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Wie kommt es nur zu dieser verdammten Konjunkturreiterei?
vonEs ist wieder einmal so weit. Ein Kommentar ist fällig, weil sich die ausbreitende Gewalt und die Fremdenfeindlichkeit beim besten Willen nicht mehr einfach übersehen lassen. Aber wozu ist er eigentlich noch nützlich, jetzt, da die "Welle läuft"? Ist es wieder und immer wieder die Beruhigungspille, die Aktivitäten ruhigstellt und doch das gedenkende Dabeisein garantiert?
Der Erscheinungstermin ist ein Paradebeispiel dafür, daß viele Aktivitäten oder auch bloße Entrüstungskünste von Gewerkschaften und zahlreichen Kolleginnen und Kollegen in Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen am Saldoblick der 5-Prozent-Hürde von Politik und Medien baumeln und kaum mehr als thematische Konjunkturreiterei bedeuten. So erschien auch der letzte Kommentar in unserer Gewerkschaftszeitung genau vor zwei Jahren auf dem Höhepunkt der Erfolge der sogenannten "Republikaner". Daß danach politisch und auch in Schulen wenig oder gar nichts passierte, liegt wohl daran, daß übersehen worden ist, daß es im Grunde gar nicht um solche Parteien, sondern um das "Republikaner"-Syndrom in dieser Gesellschaft gehen müßte.
Vielleicht liegt ja hier eine Erklärung für die ebenso übliche wie üble Konjunkturreiter. Es ist ja auch so bequem: Solche Parteien oder die brutalen Jugendcliquen sind bestens geeignet, um sich distanzieren zu können. Im Notfall hilft dann bei Jugendlichen ein "linker Biologismus": Sind eben Neonazis. Dies scheinen massive Abwehrprozesse zu sein, denn das "Republikaner"-Syndrom und insbesondere die Fremdenfeindlichkeit könnten doch zu sehr die eigenen, zumeist scheinbar überlegen präsentierten Positionen ankratzen. Deshalb ist es schon besser, wenn man das Problem ritualisiert auf Distanz bringt durch kurze Empörung, Etikettierung, und dann ex und hopp.
Merken wir inzwischen schon nicht mehr, wie wir damit die macht- und rechtlosen Fremden ebenso instrumentalisieren wie die Kinder und Jugendlichen? Ein Rückblick auf die Zeit des Golfkrieges macht das ganze Ausmaß der politischen Paralysierung deutlich. Damals gelang es zumindest während des Krieges, dann doch noch Massendemonstrationen zu initiieren. Und wie groß war der Stolz darüber, auch wenn alles schnell wieder in sich zusammenbrach und selbst dann nicht wieder auf die Beine kam, als im Nahen Osten wieder aufgerüstet wurde.
Wie muß man nun eigentlich den Umstand werten, daß in diesen Tagen, an denen vielleicht in der Nachbarschaft, in der Klasse, im Stadtviertel einzelne Fremde massiv bedroht oder verletzt werden, keine breiten öffentlichen Demonstrationen von Schulen oder Gewerkschaften stattfinden?
Könnte es sein, daß "wir" mit den eigenen, unbearbeiteten Fremdheitsgefühlen nicht klarkommen, weil "wir" uns immer eingeredet haben, die multikulturelle Gesellschaft sei eine konfliktlose Angelegenheit, obwohl es dazu weder historische Belege noch entsprechende Alltagserfahrungen gibt?
Der menschenverachtenden Fremdenfeindlichkeit wurde vielfach bloß eine menschenüberfordernde Fremdenfreundlichkeit gegenübergestellt, obwohl sie den Fremden kaum dienlich war und im Kontakt mit Fremden nicht "abgesichert" war und ist. Sie wurden nicht in hier Menschlichkeit wahrgenommen, sondern nur in einem fehlerlosen Klischee, dem sie nicht entsprechen konnten.
Wie sollten sie auch. Neben jenen, die distanziert, gedankenlos und heimlich missachtend damit umgegangen sind, liefen andere in die selbstgestellte Falle, aus der sie jetzt nicht selten mit "privatisierter" Fremdenfeindlichkeit wieder herauskommen, die sich im öffentlichen Raum der Schule als Wegsehen bei gleichzeitigem Wissen ausweist.
Es ist das Resultat einer enttäuschungsgeladenen Überforderung von Fremden, an deren Stelle eine radikale Gleichheit gesetzt werden müßte, zu der auch Offenheit für wechselseitige Kritik gehört, denn dann kann man erst von Zusammenleben und Ernstnehmen sprechen. Dazu ist rechtliche Sicherheit für Fremde ein zentraler Schritt. Aber auch dafür wird nicht eingestanden. Die eigenen Vereinzelungstendenzen und das öffentliche Auseinanderdriften der Gruppen sowie die verschwiegenen Reibungsflächen sind es, die jetzt die Sprachlosigkeit und die Paralysierung wesentlich bestimmen, die ein Vakuum erzeugen und Fremdenfeindlichkeit fast ungehindert einströmen lassen.
Und nun behauptet man in der Schule ständig, man könne aus der Geschichte lernen. Wie soll dies bloß glaubhaft sein, wenn Lehrerinnen und Lehrern dies selbst bei den simpelsten politischen Ereignissen in kurzen Zeitabständen misslingt, obwohl die Anzeichen mit Händen und Füßen zu greifen wären, und die Untersuchungen aus dem Wissenschaftsbereich vielfach auf die Vorformen hingewiesen haben? Verspielen wir nicht die letzte Glaubwürdigkeit, wenn zwar bei der Behandlung des Vorfeldes der NS-Zeit ebenso eilfertig wie vollmundig auf das Versagen der damaligen Generationen hingewiesen wird - und gleichzeitig die Hoffnung verbreitet ist, die Schülerinnen und Schüler würden diese Heuchelei bezüglich des eigenen Verhaltens heute nicht entdecken? Es ist nur zu hoffen, daß sie dies tun, denn sonst wäre das Drama perfekt.
An den Entlastungen wird schon gestrickt. Wie man mit Kritik an dem, was in Schulen abläuft, dann auch umgehen kann, wird ausgerechnet in einer Zeitung eines großen GEW-Landesverbandes dokumentiert. Es gelang einem Redakteur offensichtlich ohne große Probleme, die unzweifelhaften Versäumnisse in Schulen zu verdrängen, den Eltern die Verantwortung in die Schuhe zu schieben und sich selbst zum Opfer zu erklären.
Das ist nun wahrlich blanker Zynismus, denn da die kontinuierlichen Aktivitäten, vor allem hinsichtlich der Vorformen fremdenfeindlicher und gewaltakzeptierender Positionen und Verhaltensweisen, in Schulen auf breiter Basis - abseits der hochaktiven "Alibi"-Gruppen - besonders ausgeprägt wären, kann nun beim besten Willen niemand behaupten. Denn was ist denn in der Zwischenzeit geschehen? Ob die begrenzten Möglichkeiten von Schulen tatsächlich ausgeschöpft werden, daran lassen sich große Zweifel anbringen, die durch eigene deprimierende Erlebnisse in der Lehrerfortbildung gestützt werden.
Nur keine Unannehmlichkeiten bitte. Deshalb ist kaum breites Engagement zu erwarten - aus Angst, daß einem die Gewalt auf den eigenen Pelz rückt, weil man sich z.B. öffentlich engagiert.
Gleichzeitig stricken wir tagtäglich ungerührt an den ablaufenden sozialen und politischen Desintegrationsprozessen weiter mit. Sie bringen Gewalt hervor, denn wenn sich soziale Einbindung und Verankerung löst, müssen die Folgen des eigenen Handelns für andere nicht mehr sonderlich berücksichtigt werden. Die Gewaltschwelle sinkt. Wenn die selbstverständliche soziale Zugehörigkeit und Akzeptanz soweit aufgelöst sind, daß nur noch die Gewissheit übrigbleibt, Deutscher zu sein, bekommt die Gewalt eine Richtung. Und nun?
Ach, warten wir doch einfach ab!
Wilhelm Heitmeyer ist Professor für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld.