Afghanistan

Widersprüche, Machtkämpfe und wenig Perspektiven

von Otmar Steinbicker
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Wie geht es in Afghanistan nach der erneuten Machtübernahme der Taliban weiter? Diese Frage beschäftigt die Weltöffentlichkeit, lässt sich aber einen Monat nach dem Abzug der letzten internationalen Truppen noch immer nicht mit Sicherheit beantworten. Es gibt reichliche Widersprüche, zunehmend allerdings negative Tendenzen.

Fernsehbilder vom Abzug der US-Truppen und Nachrichten über Menschen, die sich verzweifelt an abfliegende Maschinen klammerten, beherrschten über einige Tage das mediale Bild. Die Bilder der in Kabul auf Mopeds und mit Kalaschnikows eindringenden Taliban wirkten weniger furchteinflößend. Es wurden einige Hinrichtungen dokumentiert. Behauptungen von systematischen Repressalien oder gar Massakern blieben vage, ohne konkrete Zeit- und Ortsangaben, und damit nicht überprüfbar. Im Gegenteil: Medial verkündeten die Taliban eine Generalamnestie und Frauenrechte. Inzwischen mehren sich die Zeichen, dass die Taliban ihre Zusage nicht einhalten werden.

Offiziell heißt es zwar, dass für den Besuch der Schulen und Universitäten durch Mädchen und Frauen erst „sichere Bedingungen“ geschaffen werden müssten, doch das klingt zunehmend als Ausrede, zumal keine Bedingungen definiert werden. Bemerkenswert bleibt dennoch, dass sich die Taliban genötigt sehen, zu Ausreden zu greifen und nicht schlicht und einfach ohne Begründung agieren.

Einiges deutet auf heftige Differenzen in der Führung der Taliban hin. Bestimmend auf internationalem Parkett war zuletzt Mullah Abdul Ghani Baradar, einer der Gründer der Bewegung und lange Zeit Stellvertreter von Mullah Omar. Baradar führte ab 2008 geheime Gespräche mit dem damaligen UNO-Sonderbeauftragten Kai Eide über eine Konfliktlösung und suchte auch nach weiteren Gesprächskanälen.

Das passte nicht ins Konzept des pakistanischen Geheimdienstes ISI, der die Taliban an seinem Gängelband führen und keine afghanische Lösung zulassen wollte. Kai Eide berichtete mir telefonisch Ende 2010, dass der ISI sogar einmal einen Sprengstoffanschlag auf das Haus Baradars im pakistanischen Exil als Warnung verüben ließ. Baradar wurde schließlich am 8. Februar 2010 durch Agenten des ISI und der CIA im pakistanischen Karatschi festgenommen, in Pakistan inhaftiert und erst am 25. Oktober 2018 auf Druck der USA freigelassen. Er leitete anschließend das politische Büro der Taliban in Katar und handelte schließlich mit der Trump-Administration den Abzug der US-Truppen aus.

Gesprächskontakte zur Taliban-Führung gab es auch noch nach Baradars Verhaftung im Februar 2010. So trafen sich im Juli und August 2010 Talibanführer mit ISAF-Offizieren aus Deutschland, Großbritannien und den USA im Camp Warehouse in Kabul. In diesen Gesprächen legten die Taliban ein 11-Punkte-Papier vor, das Ausbildung und Berufsausübung sowie aktives und passives Wahlrecht für Frauen vorsah, sowie die Anerkennung der UNO-Menschenrechtskonvention und weitere Positionen enthielt, die eine deutliche Abkehr von den Zeiten ihrer Schreckensherrschaft zwischen 1996 und 2001 signalisierten. Hin und wieder tauchten und tauchen von Seiten der Taliban einzelne Formulierungen aus diesem Papier in aktuellen Statements auf. Auch ein Vorschlag der Taliban, die Verfassung des Königs von vor 1973 wieder in Kraft zu setzen, der Ende September 2021 durch die Medien ging, wurde bereits bei diesen Gesprächen 2010 vorgetragen.

Bemerkenswert war, dass in dieser Zeit und bis heute die Taliban keinen eigenen Plan für ein Afghanistan unter ihrer Regierungsbeteiligung oder unter ihrer Alleinherrschaft entwickelten, sondern lediglich Vorschläge von Dritten aufnahmen.

Nachdem die Taliban im August 2021 die Macht in ganz Afghanistan übernahmen, sollte Baradar nach Medienberichten ursprünglich Regierungschef werden. Bevor eine neue Regierung bekanntgegeben wurde, besuchte der Chef des pakistanischen Geheimdienstes ISI, Fais Hamid, Kabul. Baradar musste sich danach mit einem Stellvertreterposten zufriedengeben.

Mitte September gab es Gerüchte über einen gewaltsamen Machtkampf innerhalb der Taliban-Führung, bei der angeblich Baradar getötet wurde. Dieser Version widersprach Baradar kurz darauf in einer TV-Sendung, tauchte danach aber nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Seither mehreren sich die Berichte über vielfältige Schritte der Taliban in Richtung auf die Zeit der Schreckensherrschaft.

Die weitere Entwicklung des Landes bleibt nicht vorhersehbar. Das „freundliche Gesicht“ der Taliban ist verschwunden. Ob es zu einer kompletten Neuauflage der Schreckensherrschaft kommt, bleibt fraglich. Afghanistan bleibt auf Hilfsgelder aus aller Welt angewiesen, die bei einer weitgehenden Isolation des Landes ausbleiben könnten. Auch hat sich die afghanische Gesellschaft in den vergangenen Jahren zumindest in den Städten verändert, was ebenfalls ein komplettes Rollback des Landes in die Zeit vor 2001 erschweren dürfte.

Die auch daraus resultierenden Streitigkeiten unter den Taliban dürften weitergehen und sich womöglich verstärken – mit welchem Ergebnis auch immer.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de