Vom Sinn und Unsinn historischer Vergleiche

Wiederkehr der Geschichte?

von Michael Sturm

Das Jahr 2009 steht im Zeichen historischer Jubiläen. Während sich im Mai die Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung der Bundesrepublik zum sechzigsten mal jähren, wird im Herbst der 20. Jahrestag der „friedlichen Revolution“ in der DDR ins Zentrum erinnerungskultureller Diskurse rücken. Schon jetzt erscheint die Flut an Publikationen, Ausstellungen und Fernsehdokumentationen, die sich diesen Ereignissen widmen, nur noch schwer überschaubar. Deutlich ist indessen das Leitmotiv zu erkennen, das den „Geschichtsboom“ um die Jahreszahlen 1949 und 1989 miteinander verbindet. Sowohl das Inkrafttreten des Grundgesetzes als auch die „friedliche Revolution“ bilden die Kernbestandteile einer historischen Meistererzählung, die davon kündet, dass Deutschland mit dem „Erfolgsmodell Bundesrepublik“ seinen vielfach konstatierten Sonderweg in der Geschichte endgültig verlassen habe.

Doch obgleich die geschichtspolitischen Inszenierungen der „Berliner Republik“ die aus der Vergangenheit gezogenen „Lehren“ hervorheben und mit ostentativem Zukunftsoptimismus einen „Generationswechsel im Leben unserer Nation“ (so der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung 1998) betonen, sind gleichzeitig jene Stimmen kaum zu überhören, die angesichts von Finanzkrise, Bankenpleiten und Exporteinbrüchen die politische Stabilität der Bundesrepublik gefährdet sehen. Neben der regelmäßig beklagten allgemeinen „Politikverdrossenheit“ sind es besonders die in empirischen Erhebungen wiederholt nachgewiesenen hohen Zustimmungsquoten für ausgrenzende, rassistische und rechtsextreme Aussagen, die erhebliche Zweifel am demokratischen Bewusstsein großer Teile der Bevölkerung wecken. „Rechtsradikalismus wird zur Jugendbewegung“ titelte etwa die Süddeutsche Zeitung am 18. März 2009, bezugnehmend auf die Veröffentlichung einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, derzufolge rund 4,9 Prozent der 15-jährigen Jungen in Deutschland einer rechtsextremen Gruppe angehörten.

Weimar – Bonn – Berlin – Weimar?
Ausgesprochen oder unausgesprochen knüpft sich an derartige Befunde oftmals die Frage nach historischen Analogien: Bildete nicht eben jenes Knäuel aus Wirtschaftkrise, Politikverdrossenheit und „antidemokratischem Denken“ (Kurt Sontheimer) den Hintergrund, vor dem sich der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland seit dem Ende der 1920er Jahre vollzog? Sind die damaligen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Konstellationen, die schließlich zur Machtübernahme der Nationalsozialisten führten, mit den heutigen krisenhaften Entwicklungen zu vergleichen? „Bonn ist nicht Weimar“ lautete der paradigmatische Titel eines viel beachteten Buches, das der Schweizer Journalist René Alleman im Jahr 1956 veröffentlichte. Auch wenn diese Formel, wie Sebastian Ullrich hervorgehoben hat, seither „die Quintessenz bundesrepublikanischen Selbstverständnisses“ ausmachte, blieb sie bis in die „Berliner Republik“ umstritten. Nicht selten diente der Verweis auf „Weimar“ als geschichtspolitische „Waffe“ in gegenwartsbezogenen Auseinandersetzungen. Als „Argument“ in tagespolitischen Polemiken, die sich entweder in schlichten Analogiebildungen erschöpften oder nicht weniger eindimensional die durchaus legitimen Fragen nach strukturellen, mentalen und personellen Kontinuitätslinien zwischen „Weimar“ und „Bonn“ entschieden zurückwiesen, verlor der historische Vergleich seine analytischen Potentiale. Insofern bleibt weiterhin zu diskutieren, welchen Beitrag der Blick auf die Entstehungs- und Aufstiegsbedingungen der nationalsozialistischen Bewegung in der Zwischenkriegszeit für die Beschäftigung mit den aktuellen Erscheinungsformen und Erfolgsaussichten des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik leisten kann.

Der Aufstieg des Nationalsozialismus im Zeichen der Krise
Die Geburt des Nationalsozialismus in Deutschland wie auch das Aufkommen anderer faschistischer Bewegungen in Europa vollzog sich im Kontext der durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufenen bzw. beschleunigten gesellschaftlichen und politischen Umbrüche. Mit der Novemberrevolution 1918 war das obrigkeitsstaatliche Kaiserreich einer parlamentarischen Demokratie gewichen. Von Beginn an stand die Weimarer Republik unter dem Druck ihrer innenpolitischen Gegner, die sich im Militär und in der Verwaltung, aber auch in Freikorps, Parteien und Verbänden sammelten und der Umgestaltung des Verfassungssystems nach westlichem Vorbild ablehnend gegenüberstanden. Übersteigerter, nicht selten antisemitisch aufgeladener Nationalismus, der in der Agitation gegen das „Versailler Diktat“ einen symbolträchtigen Bezugspunkt fand, militanter Antikommunismus, autoritäre Politikentwürfe sowie die prinzipielle Bereitschaft, das verhasste Weimarer „System“ notfalls mit Gewalt zu beseitigen, bildete den gemeinsamen Nenner der Republikfeinde von rechts.

Unter diesem Aspekt unterschied sich die 1920 gegründete NSDAP zunächst kaum von anderen Gruppierungen des radikal-antidemokratischen Spektrums. Hinsichtlich ihres Selbstverständnisses, ihrer weltanschaulichen Zielsetzungen und nicht zuletzt ihrer politischen Praktiken wichen die Nationalsozialisten  wie auch die faschistische Bewegung in Italien jedoch deutlich vom „traditionell“ geprägten republikfeindlichen Konservatismus ab. Während es letzterem vorwiegend darum ging, die junge Demokratie durch ein autoritäres Präsidialregime oder eine Militärdiktatur zu ersetzen, strebte die NSDAP die Errichtung einer neuen, völkisch-rassistischen Ordnung an. Die Beobachtung, dass die nationalsozialistische Bewegung ein, wenn auch illegitimes, „Kind der Revolution“ (Detlev Peukert) verkörperte, zeigte sich indessen am deutlichsten in deren Stil, den Walter Benjamin als die „Ästhetisierung des politischen Lebens“ beschrieben hat. Die Nationalsozialisten bedienten sich hemmungslos der Ausdrucksformen der von ihnen als zersetzend und dekadent denunzierten Massengesellschaft, der Jugend- wie auch der sozialistischen Arbeiterbewegung. Dynamik, Aktivismus, Gewaltbereitschaft und Führerkult ersetzten ein kohärentes politisches Programm. An die Stelle formaler philosophischer Positionen, wie sie für andere politisch-weltanschauliche Strömungen (Liberalismus, Sozialismus) charakteristisch waren, setzte der Nationalsozialismus „mobilisierende Leidenschaften“ (Robert Paxton), die sich auf ein Bündel völkisch-nationaler Mythen und antisemitisch-rassistischer Ressentiments reduzieren ließen.

Zu einer schichtenübergreifenden Massenbewegung avancierte der Nationalsozialismus jedoch erst im Zeichen der im Jahr 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise. Hatte die NSDAP bei den Reichtagswahlen 1928 lediglich 2,6 Prozent der Wählerstimmen erzielt, erreichte sie zwei Jahre später bereits einen Anteil von 18,3 Prozent. Die Reichstagswahlen vom Juli 1932 bescherten der Partei schließlich mit 37,4 Prozent ihr bestes Ergebnis bis zur Machtübernahme im Januar 1933. Es würde jedoch zu kurz greifen, den rasanten Aufstieg der NSDAP ausschließlich auf die ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zurückzuführen. Das in mehrfacher Hinsicht instabile demokratische Gefüge der Weimarer Republik war schon zu einem früheren Zeitpunkt erkennbar. Bereits ab1924 begann die Wählerbasis der bürgerlich-liberalen Parteien DDP und DVP zu erodieren, um sich  seit dem Ende der 1920er Jahre dem Nationalsozialismus anzunähern. Nach wie vor standen große Teile der politischen, administrativen und militärischen Eliten der Demokratie distanziert gegenüber und konnten allenfalls als „Vernunft-Republikaner“ (Gustav Stresemann) bezeichnet werden. Die Arbeiterbewegung war tief gespalten, das Parlament durch die politischen Polarisierungen und den zunehmenden Bedeutungsverlust der demokratischen Parteien weitgehend gelähmt. „Ein Grundkonsens“ über die Ausgestaltung eines demokratischen Verfassungs- und Sozialstaats bildete sich somit, wie der Historiker Detlev Peukert resümiert, zu keinem Zeitpunkt heraus.

„Grandiose Selbsttäuschung“ – die traditionellen Eliten und der Nationalsozialismus
Von dieser strukturellen Krise der Weimarer Demokratie profitierten seit 1929 zweifelsohne die Nationalsozialisten. Deren letztendlich erfolgreiche Doppelstrategie bestand darin, einerseits die zunehmend eskalierende innenpolitische Gewalt in der Endphase der Republik durch den militanten Aktionismus der SA weiter zu schüren, sich anderseits aber als Rettungsbewegung aus den selbst verursachten bürgerkriegsähnlichen Zuständen zu präsentieren. Die Machtübernahme des Nationalsozialismus wäre allerdings gegen den Willen der traditionellen republikfeindlich eingestellten Eliten kaum möglich gewesen. Hitler und seine Bewegung, die von den antidemokratischen Machtblöcken im Militär, in der Verwaltung und in der Wirtschaft lange Zeit mit Argwohn beobachtet worden waren, avancierten in dem Moment zur politischen Option, als sämtliche Modelle autoritärer Herrschaftssicherung, angefangen beim ersten Präsidialkabinett Heinrich Brünings (1930-1932) über Franz von Papens „Kabinett der Barone“ (1932)  bis hin zu General von Schleichers Versuch, eine durch eine „Querfront“ gestützte „Militärdiktatur mit Massenbasis“ (Axel Schildt) zu errichten, gescheitert waren. Als die konservativen Eliten ihr politisches Zweckbündnis mit dem Nationalsozialismus eingingen, und auf diese Weise Adolf Hitler in das Amt des Reichskanzlers hievten, unterlagen sie jedoch einer „grandiosen Selbsttäuschung“ (Hans Mommsen). Obgleich in der Ablehnung des demokratischen Systems und in der Frontstellung gegen das „Diktat von Versailles“ eine Teilidentität der Ziele bestand, verkannten sie, wie im Übrigen die maßgeblichen zeitgenössischen marxistischen Faschismusdeutungen auch, die ungeheure Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung, der es nicht um schlichte Teilhabe an der Macht, sondern um die Schaffung einer Führerdiktatur auf Basis einer rassistisch und biologistisch gegliederten Volksgemeinschaft ging. Eine negative Utopie, die schon bald ihren Ausdruck in der Ausschaltung des Parlaments, der Zerschlagung der Arbeiterbewegung und der Parteien, ersten Ausgrenzungsmaßnahmen gegenüber jüdischen Bürgern – aber auch in der Marginalisierung und Ausschaltung der konservativen Steigbügelhalter des NS-Regimes finden sollte.

Nutzen und Grenzen des historischen Vergleichs
Der historische Blick auf die Entstehungsbedingungen, den Aufstieg und die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland verweist auf einige zentrale Unterschiede zu den gegenwärtigen Erscheinungsformen und Erfolgsaussichten des Rechtsextremismus. Anders als die Weimarer Republik erfreut die „Bonner“ bzw. „Berliner“ Demokratie aller „Politikverdrossenheit“ zum Trotz allgemein einer hohen Akzeptanz. Mehr noch wird die Geschichte Bundesrepublik allenthalben als „Erfolgsstory“ gefeiert. Planungen maßgeblicher gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Eliten, angesichts der Finanzkrise und ihren Auswirkungen wie am Beginn der 1930er Jahre das parlamentarisch-demokratische System durch ein autoritäres Regime zu ersetzen oder gar einer rechtsextremen Partei zur Macht zu verhelfen, erscheinen heutzutage vollkommen undenkbar. Ebensowenig existiert in der Bundesrepublik eine rechtsextreme Organisation, die in der Lage wäre, ähnlich der historischen NSDAP ressentimentgeladene und nationalistische Proteststimmungen in Gestalt einer gesellschaftlich breit verankerten völkischen „Rettungsbewegung“ zu bündeln. Von daher sind „Bonn“ bzw. „Berlin“ tatsächlich nicht „Weimar“.

Doch welchen Erkenntnisgewinn erzielen wir durch diese Feststellung für die Gegenwart? Die Absage an platte Analogieschlüsse bedeutet keineswegs, den Nationalsozialismus lediglich in eine vermeintlich vergangene Epoche des „europäischen Bürgerkriegs“ (Ernst Nolte) einzuordnen und somit zu historisieren. Der historische Vergleich kann jenseits dieser pauschalen Deutungsmuster durchaus dazu beitragen, den Blick für aktuelle Erscheinungsformen und Erfolgsbedingungen des Rechtsextremismus zu schärfen. So wird beispielsweise deutlich, dass sich die ideologischen Grundpositionen nach wie vor um ein Bündel von Begriffen wie „Volk“, „Gemeinschaft“ und „Nation“ gruppieren, denen die Funktion politischer Mythen zukommt. Daraus resultiert die weiterhin bestehende Inkonsistenz rechtsextremer Programmatik, die sich weniger auf Inhalte als auf Form und Inszenierungspraktiken stützt und ihren Ausdruck im von NPD und Freien Kameradschaften propagierten „Kampf um die Straße“ findet. Die historische Perspektive verweist aber auch darauf, dass Rechtsextremismus immer dort Verbreitung findet, wo er auf Indifferenz, Ignoranz und ressentimentgeladene Haltungen in der Mitte der Gesellschaft stößt. Der Nationalsozialismus wuchs nicht im luftleeren Raum oder in einem sektenartigen Umfeld heran, sondern in einem gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht. Um die Konsequenzen rechtsextremer Landnahme in der Gegenwart zu erkennen, bedarf es indessen nicht unbedingt der ausführlichen Beschäftigung mit den Umständen der Machtübernahme des Nationalsozialismus im Januar 1933. Ein Blick auf die alltäglichen Zustände in den von Rechtsextremen geschaffenen „Angstzonen“ der Bundesrepublik würde schon genügen.   

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Michael Sturm ist Historiker und Mitarbeiter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Münster „Gegen Rechtsextremismus, für Demokratie (MOBIM)“.