Kriminalisierung von Flucht und Fluchtunterstützung

Wie kann Widerstand gegen das unmenschliche EU-Grenzregime gelingen?

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Während Europa sich weiter abschottet, wird Flucht per se und auch jede Form von Fluchtunterstützung systematisch unter dem Deckmantel der Bekämpfung der “Schleuserkriminalität” (1) kriminalisiert – ein perfides Mittel, um die tödlichen Grenzen Europas aufrechtzuerhalten.

Europas Grenzregime: Bollwerk einer postkolonialen Weltordnung
Grenzen sind nicht nur physische Barrieren, sondern auch Ausdruck sozialer und politischer Macht und für Flüchtende omnipräsent. Durch sie wird definiert, wer sich frei bewegen kann und wer Zugang zu Ressourcen hat. Europa profitiert seit Jahrhunderten von der Ausbeutung des „Globalen Südens”. Die resultierenden Wohlstandsunterschiede können nur durch gewaltsame Grenzregime gesichert werden. Entsprechend versucht der Europäische Staatenbund, seine stetigen materiellen Vorteile durch eine immer restriktivere Migrations- und Grenzpolitik zu erhalten, die sich in verschiedenen Strategien zur systematischen Entrechtung, Isolierung, Diskriminierung und Tötung von Migrierenden zeigt. Migration soll so zum eigenen Vorteil kontrollierbarer gemacht werden. Sichtbar wird das EU-Grenzregime dabei in der massiven Aufrüstung von Grenzen und diversen Externalisierungsmaßnahmen, aber auch in sozialen und rechtlichen Barrieren, die sich beispielsweise in dem gemeinsamen europäischen Migrationspakt manifestieren. Auch die Kriminalisierung von Flucht und Fluchtunterstützung sind EU-Strategien zur weiteren Abschottung Europas.

Wolf im Schafspelz – Der Kampf der EU gegen kriminelle „Schleuserbanden”
Die EU versucht, die Kriminalisierung von „Schmuggel“ vor allem als Kampf gegen „skrupellose Verbrecher" darzustellen und so unter einem humanitären Deckmantel als Schutzmaßnahme für Flüchtende zu deklarieren. Die eindringlichen Narrative der EU-Behörden von „kriminellen, geldgierigen und skrupellosen Schlepperbanden", die lebensgefährdend handeln würden, sind dabei in Wirklichkeit Ablenkungsmanöver und Diskreditierungsversuch zugleich. Zum einen wird die Beihilfe zum Grenzübertritt so grundsätzlich als kriminell dargestellt, zum anderen wird die Verantwortung für das Sterben und die Ausbeutung auf der Flucht von europäischer Politik allein den Schleusern zugeschrieben. Fakt ist, dass durch die EU-Politik eine Flucht nach Europa ohne Unterstützung praktisch und legal fast unmöglich ist und so auch das Asylrecht aktiv unterbunden wird. Schleuser sind ein Symptom dieser Entwicklung und meist die einzige verbleibende Möglichkeit für Flüchtende, auf ihrem Weg weiterzukommen. Sie bieten eine Dienstleistung an, die auf Wunsch der migrierenden Person passiert und sich so, trotz der häufigen Gleichsetzung im öffentlichen Diskurs, deutlich von Menschenhandel abgrenzt. Wenn Personen unter lebensbedrohlichen Bedingungen transportiert werden, darf dies weder verharmlost noch legitimiert werden. Sollte es aber ernsthaft um den Schutz und die Würde der Menschen gehen, wären alternative risikoarme Fluchtmöglichkeiten unabdinglich. Was wirklich hinter dem vermeintlichen „humanitären Kampf gegen Schleuser" steckt, wird auch daran ersichtlich, wer vornehmlich kriminalisiert wird.

Kriminalisierung von Flucht: Fliehen als Straftat
Oft beginnt die Kriminalisierung von Migrierenden schon bei der Ankunft in Europa. Primär lose und zufällig entstandene Strukturen, bestehend aus solidarisch handelnden Personen, Freund*innen, Familienangehörigen und allen voran Migrierenden selbst, gelangen ins Visier strafrechtlicher Ermittlungen. Für unsere Studie „Ein rechtsfreier Raum - die systematische Kriminalisierung Migrierender für das Steuern eines Bootes oder Autos nach Griechenland” (2) haben wir 81 „Schleusungsverfahren” von 95 Menschen in Griechenland beobachtet. Die Verdächtigen werden unmittelbar nach ihrer Ankunft wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einreise” verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, wo sie meist monatelang isoliert auf ihr Verfahren warten. Die wenigsten haben Zugang zu einer angemessenen rechtlichen Verteidigung und Übersetzung. Die Gerichtsverfahren dauern im Schnitt 30 Minuten und münden in einer durchschnittlichen Haftstrafe von 46 Jahren. Die angeblichen Schleuser*innen bildeten in griechischen Gefängnissen Anfang 2023 die zweitgrößte Gruppe aller Gefängnisinsassen und fast 20% der gesamten griechischen Gefängnispopulation. Knapp 90% von ihnen waren Drittstaatsangehörige. Besonders fatal war die Schiffskatastrophe bei Pylos im Juni 2023, bei der über 600 Menschen starben. Kurz darauf wurden neun Personen wegen angeblichen „Schmuggels” verhaftet. Unabhängige Recherchen belegten, dass die griechische Küstenwache das Schiff zum Kentern gebracht hatte. Die Verfahren gegen alle Angeklagten wurden wegen fehlender griechischer Zuständigkeit eingestellt. Ein weiteres Kriminalisierungs-Beispiel war die Anklage im Zusammenhang mit dem Schiffsunglück vor Samos im November 2020, bei dem ein sechsjähriges Kind starb. Ein Novum war, dass der Vater verhaftet und wegen „Kindeswohlgefährdung” angeklagt wurde. Erstmals stand in der EU ein Elternteil wegen des Todes des eigenen Kindes auf der Flucht vor Gericht. Einem anderen Angeklagten drohte lebenslange Haft, obwohl andere Bootsinsass*innen bestätigten, dass ihn keine Schuld treffen würde, er vielmehr versucht habe, allen das Leben zu retten. Beide Fälle zeigen die perfide staatliche Strategie, die mithilfe der Inszenierung eines Sündenbockes die eigene mörderische Abschottungspolitik als Ursache der Katastrophen zu verschleiern versucht.

Widerstand gegen die Kriminalisierung von Flucht und Migration
Der Akt der Migration per se, das Überwinden von (un)sichtbaren Grenzen sowie die Beihilfe dazu, stellen eine der zentralen Kämpfe des aktiven politischen Widerstands gegen die globalen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse dar. In den letzten Jahrzehnten, die durch diverse Migrationspolitikverschärfungen geprägt waren, haben sich verschiedene zivilgesellschaftliche Gegenstrategien entwickelt. Unseren Beitrag bei borderline-europe sehen wir seit 2007 darin, zivilen Widerstand gegen das EU-Migrationsregime zu organisieren und die gewaltsamen Auswirkungen der europäischen Grenzpolitik aufzuzeigen. Wir fordern bedingungslose Bewegungsfreiheit und ein menschenwürdiges Leben für alle. Die Solidarisierung mit Kriminalisierten auf der Flucht und deren Unterstützer*innen ist einer unserer Arbeitsschwerpunkte. Wir organisieren öffentliche Aktionen und führen Kampagnenarbeit durch, um die Systematik hinter der Kriminalisierung aufzuzeigen. Zudem unterstützen wir Angeklagte direkt bei der Suche nach rechtlichem Beistand und bei der Rechtskostenübernahme. Unser Ziel ist es, aktiv in den öffentlichen hegemonialen Diskurs rund um den europäischen „Kampf gegen Schleuser” zu intervenieren und diesem etwas entgegenzusetzen.

Für eine Welt ohne Grenzen: Bewegungsfreiheit für alle!
Die Abschaffung von Grenzregimen, der ihnen zugrundeliegende Kapitalismus und die Anerkennung der Bewegungsfreiheit als universelles Menschenrecht sind notwendige Schritte auf dem Weg zu einer gerechten und solidarischen Welt. Daher fordern wir: Nieder mit dem EU-Grenzregime! Lasst uns in kollektiven Kämpfen Gegenmacht von unten aufbauen und an den Grundfesten der globalen Ordnung rütteln! Fight borders, not smugglers!

Anmerkungen
1 Dem Artikel liegt in Bezug auf den Begriff “Schleuser*in” keine einheitliche Gender-Schreibweise zugrunde, da wir zwischen “Schleuser” als konstruierte Figur im politischen Kontext und den angeklagten Personen, bei denen gegendert wird, unterscheiden.
2 https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/studie-ein-rechtsfreier-r... 3

Die Autor*innen sind Aktivist*innen bei borderline-europe e.V und engagieren sich in der “Anti-Kriminalisierungs-Arbeitsgruppe” gegen die Kriminalisierung von Flucht und Migration.

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