Einladung zum Mitdenken über Hintergründe und Interessen

Wenn alles anders gewesen wäre

von Roland Brunner
Schwerpunkt
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Die Verbrechen des serbischen Regimes und des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic sowie die systematische Vertreibungspolitik der Bevölkerung aus dem Kosovo müssen verurteilt werden. Aber was und wer steht wirklich hinter der serbischen Politik und hinter der Nato-Intervention?

Die AlbanerInnen im Kosovo fordern zu Recht, dass ihre Menschenrechte respektiert und ihre gesellschaftliche Gleichberechtigung akzeptiert werden. Die Nato droht, um Jugoslawiens Präsident Milosevic zu einer Unterschrift unter ein Friedensabkommen zu bringen. Nur der will nicht mitspielen und ist damit schuld an allem. Oder könnte alles auch anders (gewesen) sein? Die offizielle Geschichts- und Politikschreibung betont, dass im Herbst 1998 mit dem Abkommen zwischen Richard Holbrooke und Slobodan Milosevic die Voraussetzungen für eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts eigentlich gegeben waren. Die Stationierung einer OSZE-Beobachtermission (Kosovo Verification Mission KVM) sollte den Waffenstillstand, den Teilrückzug der jugoslawischen Einheiten, die Rückkehr der Vertriebenen und die Einhaltung der Menschenrechte überwachen. Das "window of opportunity", das bis zum Frühjahr 1999 offen schien, sollte für längerfristige Stabilisierung verwendet werden. Aber es kam alles ganz anders.

Nehmen wir einmal an
Nehmen wir einmal an, dass alles anders kam, weil einiges anders war. Machen wir ein Gedankenspiel. Überlegen wir, wie es auch gewesen sein könnte: Stellen wir uns vor, die Kosova-Befreiungsarmee UÇK wollte ihre Ziele durchsetzen, das heisst die Unabhängigkeit des Kosova erreichen, die Vorherrschaft des gewählten Präsidenten Ibrahim Rugova und seiner Demokratischen Liga des Kosova LDK brechen und sich selber zur tonangebenden Kraft und zur zukünftigen Regierung im Kosovo machen. Dieses Ziel, die Bereinigung des inner-albanischen Machtkampfes, wäre durchsetzbar gewesen. Die Eskalation zum Krieg und damit zur Nato-Intervention würde die radikalen Kräfte stärken und damit die Machtergreifung ermöglichen. Stellen wir uns vor, dass die USA gar kein Interesse hatten an einer multiethnischen Lösung des Kosovo-Konflikts, die den Kosoo im Staatsverbund der Bundesrepublik Jugoslawien belassen würde, sondern ihr Ziele wäre "Stabilität" in der Region durch ein Gleichgewicht der Kräfte. Wie in Bosnien "erfolgreich" praktiziert, würde sie dazu auf die Schaffung ethnisch definierter und kontrollier territorialer Einheiten zurückgreifen, weil die militärisch gegeneinander abgrenzbar und damit politisch kontrollierbarer sind. Stellen wir uns weiter vor, dass die Nato (und darin wieder vor allem die tonangebenden USA) kein Interesse an einer politischen, d.h. gewaltfreien Beilegung des Konflikts hatte, weil es ihr in erster Linie um die Neulegitimierung ihrer Existenz als Militärallianz ging. Nehmen wir an, sie wollte aus strategischen Überlegungen eine Präsenz im Balkan erreichen, wusste aber, dass sie dies nie mit Einverständnis von Milosevic erreichen würde. Nehmen wir weiter an, Milosevic wusste sehr genau, welches Spiel die UÇK und die Nato spielten: Er wusste, dass er den Kosovo faktisch verloren hatte, ihn aber nie ohne Krieg abgeben könnte, weil er sonst seine eigene Macht untergraben würde. Er wusste, dass ein Kriegsgang ihn vom Problem Kosovo von der oppositionellen Regierung Djukanovic in Montenegro und von der Opposition in Serbien selber befreien würde. Stellen wir uns einmal vor, das sei alles so gewesen, was dann? Dann hätten sich alle genau so verhalten, wie sie sich wirklich verhalten haben: Die UCK hätte die Gebiete, welche die serbischen Einhen nach dem Oktober-Abkommen räumten, sofort wieder besetzt, sie hätte das Waffenstillstandsabkommen mit kleinen militärischen Provokationen durchlöchert, sie hätte in den Verhandlungen von Rambouillet und Paris mit sich selber gerungen und schliesslich das Abkommen unterschrieben. Die USA und die Nato hätten die Stationierung der OSZE und ihre Arbeit hintertrieben (es dauerte Monate, bis endlich auch nur die Hälfte der geplanten Beobachter vor Ort waren ohne griffiges Mandat und ohne vermittelnden Auftrag), sie hätten für die Verhandlungen in Rambouillet und Paris einen Text vorgelegt, von dem sie wussten, dass er für Jugoslawiens Machthaber nicht annehmbar ist, sie hätten die Vertreter der Kosovo-Albaner zur Unterschrift gedrängt, um Milosevic als Schuldigen hinstellen zu können und damit den Weg freizumachen für eine Militärintervention. Und auch Milosevic hätte genau das getan, was er wirklich getan hat: Widerstand gegen die grösste Militärmacht der Welt markieren, skrupellos Hunderttausende Menschen aus dem Kosov@ vertreiben, unabhängige Medien und oppositionelle Kräfte ausschalten, Montenegro unter politischen und militärischen Druck stellen.
 

Eine "hidden agenda"?
Und wenn es so gewesen wäre, wie uns weisgemacht wird? Dann haben alle Akteure sträflich dumm gehandelt, denn dann hätte die UÇK den Dialog und Kompromiss mit Rugovas LDK und mit den serbischen und montenegrinischen Kräften suchen müssen, die Hand boten zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts. Dann hätte die Nato - statt freie Hand für Bombendrohungen zu erhalten - von der Uno und der OSZE kontrolliert werden müssen, um ein politisches Konzept durchzusetzen, das allenfalls militärisch zu begleiten gewesen wäre. Dann hätten die USA und die Nato in den Verhandlungen von Rambouillet und Paris nicht einseitig auf die UÇK und ihren aus dem Nichts aufgetauchten neuen Führer Hashim Taçi gesetzt, sondern schon seit langem die Forderungen von Ibrahim Rugova ernst genommen und in politisches Handeln umgesetzt. Dann wären die Uno und die OSZE gestärkt worden, statt sie mit unklarem Mandat und ohne gesicherte Finanzierung in ein absehbares Desaster laufen zu lassen. Dann wären demokratische Projekte und Organisationen, unabhängige Medien und die serbische Opposition konsequent unterstützt worden, wäre politisch Druck gemacht worden für eine gesellschaftliche Front aus serbischem Widerstand, montenegrinischer Regierung und demokratischen, verständigungsorientierten Kräften im Kosovo, um eine Alternative zur Herrschaft von Slobodan Milosevic aufzubauen. Alles nur wirre Vorstellungen, wilde Spekulation, zynische Verschwörungstheorien und dumme Gedankenspiele von Wenns und Abers? Vielleicht. Aber entweder haben sich durch den wirklichen Verlauf der Ereignisse alle Akteure in ihrer grenzenlosen Dummheit offenbart, weil sie immer das Gegenteil dessen erreichen, was sie als Ziele deklarieren, oder es gab tatsächlich eine "hidden agenda", eine versteckte Zielsetzung hinter der offiziell präsentierten Version. Wer weiss. Die grauenvolle Realität der serbischen Vertreibungen, der Nato-Bombardierungen und der UÇK-Aktivitäten deuten leider darauf hin. Den Preis für diese zynische Politik bezahlen einmal mehr die unterdrückten, bedrohten, missbrauchten, vertriebenen, getöteten, um ihre Hoffnungen und um ihre Zukunft gebrachten Menschen, vor allem die Albanerlnnen aus dem Kosov@, aber auch SerbInnen, UngarInnen, MontenegrinerInnen, KroatInnen, Roma, Muslime aus Belgrad, Nis, Novi Sad, Valjevo, Novi Pazar, Podgorica und all den anderen Städten in Serbien, in der Vojvodina, im Sandzak, in Montenegro, die Menschen in Mazedonien und in Albanien, die unter dem Flüchtlingselend leiden, die Menschen in Ungarn, Bulgarien, Rumänien und den anderen Ländern der Region, die den Preis für die wirtschaftlichen Kosten dieses Krieges werden bezahlen müssen, die Menschen, die keine Chance haben, ihre Interessen auf der Bühne der Weltpolitik einzubringen und durchzusetzen. Aber wer interessiert sich in der Politik schon wirklich für diese Menschen.

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Roland Brunner, arbeitet seit Anfang der 90er-Jahre in der Region des ehemaligen Jugoslawien. Neben seiner journalistischen Arbeit engagiert er sich dabei in der Unterstützung für Friedensinitiativen und unabhängige Medien. Seit Frühjahr 2000 ist er auch Geschäftsführer der Medienhilfe (http://www.medienhilfe.ch).