Wider die Fortsetzung einer mörderischen Politik. Lernen mitten im Krieg

von Wolf Dieter NarrRoland RothKlaus Vack
Schwerpunkt
Schwerpunkt

I.Vom Lateinischen kommend, übers Englische eingeführt, macht gegenwärtig ein alter Begriff mit neuer Bedeutung die Runde: Kollateralschäden. Das meint, nach Auskunft diverser Wörterbücher und eigenem Wissen, Schäden, die "seitlich" entstehen (latus = die Seite, auch Verwandtschaft); Schäden, die im Zusammenhang von Aktionen anfallen, die andere Absichten verfolgen; Schäden, die jedoch aus diesen Aktionen erfolgen; Schäden, die also wortgemäß aktionsverwandt sind. Kollateralschäden bilden das Zentrum des nun über zwei Monate dauernden Nato-Krieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Sie machen seit dem Nato-Bombenanfang dessen Quintessenz aus. Der Krieg ist eine Summe von Kollateralschäden, die selbst die besten Kriegsmotive und Kriegsziele unter sich begrüben, wenn es die denn mehr als moraltäuscherisch dick aufgestrichen gäbe.

- Damit hob`s ab, dass die Vertreibungsgewalt des Milosevic-Regimes, der vorgeblich der Krieg ein Ende bereiten sollte, bombensicher geradezu, zur Explosion gebracht wurde.

- Damit ging`s weiter, dass Wohngebiete, öffentliche Verkehrsmittel, sogenannte weiche Ziele (sprich Menschen) vernichtet, dass Botschaftsgebäude - kollateral! - zerstört und Botschaftsangehörige getötet worden sind.

- Der dritte Kollateralschaden besaß und besitzt bereits schon System. Er wurde billigend in Kauf genommen, ja, sogar hintergründig systematisch angestrebt: Die Zerstörung der Brücken, der Bahn- und Straßenverbindungen, die Zerstörung der Fabriken, die durch Nato-Bomben zusätzlich verpestete Umwelt, also: die Zerstörung der Lebensbedingungen des ohnehin, an den fetten Standards der kriegführenden Staaten gemessen, armen Jugoslawien, eine wichtige Mitursache der dort wühlenden alltäglichen Gewalt und des herrschaftlich allzu leicht herzustellenden pseudoethnischen Vorurteilsgebräus.
-Damit der "Kollateralschäden" nicht genug. Der Nato-Krieg zerstört alle bisher noch vorhandenen sozialen Beziehungen und deren materielle Voraussetzungen. Er installiert den Habitus Hass. Er schafft erst vollends die erfundenen ethnischen Zurechnungen und den darauf gegründeten tödlichen Freund-Feind-Konflikt. Was immer nach diesem Krieg kommen wird, der diesen herrschafts- und militärarroganten Nato-Staatsleuten von Anfang an aus den nur zum Bombenabwurf fähigen Händen entglitten ist, eines ist sicher: Auf Jahrzehnte hinaus wird kein innerer Frieden mehr möglich sein; alltägliche Gewalt und Gewaltangst werden vorherrschen; auch und gerade die umkämpfte Autonomie der Kosovarinnen und Kosovaren, wenn es denn tatsächlich einschließlich der serbischen Minderheiten eine bürgerliche, also demokratische Autonomie sein sollte. Diese Autonomie wird ferner gerückt sein denn je. Als ob jahrelanger Nato- oder auch Uno-Schutz, wenn er denn gewährleistet werden sollte, Autonomie garantiere.

- Doch die Kollateralschäden reichen noch weiter und tiefer. Sie zerfressen die Nato-Staaten und deren Bevölkerung, so sie den Krieg, ihren Krieg, den auch deutsch geführten Krieg, überhaupt wahrnehmen. Sie durchsäuern und korrumpieren das, um dessen Willen dieser Krieg angeblich geführt worden ist. Wer mag noch Menschenrechte zur Maxime machen, wenn sie derartig fahrlässig, um andere Interessen, um schiere Unfähigkeit zur Politik zu verdecken, missbraucht, ja pervertiert wird? Wer mag noch die Argumente der neuen "intellektuellen" Kriegswerber achten, die doppelmoralisch davon schwätzen, dass man politisch immer schuldig werde - so oder so -, und man also froh gestimmt auch kriegsschuldig werden dürfe? Als könnte die Schuldfrage auf diese Weise postmodern beliebig "gelöst" werden. Was soll man von philosophisch großspurig mit kosmopolitischem Blick ausholenden Argumenten halten, die die oben genannten "Kollateralschäden" wie Sägespäne behandeln, die beim kriegerischen Hobeln im Prozess der Nato-Zivilisierung eben anfallen? Dieser Kollateralschaden ist jedenfalls bundesdeutsch und für die Demokratie in diesem Lande mit der schlimmste. Die sich in Freund-Feind-Morale aufspaltende Debatte; das, was man geradezu politisch moralische Verwahrlosung nennen muss. Denn eines gilt unabdingbar, welchen Schluss der oder die einzelne immer zieht: politische Moral ist keine Frage edler Gesinnung, unter der Daunendecke der eigenen Moral weichwarm verbrachter Schlaf. Politische Moral heißt skrupulös und anhaltend das angemessene Verhältnis von Zielen und Mitteln zu befragen. Politische Moral verlangt vor allem auch, alle Vorstellungskraft anzustrengen, um die Folgen vor allem auch für diejenigen zu bedenken, denen man in bestimmter Weise, gar kriegerisch, entgegentritt. Und die Folgen der Folgen auch, und nicht zuletzt für die Nato-Länder, die von dieser ungleichen Welt profitieren und deren Ungleichheit kriegerisch zementieren. (II....)
 

III.Am sich nun vage andeutenden "Ende" dieses von Anfang an jenseits allen prinzipiellen Pazifismus falschen Krieges sind mehrere Faktoren wichtig:

- Zuerst gilt das Zurück zur Politik von der Nato an die Uno mitsamt der durchgehenden Mitbestimmung vor allem Russlands;

- Zugleich gilt es, von "Marshall"-Plänen nicht leer zu reden, sondern einen mehrstufigen umgehend zu präsentieren;

- Ebenso ist ein Verfahren einzurichten, das eine wenigstens mittelfristige Lösung der im Kosovo und in der Bundesrepublik Jugoslawien gegebenen Probleme wahrscheinlich macht;

- Ausschlaggebend ist es, dass ein Verfahren, selbstredend mit Auflagen und Anforderungen, gewählt wird und kein irgendwie fertiger Plan. Nur so kann der inneren Frieden der Chance nach schaffende Prozess durch die demokratische Beteiligung der diversen Parteien der Bundesrepublik Jugoslawien einschließlich der Parteien im Kosovo erfolgen; nur so ist es möglich, dass die allmählich entstehende neue Ordnung primär von den Leuten am Ort und nicht aus mächtigen Staaten bestimmt wird. Die Einsicht, die jüngst in einem Artikel der Times Literary Supplement (7.5.1999) von einem exzellenten Kenner geäußert worden ist, Charles King, gibt Maß: "Seit fast einem Jahrzehnt widersprechen die Resultate der Politik der Staaten, die von außen intervenieren, den verkündeten Zielen. Indem sie die komplexen Umstände der inneren Politik sowohl in Bosnien als auch in Serbien ignorieren, treiben die westlichen Regierungen fortgesetzt eine Politik, die ebenso schlecht informiert ist wie ihre Resultate in steigendem Maße pervers ausfallen. Indem Bosnien geteilt wird, um es zu erhalten; indem die Wirtschaft Jugoslawiens zerstört wird, um eine Demokratie in Gang zu setzen; und nun, indem Albaner getötet werden, um sie zu retten."

IV.Dieser Krieg musste besonders in Deutschland, eben weil es der erste Angriffskrieg mit deutscher militärischer Beteiligung seit 1945 ist, viele friedensbewegte Menschen verunsichern und lähmen. Ihren Mut zum gewaltfreien Widerstand brechen. Nicht zuletzt, weil er in die Verantwortung einer "rot-grü-nen" Regierung fällt. Die SPD hat zwar seit jeher außerparlamentarische Opposition und soziale Bewegungen im Sinne ihrer stets staatstragenden und gewaltträchtigen Politik zu instrumentalisieren versucht. Die "grüne" Partei hat in ihrer kurzen Geschichte diesen Weg im Sauseschritt vollzogen und ist nun mit im Passepartout der Herrschaft. Viele von uns haben diese fatale Rolle der einstmals parlamentarischen "Opposition" bis zu den Desastern nach dem Regierungs"wechsel" jedoch nicht durchschaut. Schlimmer noch: immer erneut setzten sich Hoffnungen auf ein "kleineres Übel" fest.
 

War auch der Spielraum oder gar "Erfolg" unseres graswurzlerischen Engagements, unseres demokratischen Widerstands in der Vergangenheit mehr als beschränkt, einiges an menschenrechtlicher Sensibilität, an Friedenssehnsucht hat sich doch bei mehr und mehr Bürgerinnen und Bürgern im Fühlen, Denken und Handeln ausweiten können. Und bei nicht wenigen Deutschen war die Forderung von 1945 in das Bewusstsein eingemeißelt: "Von Deutschland darf nie wieder Krieg ausgehen!" Für die Menschen in Ostdeutschland ein weiteres böses Erwachen: nach den "blühenden Landschaften" nun die "humanitäre Intervention".

Doch was tun? Widersprechen. Aufklären. Die Wahrheit sagen und schreiben gegen die Lügen der Nato-Krieger und ihre medienträchtigen Wasserträger. Nie anfangen aufzuhören. Nie aufhören anzufangen. Gegen den herrschenden Strom, den sogenannten Zeitgeist. Human helfen - mit unseren Möglichkeiten, in kleinen und großen Schritten. Auf dem Balkan und hierzulande. Den Schwertern, die nie zu Pflugscharen umgeschmiedet wurden, gewaltfrei mit zurückweisenden Händen und Armen entgegentreten. Ziviler Ungehorsam: desertieren, Kriegsdienst verweigern, Militäreinrichtungen und -strukturen blockieren. Von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge und Asylsuchende verstecken, wo möglich, ihnen den Weg in sichere Länder ebnen. Informations- und Protesttexte schreiben, verbreiten und mit den Leuten diskutieren. Uns auf den Plätzen unserer Städte und Stadtteile zeigen, mit unmissverständlichen Parolen auf Plakaten, Transparenten, in Flugblättern. Demonstrieren - heute vielleicht noch wenige, morgen wieder mehr. Sand streuen ins Getriebe der Kriegsverantwortlichen. Sabotage allem Militärischen. Den Nato-Politikern bei ihren Kriegen, aber auch bei ihren sonstigen anderen gesellschaftlichen Schweinereien ins Gesicht schreien: Schluss mit den Verbrechen!

Bei allem Widerständigen, die Gewaltfreiheit nicht vergessen. Selbstermutigung und erinnern, was Gandhi uns hinterlassen hat: Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg.

PS der Autoren: Dieser Text wurde bis auf wenige Worte Ende Mai geschrieben. Der seither sich äußerst widersprüchlich andeutende Prozess, den aktuellen Krieg zu beenden, lässt neben mancher allzu späten Einsicht (Uno-Beteiligung, Russland) nicht erkennen, dass die Staatsleute der Nato die von ihnen ausgehenden Verbrechen im mindesten erkannt hätten. Sie betreiben den "Frieden" wie einen Krieg.

PS der Red.: Der vollständige Text kann angefordert werden beim: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Aquinostr. 7-11, 50670 Köln.
 

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt