Wider den Teufelskreis ethnonationali­stischer Gewalt

von Dieter Senghaas

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes in Europa sind alte, jahrzehnte­lang unterdrückt gehaltene ethnonationalistischer Konflikte wieder an die Oberfläche gekommen. Die Sowjetunion in all ihren Teilen, Südost­europa und der Balkan sind von dieser Erfahrung besonders betroffen. Aber auch andernorts in Europa scheint sich die ethnonationalistische Konfliktpro­blematik zuzuspitzen. 

 

Was aus begrenzten Erfahrungen im westeuropäischen Zusammenhang (Nordirland, Baskenland, Korsika, usf.) einigermaßen vertraut ist und was in der "Dritten Welt" zum politischen Alltag gehört, nämlich Separatismus, Minder­heitenkonflikte, Anti-Regime­kriege und vergleichbare Erscheinung, wird nun­mehr zu einem unausweichli­chen Pro­blem für das gesamte Europa. Ein Krieg, wie er in den vergangenen Jahr­zehnten in Europa befürchtet wurde, droht in Europa nicht mehr. Aber es kann doch kein Zweifel beste­hen, da· eine neue Friedens- und Si­cherheitsstruktur in diesem Europa nur erreichbar sein wird, wenn auch die heute schon aktuellen und viele der noch bisher verhaltenen ethnonationa­listischen Konfliktlagen frühzeitig ent­schärft werden können. Deshalb gibt es in analytischer, aber auch in prakti­scher Hinsicht gar keine Alternative zu einer intensiven Beschäftigung mit die­ser po­litischen Erscheinung.

In der Regel haben wir es in unseren modernen Gesellschaften westlichen Zuschnitts mit Interessenkonflikten zu tun. Solche Konflikte, wie beispiels­weise zwischen den Tarifparteien, las­sen sich im Grunde genommen in Mark und Pfennig Übersetzen; deshalb sind in der Regel kom­promißhafte Verein­ba­rungen zur vorläufigen oder endgültigen Lö­sung solcher Kon­flikte erreich­bar. Auch ethnonationalistische Konflikte sind von solchen kalkulier­baren In­teres­sen durch­setzt, vor allem dann, wenn die Kon­fliktparteien ein unterschiedli­ches Wohl­stands­niveau er­reicht haben. Aber solche Kon­flikte lassen sich meist nicht nur auf solche Interessen zu­rück­führen: Sie sind vielmehr auch - und oft zu­allererst - Iden­ti­täts­kon­flik­te. es geht bei ihnen dann um unterschiedliche Lebensläufe, die in einer verschieden­artigen Geschichte, in unterschiedli­chem Brauchtum, einer eigenen Sprache und in widerstreitenden politischen Zielset­zungen begründet sind. Wenn man verstehen will, warum ethnonationali­stische Konflikte emotio­nal aufgeladen sind, warum sie durch eine erstaunli­che Zählebigkeit und oft durch eine Art von Unzugänglichkeit von außen gekennzeichnet sind, warum sie leicht umschlagen in Primitivisie­rung, Verbie­sterung und handfeste Bru­talität mit der Folge erheblicher Ge­walttätigkeit, dann hat es damit zu tun, da· es sich um Identitätskonflikte han­delt. Von außen erscheinen solche Kon­flikte oft als abgründig-irrational, als "mittelalterlich", aber die Betroffenen finden in solchen Konflikten oft zum er­sten Mal einen eigenen Lebenssinn, und sie sind deshalb bereit, für sich und ihre volksstämmigen Mitbürger, in erhebli­chem Maße Energie, Zeit und materielle Mittel zu investieren. Von diesem Hin­tergrund her wird auch verständlich, warum reine Hilfspro­gramme zugunsten der eigenen Volk­gruppe oft nur als ma­chiavellistischer Trick der anderen Kon­fliktpartei empfunden wird.

Eine solche Ausgangslage von ethno­nationalistischen Konflikten macht ver­ständlich, da· nur eine großzügige Kon­zessionsbereitschaft einen Ansatz­punkt für eine konstruktive Konflikt­bearbeitung, wenn schon nicht für eine Konfliktlösung, darstellt. Die frühzei­tige Bereitschaft, Volksgruppe, die das an­streben, in Selbständigkeit (Sezession) zu entlassen, Minderheiten weitgehende, verfassungsmäßige ga­rantierte Rechte, auch Sonderrechte, einzuräumen, insbe­sondere was die Möglichkeit der Selbst­vertretung, der Nutzung der eigenen Sprache in Schulen und öffentlicher Verwaltung und die Verfügung über ei­gene Res­sourcen angeht, ist von großer Be­deutung. Denn besteht eine solche Be­reitschaft nicht, eskaliert ein ethnona­tionalistischer Konflikt in dem Maße, in dem sich Volksgruppen ihrer selbst be­wußt werden, sich politisch organi­sieren und zur Durchsetzung ihrer In­teressen auch Gewalt anzuwenden be­reit sind. Kommt es nicht frühzeitig zu solchen Konzessionen, sinkt, wie alle Erfahrung zeigt, mit zunehmendem Gewaltniveau die Bereitschaft zu Kompromissen und zu Ausgleich. Dann ist eine Verselb­ständigung des Konfliktes gegenüber seiner Ur­sprungssituation zu beobach­ten. Ein schlimmer Punkt ist erreicht, wenn or­ganisierte bewaffnete Gruppen vom Konflikt leben, weil ihre Existenzsiche­rung davon abhängt. Dann drohen sol­che Konflikte chronisch zu werden; sie sind dann tatsächlich oder scheinbar "ausweglos" bzw. "unlösbar". Die Ent­wicklung im Libanon seit der Mitte der siebziger Jahre ist ein klassi­sches Bei­spiel für eine solche Konflikt- und Es­kalationsdynamik, und diese Bei­spiel zeigt, in welchem schrecklichen Aus­maße gewalttätige Konflikte sich ver­selbständigen können und Sprach- und Kompromißlosigkeit sich einstellen, ganz ungeachtet der wirklichen Bedürfnisse der im Bürger­krieg leidenden Menschen.

In der Regel geschieht in ethnonationa­listischen Konflikt genau das Gegenteil dessen, was eine vernünftige Politik vorschreibt: Wenn in diesen Wochen slowakische Nationalisten dafür kämp­fen, da· der ungarischen Minderheit (von ca. 600 000 Menschen) in der Südslowakei keine Minderheitenrechte ein­geräumt werden, insbesondere die unga­rische Sprache nicht als der slowaki­schen gleichwertig anerkannt wird, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Minderheit sich mit Gewalt zu Worte meldet, Gewalt also als eine Art von "Notressource" begriffen wird, in Ermangelung alternativer Kommunikationsmöglichkeiten. Was wäre die Lösung? Natürlich, die Betroffenen großzügig mit Ressourcen und Kompetenzen auszustatten, so daß der Griff zur Ge­walt überflüssig würde. Dabei ist, wie immer in solchen Fällen, an die Konzes­sion sprachlicher und kultureller Eigen­ständigkeit zu denken, an die Übertra­gung von Regierungsverantwortung und insbesondere an die Besetzung ent­scheidender politischer und administra­tiver Rollen (Polizei, Gerichtswesen usw.) durch Angehörige der betroffenen Ethnie. Weiterhin wäre an verfassungs­mäßig festgelegte Rechte wie einen weitergehenden Minderheitenschutz zu denken. Um solche Regelungen zu er­reichen, bedarf es geradezu der politi­scher Therapie der Konfliktparteien, die die Neigung haben , sich in starre Selbst- und Fremdbilder, Freund- und Feindschemata sowie in Chauvinismus emotional hineinzusteigern.

Solche Konflikte bedürfen der wohl­wollenden Intervention von dritter Seite: Heute bietet sich an, auf der Ebene einer sich institutionalisierenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eine Plattform zu schaffen, von der her die frühzeitige Auseinanderset­zung mit solchen in der Regel bilatera­len ethnonationalistischen Konflikten  zu einer legitimen Aufgabe wird. Der Aufbau eines gesamteuropäischen Zen­trums für die Bereitstellung "guter Dienste", für Vermittlung, Ausgleich, Konfliktschlichtung und Konfliktrege­lung gehört zu den dringendsten Aufga­ben europä­ischer Politik. Heute droht nicht mehr, daß Europa in Großblöcke zer­fällt: Die Zeit der potentiell großen Konflikte mit geringer Wahrscheinlich­keit ist vorbei, nunmehr drohen viele kleine Konflikte, deren Wahrscheinlich­keit sehr hoch ist. Auf diese Lage ist Eu­ropa (noch) nicht vorbereitet; die dafür erforder­lichen Fertigkei­ten zur Kon­fliktbearbeitung sind nicht aus­gebildet. Es geht nunmehr darum, in Ana­lyse und Praxis schnell Abhilfe zu schaffen, da­mit nicht in wenigen Jahren an zehn bis zwanzig Stellen Europas "unlösbar" er­scheinende Konflikte von der Art Nor­dirlands lodern.

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Hintergrund
Dieter Senghaas ist Professor für Politi¬sche Wissenschaften an der Universität Bremen