Wie kommt es nur zu dieser verdammten Konjunkturreiterei?

von Wilhelm Heitmeyer

Es ist wieder einmal so weit. Ein Kommentar ist fällig, weil sich die aus­breitende Gewalt und die Fremdenfeindlichkeit beim besten Willen nicht mehr einfach übersehen lassen. Aber wozu ist er eigentlich noch nütz­lich, jetzt, da die "Welle läuft"? Ist es wieder und immer wieder die Beruhigungspille, die Aktivitäten ruhigstellt und doch das gedenkende Dabeisein garantiert?

Der Erscheinungstermin ist ein Para­debeispiel dafür, daß viele Aktivitäten oder auch bloße Entrüstungskünste von Gewerkschaften und zahlreichen Kolle­ginnen und Kollegen in Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen am Saldoblick der 5-Prozent-Hürde von Politik und Medien baumeln und kaum mehr als thematische Konjunkturreiterei bedeuten. So erschien auch der letzte Kommentar in unserer Gewerkschafts­zeitung genau vor zwei Jahren auf dem Höhepunkt der Erfolge der sogenannten "Republikaner". Daß danach politisch und auch in Schulen wenig oder gar nichts passierte, liegt wohl daran, daß übersehen worden ist, daß es im Grunde gar nicht um solche Parteien, sondern um das "Republikaner"-Syndrom in die­ser Gesellschaft gehen müßte.

Vielleicht liegt ja hier eine Erklärung für die ebenso übliche wie üble Kon­junkturreiter. Es ist ja auch so bequem: Solche Parteien oder die brutalen Ju­gendcliquen sind bestens geeignet, um sich distanzieren zu können. Im Notfall hilft dann bei Jugendlichen ein "linker Biologismus": Sind eben Neonazis. Dies scheinen massive Abwehrprozesse zu sein, denn das "Republikaner"-Syndrom und insbesondere die Fremdenfeindlich­keit könnten doch zu sehr die eigenen, zumeist scheinbar überlegen präsentierten Positionen ankratzen. Deshalb ist es schon besser, wenn man das Problem ritualisiert auf Distanz bringt durch kurze Empörung, Etikettierung, und dann ex und hopp.

Merken wir inzwischen schon nicht mehr, wie wir damit die macht- und rechtlosen Fremden ebenso instrumen­talisieren wie die Kinder und Jugendli­chen? Ein Rückblick auf die Zeit des Golfkrieges macht das ganze Ausmaß der politischen Paralysierung deutlich. Damals gelang es zumindest während des Krieges, dann doch noch Massen­demonstrationen zu initiieren. Und wie groß war der Stolz darüber, auch wenn alles schnell wieder in sich zusammen­brach und selbst dann nicht wieder auf die Beine kam, als im Nahen Osten wieder aufgerüstet wurde.

Wie muß man nun eigentlich den Um­stand werten, daß in diesen Tagen, an denen vielleicht in der Nachbarschaft, in der Klasse, im Stadtviertel einzelne Fremde massiv bedroht oder verletzt werden, keine breiten öffentlichen De­monstrationen von Schulen oder Ge­werkschaften stattfinden?

Könnte es sein, daß "wir" mit den eige­nen, unbearbeiteten Fremdheitsgefühlen nicht klarkommen, weil "wir" uns im­mer eingeredet haben, die multikul­turelle Gesellschaft sei eine konfliktlose Angelegenheit, obwohl es dazu weder historische Belege noch entsprechende Alltagserfahrungen gibt?

Der menschenverachtenden Fremden­feindlichkeit wurde vielfach bloß eine menschenüberfordernde Fremden­freundlichkeit gegenübergestellt, ob­wohl sie den Fremden kaum dienlich war und im Kontakt mit Fremden nicht "abgesichert" war und ist. Sie wurden nicht in hier Menschlichkeit wahrge­nommen, sondern nur in einem fehlerlo­sen Klischee, dem sie nicht entsprechen konnten.

Wie sollten sie auch. Neben jenen, die distanziert, gedankenlos und heimlich missachtend damit umgegangen sind, lie­fen andere in die selbstgestellte Falle, aus der sie jetzt nicht selten mit "privatisierter" Fremdenfeindlichkeit wieder herauskommen, die sich im öf­fentlichen Raum der Schule als Wegsehen bei gleichzeitigem Wissen ausweist.

Es ist das Resultat einer enttäuschungsgeladenen Überforderung von Fremden, an deren Stelle eine radikale Gleichheit gesetzt werden müßte, zu der auch Of­fenheit für wechselseitige Kritik gehört, denn dann kann man erst von Zusam­menleben und Ernstnehmen sprechen. Dazu ist rechtliche Sicherheit für Fremde ein zentraler Schritt. Aber auch dafür wird nicht eingestanden. Die eige­nen Vereinzelungstendenzen und das öf­fentliche Auseinanderdriften der Grup­pen sowie die verschwiegenen Rei­bungsflächen sind es, die jetzt die Sprachlosigkeit und die Paralysierung wesentlich bestimmen, die ein Vakuum erzeugen und Fremdenfeindlichkeit fast ungehindert einströmen lassen.

Und nun behauptet man in der Schule ständig, man könne aus der Geschichte lernen. Wie soll dies bloß glaubhaft sein, wenn Lehrerinnen und Lehrern dies selbst bei den simpelsten politi­schen Ereignissen in kurzen Zeitabstän­den misslingt, obwohl die Anzeichen mit Händen und Füßen zu greifen wären, und die Untersuchungen aus dem Wis­senschaftsbereich vielfach auf die Vorformen hingewiesen haben? Ver­spielen wir nicht die letzte Glaubwür­digkeit, wenn zwar bei der Behandlung des Vorfeldes der NS-Zeit ebenso eil­fertig wie vollmundig auf das Versagen der damaligen Generationen hingewie­sen wird - und gleichzeitig die Hoffnung verbreitet ist, die Schülerinnen und Schüler würden diese Heuchelei bezüg­lich des eigenen Verhaltens heute nicht entdecken? Es ist nur zu hoffen, daß sie dies tun, denn sonst wäre das Drama perfekt.

An den Entlastungen wird schon ge­strickt. Wie man mit Kritik an dem, was in Schulen abläuft, dann auch umgehen kann, wird ausgerechnet in einer Zei­tung eines großen GEW-Landesverban­des dokumentiert. Es gelang einem Re­dakteur offensichtlich ohne große Pro­bleme, die unzweifelhaften Versäum­nisse in Schulen zu verdrängen, den El­tern die Verantwortung in die Schuhe zu schieben und sich selbst zum Opfer zu erklären.

Das ist nun wahrlich blanker Zynismus, denn da die kontinuierlichen Aktivitä­ten, vor allem hinsichtlich der Vorfor­men fremdenfeindlicher und gewaltak­zeptierender Positionen und Verhal­tensweisen, in Schulen auf breiter Basis - abseits der hochaktiven "Alibi"-Grup­pen - besonders ausgeprägt wären, kann nun beim besten Willen niemand be­haupten. Denn was ist denn in der Zwi­schenzeit geschehen? Ob die begrenzten Möglichkeiten von Schulen tatsächlich ausgeschöpft werden, daran lassen sich große Zweifel anbringen, die durch ei­gene deprimierende Erlebnisse in der Lehrerfortbildung gestützt werden.

Nur keine Unannehmlichkeiten bitte. Deshalb ist kaum breites Engagement zu erwarten - aus Angst, daß einem die Gewalt auf den eigenen Pelz rückt, weil man sich z.B. öffentlich engagiert.

Gleichzeitig stricken wir tagtäglich un­gerührt an den ablaufenden sozialen und politischen Desintegrationsprozessen weiter mit. Sie bringen Gewalt hervor, denn wenn sich soziale Einbindung und Verankerung löst, müssen die Folgen des eigenen Handelns für andere nicht mehr sonderlich berücksichtigt werden. Die Gewaltschwelle sinkt. Wenn die selbstverständliche soziale Zugehörig­keit und Akzeptanz soweit aufgelöst sind, daß nur noch die Gewissheit übrig­bleibt, Deutscher zu sein, bekommt die Gewalt eine Richtung. Und nun?

Ach, warten wir doch einfach ab!

Wilhelm Heitmeyer ist Professor für Er­ziehungs- und Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld.

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Wilhel Heitmeyer ist Professor für Erzeihungs- und Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld.