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Wider den Teufelskreis ethnonationalistischer Gewalt
vonMit dem Ende des Ost-West-Konfliktes in Europa sind alte, jahrzehntelang unterdrückt gehaltene ethnonationalistischer Konflikte wieder an die Oberfläche gekommen. Die Sowjetunion in all ihren Teilen, Südosteuropa und der Balkan sind von dieser Erfahrung besonders betroffen. Aber auch andernorts in Europa scheint sich die ethnonationalistische Konfliktproblematik zuzuspitzen.
Was aus begrenzten Erfahrungen im westeuropäischen Zusammenhang (Nordirland, Baskenland, Korsika, usf.) einigermaßen vertraut ist und was in der "Dritten Welt" zum politischen Alltag gehört, nämlich Separatismus, Minderheitenkonflikte, Anti-Regimekriege und vergleichbare Erscheinung, wird nunmehr zu einem unausweichlichen Problem für das gesamte Europa. Ein Krieg, wie er in den vergangenen Jahrzehnten in Europa befürchtet wurde, droht in Europa nicht mehr. Aber es kann doch kein Zweifel bestehen, da· eine neue Friedens- und Sicherheitsstruktur in diesem Europa nur erreichbar sein wird, wenn auch die heute schon aktuellen und viele der noch bisher verhaltenen ethnonationalistischen Konfliktlagen frühzeitig entschärft werden können. Deshalb gibt es in analytischer, aber auch in praktischer Hinsicht gar keine Alternative zu einer intensiven Beschäftigung mit dieser politischen Erscheinung.
In der Regel haben wir es in unseren modernen Gesellschaften westlichen Zuschnitts mit Interessenkonflikten zu tun. Solche Konflikte, wie beispielsweise zwischen den Tarifparteien, lassen sich im Grunde genommen in Mark und Pfennig Übersetzen; deshalb sind in der Regel kompromißhafte Vereinbarungen zur vorläufigen oder endgültigen Lösung solcher Konflikte erreichbar. Auch ethnonationalistische Konflikte sind von solchen kalkulierbaren Interessen durchsetzt, vor allem dann, wenn die Konfliktparteien ein unterschiedliches Wohlstandsniveau erreicht haben. Aber solche Konflikte lassen sich meist nicht nur auf solche Interessen zurückführen: Sie sind vielmehr auch - und oft zuallererst - Identitätskonflikte. es geht bei ihnen dann um unterschiedliche Lebensläufe, die in einer verschiedenartigen Geschichte, in unterschiedlichem Brauchtum, einer eigenen Sprache und in widerstreitenden politischen Zielsetzungen begründet sind. Wenn man verstehen will, warum ethnonationalistische Konflikte emotional aufgeladen sind, warum sie durch eine erstaunliche Zählebigkeit und oft durch eine Art von Unzugänglichkeit von außen gekennzeichnet sind, warum sie leicht umschlagen in Primitivisierung, Verbiesterung und handfeste Brutalität mit der Folge erheblicher Gewalttätigkeit, dann hat es damit zu tun, da· es sich um Identitätskonflikte handelt. Von außen erscheinen solche Konflikte oft als abgründig-irrational, als "mittelalterlich", aber die Betroffenen finden in solchen Konflikten oft zum ersten Mal einen eigenen Lebenssinn, und sie sind deshalb bereit, für sich und ihre volksstämmigen Mitbürger, in erheblichem Maße Energie, Zeit und materielle Mittel zu investieren. Von diesem Hintergrund her wird auch verständlich, warum reine Hilfsprogramme zugunsten der eigenen Volkgruppe oft nur als machiavellistischer Trick der anderen Konfliktpartei empfunden wird.
Eine solche Ausgangslage von ethnonationalistischen Konflikten macht verständlich, da· nur eine großzügige Konzessionsbereitschaft einen Ansatzpunkt für eine konstruktive Konfliktbearbeitung, wenn schon nicht für eine Konfliktlösung, darstellt. Die frühzeitige Bereitschaft, Volksgruppe, die das anstreben, in Selbständigkeit (Sezession) zu entlassen, Minderheiten weitgehende, verfassungsmäßige garantierte Rechte, auch Sonderrechte, einzuräumen, insbesondere was die Möglichkeit der Selbstvertretung, der Nutzung der eigenen Sprache in Schulen und öffentlicher Verwaltung und die Verfügung über eigene Ressourcen angeht, ist von großer Bedeutung. Denn besteht eine solche Bereitschaft nicht, eskaliert ein ethnonationalistischer Konflikt in dem Maße, in dem sich Volksgruppen ihrer selbst bewußt werden, sich politisch organisieren und zur Durchsetzung ihrer Interessen auch Gewalt anzuwenden bereit sind. Kommt es nicht frühzeitig zu solchen Konzessionen, sinkt, wie alle Erfahrung zeigt, mit zunehmendem Gewaltniveau die Bereitschaft zu Kompromissen und zu Ausgleich. Dann ist eine Verselbständigung des Konfliktes gegenüber seiner Ursprungssituation zu beobachten. Ein schlimmer Punkt ist erreicht, wenn organisierte bewaffnete Gruppen vom Konflikt leben, weil ihre Existenzsicherung davon abhängt. Dann drohen solche Konflikte chronisch zu werden; sie sind dann tatsächlich oder scheinbar "ausweglos" bzw. "unlösbar". Die Entwicklung im Libanon seit der Mitte der siebziger Jahre ist ein klassisches Beispiel für eine solche Konflikt- und Eskalationsdynamik, und diese Beispiel zeigt, in welchem schrecklichen Ausmaße gewalttätige Konflikte sich verselbständigen können und Sprach- und Kompromißlosigkeit sich einstellen, ganz ungeachtet der wirklichen Bedürfnisse der im Bürgerkrieg leidenden Menschen.
In der Regel geschieht in ethnonationalistischen Konflikt genau das Gegenteil dessen, was eine vernünftige Politik vorschreibt: Wenn in diesen Wochen slowakische Nationalisten dafür kämpfen, da· der ungarischen Minderheit (von ca. 600 000 Menschen) in der Südslowakei keine Minderheitenrechte eingeräumt werden, insbesondere die ungarische Sprache nicht als der slowakischen gleichwertig anerkannt wird, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Minderheit sich mit Gewalt zu Worte meldet, Gewalt also als eine Art von "Notressource" begriffen wird, in Ermangelung alternativer Kommunikationsmöglichkeiten. Was wäre die Lösung? Natürlich, die Betroffenen großzügig mit Ressourcen und Kompetenzen auszustatten, so daß der Griff zur Gewalt überflüssig würde. Dabei ist, wie immer in solchen Fällen, an die Konzession sprachlicher und kultureller Eigenständigkeit zu denken, an die Übertragung von Regierungsverantwortung und insbesondere an die Besetzung entscheidender politischer und administrativer Rollen (Polizei, Gerichtswesen usw.) durch Angehörige der betroffenen Ethnie. Weiterhin wäre an verfassungsmäßig festgelegte Rechte wie einen weitergehenden Minderheitenschutz zu denken. Um solche Regelungen zu erreichen, bedarf es geradezu der politischer Therapie der Konfliktparteien, die die Neigung haben , sich in starre Selbst- und Fremdbilder, Freund- und Feindschemata sowie in Chauvinismus emotional hineinzusteigern.
Solche Konflikte bedürfen der wohlwollenden Intervention von dritter Seite: Heute bietet sich an, auf der Ebene einer sich institutionalisierenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eine Plattform zu schaffen, von der her die frühzeitige Auseinandersetzung mit solchen in der Regel bilateralen ethnonationalistischen Konflikten zu einer legitimen Aufgabe wird. Der Aufbau eines gesamteuropäischen Zentrums für die Bereitstellung "guter Dienste", für Vermittlung, Ausgleich, Konfliktschlichtung und Konfliktregelung gehört zu den dringendsten Aufgaben europäischer Politik. Heute droht nicht mehr, daß Europa in Großblöcke zerfällt: Die Zeit der potentiell großen Konflikte mit geringer Wahrscheinlichkeit ist vorbei, nunmehr drohen viele kleine Konflikte, deren Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist. Auf diese Lage ist Europa (noch) nicht vorbereitet; die dafür erforderlichen Fertigkeiten zur Konfliktbearbeitung sind nicht ausgebildet. Es geht nunmehr darum, in Analyse und Praxis schnell Abhilfe zu schaffen, damit nicht in wenigen Jahren an zehn bis zwanzig Stellen Europas "unlösbar" erscheinende Konflikte von der Art Nordirlands lodern.