Zukunft des Festungskapitalismus

Wie sich innere und äußere Abschottung wechselseitig verstärken

von Fabian Georgi
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In seinem Roman „Die Mauer“ (2019) entwirft der britische Autor John Lanchester eine Dystopie, die sich mit dem Begriff des „Festungskapitalismus“ fassen lässt: Der Klimawandel hat die Meeresspiegel dramatisch steigen lassen, und entlang der 10.000 Küstenkilometer Großbritanniens zieht sich eine massive Betonmauer. Doch die Mauer hält nicht nur das Meerwasser ab. Auf ihr schieben 200.000 sogenannte „Verteidiger“ Dienst, Wehrpflichtige, die den Befehl haben, auf Booten ankommende Schutzsuchende aus zerstörten Weltregionen – sie werden nur „die Anderen“ genannt – zu erschießen.

Mit diesem düsteren Szenario schreibt Lanchesters Roman repressive Tendenzen im europäischen Grenzregime fort, die sich seit Jahren verstärken: Faktisch bezahlen europäische und italienische Behörden libysche Milizen dafür, Geflüchtete gewaltsam daran zu hindern, in die EU zu gelangen. Unterstützt durch zahlreiche europäische Regierungen kriminalisieren die Regierungen Italiens und Maltas die Seenotrettung durch NGO-Schiffe im Mittelmeer und setzen den Ertrinkungstod tausender Menschen gezielt als Abschreckungsmaßname ein. An den südosteuropäischen EU-Außengrenzen führen ungarische, kroatische und griechische Polizeieinheiten systematische Pushbacks aus, also die gewaltsame Zurückweisung von Asylsuchenden, in einigen Fällen unter Schusswaffeneinsatz. Zuletzt kursierten im Winter 2020/2021 Bilder aus Bosnien, in denen Asylsuchende in verschneiten Ruinen und in den abgebrannten Zelten des Lagers Lipa die ethisch-moralische Kälte der EU erfuhren. Wie kalter Hohn klingen auch die staatlichen Erfolgsmeldungen, in denen Politiker*innen sich damit brüsten, dass es aktuell immer weniger Schutzsuchende in die EU schaffen: „Das Erfolgsrezept unserer Migrationspolitik“, so Bundesinnenminister Horst Seehofer im Januar 2021, „lautet Humanität und Ordnung! Die Zahl der Asylbewerber ist erneut stark gesunken. […] Das zeigt: Unsere Maßnahmen zur Steuerung der Migration wirken. Wir sind auf dem richtigen Weg.“ (1)

Was ist Festungskapitalismus?
Dieser „richtige Weg“, von dem Seehofer spricht, führt immer tiefer in eine festungskapitalistische Welt. Um zu verstehen, warum diese dystopischen Maßnahmen historisch entstanden sind und wie sie sich künftig entwickeln werden, sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, dass die gewaltgestärkte Kontrolle über die Mobilität und Immobilität subalterner Gruppen in allen Herrschaftsverhältnissen eine entscheidende Machttechnik darstellt. Beispiele reichen von der räumlichen Fixierung von Bäuer*innen durch feudale Leibeigenschaft über die patriarchale Kontrolle der Mobilität von Frauen* im öffentlichen Raum bis zu den rassistischen Passgesetzen im Apartheidsstaat Südafrika. Auch die Geschichte des Kapitalismus lässt sich als Geschichte von Versuchen erzählen, steuernde Kontrolle über die eigensinnige Mobilität der globalen Arbeiter*innenklasse zu erlangen: von Vagabundengesetzen und Sklavenhandel im 18. und 19. Jahrhundert über Massenauswanderung aus Europa sowie „Kuli-System“ und Zwangsarbeit in den europäischen Kolonien bis zu den Gastarbeiterregimen des 20. Jahrhunderts. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich die dominierenden Logiken globaler Migrations- und Grenzregime als Ausdruck von zwei politischen Großprojekten fassen: „Migrationsmanagement“ und „Festungskapitalismus“.

Während Migrationsmanagement im Kern darauf zielt, die für eine expandierende Kapitalverwertung nötigen Arbeitskräfte flexibel zur Verfügung zu stellen, beschreibt Festungskapitalismus die hiermit einhergehenden Versuche, unerwünschte Mobilität repressiv zu verhindern. Der historische Hintergrund dieser Doppelstrategie ist komplex. Entscheidend ist, dass sich das kapitalistische Weltsystem spätestens seit den 2000er Jahren in einer eskalierenden Vielfachkrise befindet, in der verflochtene und sich wechselseitig potenzierende ökonomische, ökologische, soziale und (geo)politische Widersprüche und Konflikte zu einer strukturellen Krise der gesamten kapitalistischen Formation führen. Diese Krisenprozesse lösen Praktiken und soziale Bewegungen aus, die aus Sicht herrschender Klassenfraktionen und mit ihnen assoziierter Gruppen deren eigene, privilegierte imperiale Produktions- und Lebensweise bedrohen. Neben „Kriminalität“ und politischem Widerstand stellen in den Augen privilegierter Gruppen auch jene sozialen Bewegungen eine Bedrohung dar, mit denen Angehörige der globalen Arbeiter*innenklasse auf prekäre Lebensperspektiven, ökologische Zerstörungen und/oder gewaltsame Konflikte reagieren, indem sie versuchen, durch eigensinnige Flucht und Migration Sicherheit an anderen Orten zu finden und dort ihre Lebenshoffnungen zu realisieren.

Festungskapitalismus umschreibt die stark restriktiven, gewaltsamen Elemente von Grenzregimen, die darauf zielen, diese eigensinnige Mobilität der globalen Arbeiter*innenklasse unter Kontrolle zu bringen.

Innere und äußere Abschottung
Für die zukünftige Entwicklung ist u.a. entscheidend, dass dominante soziale Kräfte festungskapitalistische Strategien nicht nur – und vielleicht nicht einmal primär – in Bezug auf Staatsgrenzen und Staatsbürgerschaft verfolgen, sondern zunehmend auch innerhalb von Staaten anwenden. Beispiele hierfür umfassen: „Gated Communties“ in der Wüste nahe Kairo, in denen sich die ägyptische Oberschicht mauernbewehrt von der verarmten Bevölkerungsmehrheit räumlich distanziert; umzäunte und bewachte Apartment-Komplexe in Mumbai, Indien, in denen ein großer Teil der wachsenden urbanen Mittelschicht lebt; die Serie neuer, hochgesicherter Luxus-Apartment-Wolkenkratzer in Manhattan, New York, aus denen sich ihre Bewohner*innen kaum hinausbewegen müssen. Derartige Abschottungsprojekte sollen arme, arbeitslose und prekär lebende Angehörige der lokalen Arbeiter*innenklasse ausschließen, die zwar dieselbe Staatsbürgerschaft haben mögen wie die Privilegierten, aber von ihnen dennoch als „Sicherheitsproblem“ und Bedrohung der eigenen Lebensweise gesehen werden. Viele dieser lokalen Lohnabhängigen sind als Dienstboten- und Service-Kräfte für die privilegierten Klassenfraktionen in kontrolliertem Rahmen nützlich; andere, deren Arbeitskraft nicht profitabel ausgebeutet werden kann, werden als „überflüssig“ gesehen und können noch repressiver bekämpft werden.

Mit solcher Abschottung von der Restgesellschaft haben herrschende Klassenfraktionen frühere Versuche aufgegeben, Stabilität und Sicherheit im öffentlichen Raum durch materielle Zugeständnisse an subalterne Gruppen zu erreichen. Statt Rebellion und „Kriminalität“ durch egalitäre Wirtschaftsstrukturen zu verhindern, schaffen sich privilegierte Klassenfraktionen eigene Räume, die gewaltsam verteidigt werden. Es ist zu erwarten, dass sich innere und äußere Dynamiken des Festungskapitalismus gegenseitig befeuern und legitimieren und so die Gesamttendenz stärken.

Ein Bruch mit den sich zuspitzenden Tendenzen des Festungskapitalismus ließe sich nur erreichen, wenn es durch breite emanzipatorische Mobilisierungen und wohl bittere Konflikte mit herrschenden Gruppen gelänge, tiefgreifende Transformationen heutiger Produktions- und Lebensweisen durchzusetzen und radikaldemokratische und sozial-ökologische Vergesellschaftungsformen zu etablieren.

Anmerkung
1 Bundesinnenministerium, 10.01.2020: Pressemitteilung: Zahl der Asylerstanträge im Jahr 2020 stark gesunken. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/01/asylzah...

Fabian Georgi arbeitet als Postdoktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Marburg, ist Vorstandsmitglied beim Komitee für Grundrechte und Demokratie und Mitherausgeber der Zeitschrift movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.

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Fabian Georgi arbeitet als Postdoktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Marburg, ist Vorstandsmitglied beim Komitee für Grundrechte und Demokratie und Mitherausgeber der Zeitschrift movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.