60 Jahre nach der bedingungslosen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands

Wieder Lager und Krieg!

von Wolf-Dieter Narr

Seit Beginn der Nachkriegszeit am 8.5.1945 war es üblich, deren Ende festzustellen. Meines Erinnerns war der 2. Bundeskanzler, Ludwig Erhard, der erste, der dieses Ende 1963 regierungsoffiziell feststellte. Wer vom "Ende der Nachkriegszeit" sprach oder solches schleunigst herbeiwünschte, meinte, Land und Leute der BRD müssten sich endlich w i e d e r "normal" benehmen können. Indem sich die BRD als Staat, wiederaufgerüstet und remilitarisiert weltpolitisch einmischte, wie andere Staaten auch: eigeninteressiert und ihrer ökonomischen Macht gemäß. Indem das, was der 1. Bundespräsident, Theodor Heuss, die "Diffusion des deutschen Gefühlslebens" genannt hat, bundesdeutsch selbstbewusst zusammenstrebte.

Das Wörtchen "wieder" wurde in allen Arten von Zusammensetzungen zur Leitdevise der bundesdeutschen Gründungs- und Formierungsphase bis tief in die 60er und 70er Jahre. Zwar schleppte sich manches "Wieder" in seinem substantiellen Wortkompositum dahin. Seit der "Wiedervereinigung" 1990 jedoch und der letzten Rundung dessen, was heute noch staatliche Souveränität heißen kann, ließen auch die ersten Kriegsbeteiligungen der BRD nicht mehr lange auf sich waren. Entgegen Käthe Kollwitz` berühmter Zeichnung mit der Aufschrift "Nie wieder Krieg!", war die BRD - nach machen Vorproben im von ihr mitbezahlten 2. Golfkrieg von 1991 und, schlimmer noch, in ihrer Unterstützung der Somalia-Aktion der USA mit dem zynischen Namen "Restore hope" von 1992 - endlich wieder (!) voll Beteiligter im Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (sog. Kosovo-Krieg) 1999 und im Krieg gegen Afghanistan 2001. Damit sie frisch geübt wieder Meister werde. In der Verfassung genannten Un-Verfassung der EU von 2004 - korrekter ökonomisch-bürokratisches Ermächtigungsstatut genannt -, an deren Unterzeichnung kein Zweifel sein kann, ist die militärische Präsenz und bei gegebenen Interessen die militärische Intervention der EU mit starker BRD weltweit vorgesehen. So die gleichfalls grundgesetzwidrig global erweiterte NATO nicht genügen sollte (auf das Bundesverfassungsgericht ist kein Verlass, erfahrene Verfassungsnormen zu konservieren).

Im Unterschied zur BRD hat sich der andere nachnationalsozialistische deutsche Staat, die DDR (1949-1990), von allem Anfang an "antifaschistisch" verstanden. Die Art dieses einheitsparteiideologisch verordneten Antifaschismus ließ jedoch eine andere, eine neue Politik noch weniger zu. Getrennt und seit 1990 unter westdeutscher Dominanz vereint haben alle drei deutschen, der nationalsozialistischen Herrschaft nachfolgenden Staaten keine Politik im Großen und im Kleinen, in der Verfassung und in ihrer Wirklichkeit betrieben, die den kategorischen Folgerungen und Forderungen aus Nationalsozialismus, Konzentrationslagern, Genozid und 2. Weltkrieg gemäß ausgefallen wäre: Nie wieder Konzentrations- und Vernichtungslager! Nie wieder Krieg! Diese Postulate hätten eine qualitativ neue und andere Politik verlangt.

Nicht erst prophetisch rückwärts gewandt wissen wir, warum die dringliche politische Kehre weder in den deutschen Staaten noch anderwärts erfolgte. Diese Gründe nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, besagt nicht, sie entschuldigend zu gebrauchen. Die nüchterne Kenntnisnahme ist vielmehr darum wichtig, damit heute und morgen unnaiv der unabgegoltene Anspruch dieser kategorischen Imperative seit 1945, von keinem Scheitern "falsifiziert", aufrecht und täglich verfolgt werden könne. Von mir, von dir, von uns allen. Nur einen bis heute erfreulichen Hauch lang wehten diese Imperative über der Gründungsphase der Vereinten Nationen, ihrer Delegitimierung staatssouverän geführter Kriege (1945), ihrer Menschenrechtscharta (1948) mit materiellen Versatzstücken, so hilf- und vor allem handlos sie insgesamt blieb.

Kaum war der 2. Weltkrieg zu Ende, längst als Schatten präsent, begann die heiße Phase des Kalten Krieges. Inmitten des KK aber und seiner hauptsächlichen Kontrahenten, an der Scheidelinie des "Eisernen Vorhangs", die beiden darum und davon konstituierten deutschen Staaten: BRD und DDR. Von Toten verfolgt, ausgebombt, vertrieben und ausgelaugt, war es den liberaldemokratisch gänzlich unerfahrenen Westdeutschen ein Leichtes, die neue Verfassung zu akzeptieren. Wenn sie nur die individualisierte kollektive Konzentration auf den Wieder- und Neuaufbau ermöglichte. Die Feindideologie des Kalten Krieges erlaubte im übrigen, schier bruchlos an die nazistisch verstärkte Kommunistenangst und -ausgrenzung anzuschließen. Ostdeutsch aber wurde die Chance anderer Nachkriegspolitik in Richtung neuer Strukturen durch die undemokratisch repressive Politik von oben am engen sowjetisch-russischen Interessengängelband von vornherein zunichte gemacht. Darum bestand in beiden Staatsgesellschaften "Vergangenheitspolitik" darin, sprich Umgang mit dem nationalsozialistischen "Erbe" und seinen Gründen, möglichst alles, was irgend möglich war, unter den rasch geknüpften Normalitätsteppich zu kehren oder "realsozialistisch" sogar faschistisch reale Elemente ins eigene System einzubauen.

Die Nachkriegszeit ist heute in der Tat zu Ende. Jedoch im Sinne der Kassandra Christa Wolfs. Sie wurde durch neue Vorkriegs- und Kriegszeiten abgelöst. Zur Zeit nach allem Kriegen ist es nicht gekommen. Der kriegerische Qualitätswandel in Europa und anderwärts ergibt sich allein aus dem Wandel des globalen Kontexts.

Mit der Nachkonzentrationslager- und Nachgenozidzeit verhält es sich ähnlich und anders. Am 27.1.2005, dem 60. Jahrestag der Befreiung der letzten, traumatisiert ausgemergelten Gestalten in Auschwitz-Birkenau, verkündeten deutsche Politikspitzen weltauf weltab in gekonnter Symbolik, dass die Erinnerung an Auschwitz, dem zur Quintessenz gewordenen Konzentrations- und Vernichtungslager, bleibende deutsche Erinnerung darstelle. Sie kehrten sich aber nicht prinzipiell gegen Kriege, die Menschen, so sie nicht kriegsgemordet werden, unmenschlich enthemmenden Veranstaltungen preisgeben. So sehr die Vernichtungslager, der Genozid in der nationalsozialistischen Politik angelegt waren, den "Durchbruch" schafften die Nazis und ihre vielen Helfeshelfer, die deutsche Bevölkerung allgemein, im vollends enthemmenden Zusammenhang des 2. Weltkriegs. Die gegenwärtigen Spitzenpolitiker erwähnten auch nicht den deutschen Anteil am Genozid in Ruanda/Burundi, der aus der Passivität der UNO miterwuchs. Letztere gewaltfreie, wenngleich massive Intervention wurde der schlechten Erfahrungen Somalias halber unterlassen. Diese deutschen Erinnerungsspezialisten vergaßen ebenso auf Tschetschenien und andere schlimme Orte dieser Welt hinzuweisen. Der russische Wirtschafts- und Herrschaftspartner darf nicht düpiert werden. Vor allem aber erwähnten sie die bundesdeutsch eigene, die schlimmste von schlimmen politischen Inszenierungen nicht, urteilt man über 1933 bis 1945 primär in Kategorien der notwendigen Bringschuld. Im Kontext der nicht akzeptablen Asylpolitik seit Ende der 70er Jahre, die selbst das grundrechtliche Versprechen von 1949 beseitigte - am 1.7.1993 wurde der Art. 16 II GG zu Art. 16 a GG bis zur Unkenntlichkeit verwässert -, wurden inmitten der BRD Lager für (abgelehnte) Asyl Suchende ebenso errichtet, wie Abschiebeknäste für - Worte aus der Lingua Tertii Imperii - Abschüblinge. Zusätzliche Lager außerhalb der BRD und der EU sollen errichtet werden. Sie werden bundesdeutsch gewünscht.

Die großen, menschennötigen und menschenmöglichen Versprechen von 1945 starren unabgegolten 60 Jahre später. Nicht Erinnerung ist gefragt, die schlimmste Vergangenheit anruft, um gegenwärtiges Tun, vor allem auch als Nichttun mit unverbindlichen Weihen zu versehen. Tätige Erinnerung ist verlangt. Sie weiß um die Vergangenheit, detailliert, einzelner Menschen gedenkend. Indem sie recht um Vergangenheit weiß, geht sie darauf aus, das Heute und Morgen so zu gestalten, dass Konzentrationslager, dass Vernichtungslager, dass genozidal treibende Politik, dass nicht zuletzt und vor allem Kriege, Massenschlächtereien aller Art nicht mehr möglich sind und werden. Qualitativ andere Politik ist gefordert. Von jede und jedem einzelnen aber, von uns allen individuell und kollektiv täglicher Widerstand gegen mörderisch-kriegerisch neigende Politik diverser Formen und Inhalte. Und vor allem das unablässige, auch dauernd selbstkritische Engagement für eine BRD ohne Bundeswehr und eine Politik ohne Krieg.
 

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Wolf-Dieter Narr ist Hochschullehrer, Mitbegründer und langjähriger Sprecher des Komitee für Grundrechte und Demokratie