wahl von der Leyens wurde von der EVP, der S&D – mit Ausnahme der deutschen SPD-Abgeordneten – den erstarkten Liberalen und Teilen der rechtskonservativen Fraktion, der unter anderem die polnische Regierungspartei PiS angehört, unterstützt. Offen bleibt, obvon der Leyenbei der Bestätigung ihrer Kommissare durch das Parlament erneut auf die Stimmen der Rechtskonservativen setzt oder stärker auf die Grünen zugeht.

Spätestens mit Einsetzung der neuen EU-Kommission im November werden die Verhandlungen um den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen wieder Fahrt aufnehmen. Schon das alte Parlament hatte in ausgewählten Fragen Verbesserungen gegenüber dem Entwurf der damaligen Kommission gefordert, etwa bei den Mitteln für zivile Konfliktbearbeitung: Im März hatte sich eine Mehrheit der Abgeordneten auch auf Druck zivilgesellschaftlicher Organisationen für moderate Erhöhungen der Mittel ab 2021 ausgesprochen. Doch in Fragen einer Vertiefung der militärischen Zusammenarbeit gibt es einen breiten Konsens, so dass hier keine Kehrtwende zu erhoffen ist.

Kaum noch zu verhindern – Konjunkturprogramm für die europäische Rüstungsindustrie
Der Europäische Verteidigungsfonds soll mit 13 Milliarden Euro für Rüstungsforschung und die Entwicklung neuer Waffensysteme ausgestattet werden. KritikerInnen befürchten, dass dieses Konjunkturprogramm für die europäische Rüstungsindustrie zu noch mehr Waffenexporten in Drittstaaten führen wird und zudem den Charakter der EU als vorrangig ziviles Staatenbündnis weiter in Richtung einer Militärunion verschiebt.

Im Parlament stimmten im März die EVP, die ALDE (jetzt Renew Europe) und die Mehrheit der S&D für den Verteidigungsfonds. Nur die Grünen und die Linken stimmten geschlossen dagegen. Es erscheint wenig wahrscheinlich, dass mit den neuen Mehrheiten die Zustimmung zum Verteidigungsfonds noch einmal infrage gestellt wird.

Rüstungsexporte – europäische Zusammenarbeit der Friedensbewegung nötig
Beim Thema Rüstungsexporte haben auch EVP, Liberale und S&D hat das Parlament in der Vergangenheit  Kritik an der Praxis der Mitgliedsstaaten geübt: Im November 2018 verurteilte das Europäische Parlament mehrheitlich „die systematische Nicht-Anwendung der acht Kriterien (für Rüstungsexporte d. V.) durch die Mitgliedstaaten und die Tatsache, dass Militärtechnologie Bestimmungsorte und Endnutzer erreicht, die die im Gemeinsamen Standpunkt festgelegten Kriterien nicht erfüllen“. Leider kann das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten bislang bei Verstößen nicht sanktionieren, sondern nur die Einhaltung der Kriterien anmahnen.

Im Wahlkampf haben sich CDU, SPD, Grüne und FDP für verbindlichere europäische Richtlinien für Rüstungsexporte ausgesprochen. Das klingt erst einmal gut. Es wird allerdings darauf ankommen, dass die möglichen neuen Richtlinien tatsächlich zu einer restriktiveren Rüstungsexportpolitik führen und Verstöße sanktioniert werden können. Denn auch von anderer Seite, beispielsweise vom Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger, wird eine Harmonisierung europäischer Rüstungsexportrichtlinien gefordert, jedoch allem Anschein nach eher mit dem Ziel, die deutschen Rüstungsexportkriterien weiter aufzuweichen. Eine europäische Vernetzung der Friedensbewegung und gemeinsame Kampagnen gegen Rüstungsexporte bleiben wichtig, um auf europäischer Ebene Fortschritte zu erreichen und in Deutschland Rückschritte zu verhindern.

Werden Friedensförderung und Menschenrechte der Migrationskontrolle geopfert?
Das Thema Migration dominiert zunehmend die sicherheits- und entwicklungspolitische Agenda der EU. Dieser Trend wird auch im Vorschlag der EU-Kommission für den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen erkennbar. Eine Reihe bislang eigenständiger Instrumente zur Förderung von Frieden, Menschenrechten und Armutsbekämpfung sollen in einem neuen Instrument für Nachbarschaft, Entwicklung und internationale Kooperation zusammengefasst werden, dessen maßgebliches Ziel die Kontrolle von Migration sein soll.

Mit dem neuen Parlament wird dieser Trend vermutlich im Grundsatz nicht infrage gestellt. Trotzdem bleibt es möglich, im Einzelnen Verbesserungen im Sinne der Friedens- und Menschrechtsförderung durchzusetzen, wie etwa bei der klaren Positionierung des Parlaments im März für eine wenngleich moderate Mittelerhöhung für zivile Konfliktbearbeitung. Das war nur ein kleiner, aber dennoch wichtiger Erfolg. Denn für viele lokale zivilgesellschaftliche Friedens- und Menschenrechtsorganisationen ist die Europäische Union einer der wichtigsten Geldgeber.

Friedensorganisationen sollten die Verhandlungen um den Mehrjährigen Finanzrahmen aktiv verfolgen, um weitere Verbesserungen zu erreichen und Verschlechterungen zu verhindern. Eine weitere Gelegenheit bieten die Anhörungen des designierten Mitglieds der neuen Kommission für Entwicklung und internationale Zusammenarbeit sowie des Hohen Repräsentanten für Außenpolitik im Europäischen Parlament. Sie finden voraussichtlich im September und Oktober statt.

Den meisten Einfluss können Abgeordnete nicht über einzelne Entscheidungen ausüben, sondern indem sie bestimmte Themen zum Gegenstand der öffentlichen Debatte machen. Und das unabhängig davon, ob sie einer der neuen Mehrheitsfraktionen oder einer der anderen Fraktionen angehören. Als Friedensbewegung sollte es unser wichtigstes Anliegen sein, die Versicherheitlichung europäischer Politik immer wieder öffentlich zum Thema zu machen. Dafür müssen wir in den nächsten Monaten in möglichst vielen Fraktionen Partner gewinnen. Je europäischer wir dabei als Zivilgesellschaft auftreten, desto mehr Gehör werden wir auch im Parlament finden.

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Christoph Bongard ist Leiter der Abteilung Kommunikation des Forum Ziviler Friedensdienst e. V.