Bewegung_Forschung_Praxis

Wenn Lücken zu Brücken werden

von Elise KopperChristine BuchwaldSebastian Grieser

Die deutsche Friedensszene, so wie wir, die Autor_innen, sie heute wahrnehmen, ist in vielerlei Hinsicht geprägt von Gräben zwischen Friedensbewegung, -forschung und -praxis. Man trifft sich (zu) selten, kommuniziert (zu) sporadisch miteinander, nimmt sich gegenseitig (zu) wenig ernst oder arbeitet gar bewusst oder unbewusst gegeneinander. In unserem Beitrag stellen wir eine Möglichkeit vor, wie diese Gräben im Kleinen und an der Basis überwunden und als Verbindungsbrücken umgedeutet werden können. Wir beschreiben eine nicht neue, aber vielleicht zu wenig genutzte Form der Zusammenarbeit: Eine interdisziplinäre und transgenerationale Arbeitsgruppe an den Schnittstellen von Bewegung, Forschung und Praxis. Mit Hilfe solcher Formen gemeinsamen Arbeitens kann die Friedensszene unserer Ansicht nach ihre Vielfalt (noch) kooperativer und konstruktiver als bisher einsetzen, um dem gemeinsamen Ziel, einer Friedenskultur, näher zu kommen.

Soziale Bewegungen wie die Friedens- oder auch die feministische Bewegung teilen mit kritischen Forschungsansätzen wie der Friedens- und Konfliktforschung und den Gender Studies ein und dieselbe Wurzel: Beide stellen gesellschaftliche Strukturen und Paradigmen in Frage und zielen auf eine (positive) Veränderung der Gesellschaft ab. Trotzdem scheinen sich Bewegung und Forschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten voneinander entfernt zu haben. Noch seltener als feministische Bewegungen bezieht sich die Friedensbewegung auf aktuelle Forschungsergebnisse der deutschen und internationalen Friedensforschung, nur vereinzelt schließen sich (Friedens‑)Wissenschaftler_innen den Protesten der Friedensbewegung an, nur oberflächlich sind viele Friedensbewegte mit der Praxis der professionellen Friedensarbeit z.B. im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes vertraut. Genauso haben viele Friedensarbeiter_innen und ‑Wissenschaftler_innen kaum (noch) Bindung an die Themen und Ziele der Bewegung oder Interesse daran, sich ehrenamtlich in deren Strukturen zu engagieren. Wir möchten dafür plädieren, gefühlte oder real existierende Trennungslinien innerhalb der Friedensszene zu überwinden, verschiedene Herangehensweisen und Hintergründe als Chance zu begreifen und die Lücken zwischen Bewegung_Forschung_Praxis, die wir hier mit dem auch als Gender Gap genutzten Unterstrich (1) symbolisieren wollen, nicht als Gräben, sondern als Brücken zu begreifen.

Dieser Brückenschlag muss nicht zwangsläufig institutionalisiert sein und kann auch auf unkonventionellen Wegen erfolgen. Eine Möglichkeit zur Vernetzung bilden thematische Arbeitsgruppen an den Schnittstellen der drei Bereiche, die Menschen aus Bewegung_Forschung_Praxis zusammenbringen. Ein gelungenes Beispiel dafür ist unserer Meinung nach die Arbeitsgruppe Gender & Frieden im Bund für Soziale Verteidigung (BSV). Einige ihrer Arbeitsprinzipien möchten wir im Folgenden vorstellen. Unsere AG versteht sich als Ort, an dem Themen wie z.B. militarisierte Männlichkeit, sexualisierte Kriegsgewalt oder strukturelle Gewalt in patriarchal geprägten Systemen fachlich diskutiert, bearbeitet und nach außen getragen werden sollen. Damit möchten wir sowohl die Diskussion in der Friedensszene bereichern, als auch zur Verbesserung der praktischen Friedensarbeit im In- und Ausland beitragen. In unserer AG gibt es Personen aus unterschiedlichen universitären Zusammenhängen und Disziplinen, Personen, die sich mit Frieden ehrenamtlich und/oder hauptberuflich auseinandersetzen und zum Teil institutionell angebunden sind, Menschen aus vier verschiedenen Generationen sowie Friedens- und Frauenbewegte, ‑Forschende und -Praktiker_innen. In dieser heterogenen Zusammensetzung verstehen wir uns als Bindeglied zwischen Bewegung, praktischer Friedens- und Genderarbeit und Forschung. Was uns eint, ist neben dem Interesse am Thema der Wunsch nach Gesellschaftsveränderung: Sowohl in unserem privaten Umfeld als auch in unseren Friedensorganisationen, unseren professionellen Kontexten und in der praktischen Friedensarbeit.

Verschiedene Punkte scheinen uns für eine produktive und erkenntnisreiche Zusammenarbeit in einer solchen Gruppe zentral. Zunächst braucht es einen Grundkonsens. In unserem Falle besteht dieser darin, dass das Zusammendenken von Gender und Frieden für ein Verständnis beider Themen zentral ist. Auch der Anspruch, Gesellschaftskritik zu üben und Gesellschaftsveränderung anzustreben, gehört bei uns zum expliziten Grundkonsens. Dieser ermöglicht uns einen offenen und interessierten Umgang miteinander, ohne die Angst, gleich auf Abwehrmuster und Unverständnis zu stoßen. Die Zusammenarbeit in der AG stärkt uns und trägt zum Abbau des teilweise jahrelang aufgestauten Frusts über kontinuierlich erlebte Widerstände bei.

Aufgrund unserer heterogenen Zusammensetzung und unseres Arbeitskontextes als freie/ehrenamtliche AG stehen wir weder beruflich noch persönlich in direkter Konkurrenz zueinander, was ernstgemeintes Feedback ermöglicht und Potentiale freisetzt. In unserer Zusammenarbeit reflektieren wir internalisierte gesellschaftliche Muster und Macht- und Gewaltverhältnisse und bemühen uns um einen hierarchiefreien Umgang miteinander, unabhängig von z.B. akademischen Titeln oder einem „Vorsprung“ an Lebenserfahrung. Ein offener, undogmatischer Umgang mit Definitionen und Bedeutungen gehört dazu. Weil wir uns gegenseitig als Expert_innen für unsere besonderen Sichtweisen wahrnehmen und wertschätzen, vermeiden wir Diskussionen über richtige oder falsche Begriffe, Werkzeuge, Strategien etc. Dies erlaubt uns, unsere Ideen und Meinungen offener in die Diskussionen einzubringen.

Eine möglichst gewaltfreie Kommunikationskultur ist für uns selbstverständlich und schafft einen Schutzraum für vertrauensvolle Kommunikation, in der das eigene Handeln reflektiert und über Privates geredet werden kann. Gerade bei Querschnitts- und biographischen Themen wie Gender und Frieden, die uns immer auch persönlich betreffen, braucht es einen solchen Raum, in dem wir uns öffnen können. Dies kann gerade für Menschen, die Friedensthemen eher distanziert und pragmatisch und weniger emotional und normativ angehen, eine Herausforderung sein. Für unsere Art der Kommunikation spielt auch Humor eine große Rolle. Durch ihn schaffen wir es, auch mit schwierigen Themen und unangenehmen Situationen entlastend und konstruktiv umzugehen und Wut oder Empörung zu transformieren.

Last but not least möchten wir einen Punkt hervorheben, der uns insbesondere für das Verhältnis zwischen Friedensbewegung und -forschung und unserem Plädoyer für einen Brückenschlag zwischen diesen wichtig erscheint: Die Notwendigkeit eines erweiterten Wissensverständnisses. In der AG gibt es das Bedürfnis nach Wissensaustausch in Form von Wissensaufnahme und -weitergabe. Jede_r trägt auf seine_ihre Weise mit dem eigenen Wissen zur Wissenserweiterung der anderen bei. Dies vermeidet eine von einzelnen Personen dominierte und damit einseitige und hierarchische Wissensweitergabe. Grundvoraussetzung dafür ist ein erweitertes Verständnis von "Wissen" als solchem. Neben dem theoretischen, fachlichen Wissen erfahren das Praxiswissen sowie das lebensgeschichtliche und Erfahrungswissen dieselbe Wertschätzung und Bedeutung. Die Vielfalt der Gruppe, z.B. in Bezug auf Zugänge, Schwerpunkte und Alter, empfinden wir gerade in dieser Hinsicht als große Bereicherung. Durch das uneingeschränkte Angebot der verschiedenen Wissensformen sind neue Gedankengänge und damit neue Wissensproduktionen möglich. Das geteilte Wissen kann in die unterschiedlichen Arbeits-, Lebens- und Wissenschaftskontexte getragen und dort - sowohl privat als auch beruflich - genutzt werden. Insbesondere durch die Berührung mit Inhalten, die den jeweiligen Personen aufgrund der fachlichen Ausrichtung oder der eigenen Lebensumstände verschlossen bleiben, werden so neue Perspektiven auf die eigenen Beschäftigungsfelder möglich.

Wir haben in den letzten drei Jahren seit Gründung der AG erfahren, dass sich aus unserer Zusammenarbeit völlig neue Bündnisse und Allianzen ergeben können und dass uns der Rückhalt der Gruppe sowohl im persönlichen als auch im beruflichen und universitären Kontext weiterhilft und stärkt. Auch der BSV, unsere Trägerorganisation, hat sich in dieser Zeit und durch unsere Arbeit verändert. Eine Gender-Policy ist in Arbeit, wir werden als AG um Rat in Gender-Fragen gebeten und wir schauen mit einer konstruktiven Gender-Brille auf die Veröffentlichungen und Projekte des BSV. Unserer Meinung nach kann auch bei anderen gesellschaftlich relevanten Querschnittsthemen wie Rassismus, Altersdiskriminierung und Ableism (2) ein interdisziplinärer, transgenerationaler und Praxis und Forschung verbindender Blick etablierte Friedensinstitutionen dabei unterstützen, sich diesen Themen zu nähern.

Die Arbeit unserer AG ist natürlich nur ein Beispiel für eine mögliche Form der Kooperation innerhalb der Friedensszene. Wir hoffen, dass wir mit diesem Beitrag Menschen aus der Friedensszene dazu ermutigen können, selbst (noch mehr) den Dialog miteinander zu suchen und Brücken zu bauen: Zwischen Forschenden und Praktiker_innen, Jüngeren und Älteren, Sozialwissenschaftler_innen und Naturwissenschaftler_innen, Männern und Frauen, usw. Mögliche Vorbehalte der Gruppen untereinander können sich auf diese Weise auflösen. So werden die Kräfte innerhalb der relativ kleinen Friedensszene zusammengeführt und gebündelt. Wir glauben an die Chancen dieser Zusammenarbeit, die sowohl uns selbst als auch unsere Friedensarbeit stärkt, die die Friedensbewegung und die Friedensforschung dynamisch hält - und nicht zuletzt eine Menge Spaß bringen kann.

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Hintergrund
Mitglied des Vorstands im Bund für Soziale Verteidigung e.V., Geschäftsführerin beim Frauennetzwerk für Frieden e.V. und Referentin für Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit bei erlassjahr.de - Entwicklung braucht Entschuldung e.V.