Wir brauchen eine echte internationale Polizei

von Karlheinz Koppe
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Das Dilemma, vor dem wir alle - Regierung wie Opposition, Friedensbewegung wie Friedensforschung und nicht zuletzt die Bundeswehr - stehen, ist klar: Was soll geschehen, wenn im Verlauf von Gewalteruptionen Menschen gequält, geschädigt und ermordet werden, wie es in nahezu allen gegenwärtigen Kampfgebieten der Fall ist, und friedliche Streitbeilegungsmechanismen nicht greifen? Es gibt nicht nur ein Recht auf individuelle und kollektive Notwehr, es gibt auch eine Verpflichtung zur indivduellen und kollektiven Nothilfe. Auch die Mitarbeiter ziviler Friedensdienste und humanitärer Hilfsorganisationen haben einen Anspruch darauf, in Ausübung ihrer Tätigkeit geschützt zu werden. Doch wie können Regierungen dieser Verpflichtung nachkommen, ohne dadurch an der Spirale der Gewalt weiterzudrehen?

Der berechtigte Vorwurf, dass die internationale Gemeinschaft es an Krisen- und Gewaltprävention missen lässt, hilft weder den betroffenen Menschen noch den engagierten Helfern. Und selbst wenn es gelingen sollte, künftig Krisen vorbeugend zu entschärfen, gibt es keine Gewähr, dass es nicht doch zu Gewalteruptionen kommt. Das, was heute in Ex-Jugoslawien, im Kaukasus, in Afghanistan, in Ruanda, in Somalia, im Sudan, im Kongo, in Algerien und anderswo geschieht, geht auf politische Umbrüche und soziale Verelendungsprozesse zurück, die den Nährboden für skrupellose Akteure, für die Verfestigung und längst überholt geglaubte ethnische, nationale und religiöse Konflikte bilden. Das dürfte der Grund sein, weshalb Interventionen - gewaltträchtige (militärische) wie gewaltfreie (zivile) - so schwierig sind. Zahlreiche, durchaus friedensengagierte Personen, darunter überzeugte Pazifisten (auch Grüne und linke Sozialdemokraten) haben daraus den Schluss gezogen, dass militärisches Eingreifen in solchen Fällen unvermeidlich sei.

Genau das ist der falsche Schluss. Aber auch Pazifisten mogeln sich um eine Antwort herum. Dabei ist eine stimmige, wenn auch schwierige Antwort durchaus möglich. Albert Einstein hat sie in den dreißiger Jahren bereits gegeben. Er war ein konsequenter Pazifist, forderte aber dennoch ein militärisches Eingreifen gegen Hitler und den Faschismus mit dem Hinweis, dass er nach wie vor das Militär verabscheue und sich eine internationale Polizeitruppe vorstellen könne, da es diese aber noch nicht gebe, müsse eben militärisch gehandelt werden.
 

Ich meine, dass wir uns heute in einer vergleichbaren Situation, aber unter sehr viel günstigeren Voraussetzungen, befinden. So wie rationale Pazifisten eine rechtsstaatlich (und demokratisch) kontrollierte Polizei innerhalb von Staaten nicht ablehnen, so können sie angemessene internationale Polizeiaktionen als Schutz- und Hilfsmaßnahmen für bedrängte und bedrohte Menschen auch nicht ablehnen. Ein gelungenes Beispiel ist der Polizeieinsatz während des Wahlkampfes in Namibia, an dem sich die Bundesregierung mit der Entsendung eines Kontingents des Bundesgrenzschutzes beteiligt hat. Dieser Polizeieinsatz hat wahrscheinlich Kämpfe (und Wahlfälschungen), wie sie bei ähnlichen Wahlen in anderen Umbruchstaaten immer wieder zu beobachten sind, verhindert. Generell lässt sich feststellen, dass erfolgreiche Blauhelmeinsätze auch mit internationalen Polizeieinheiten und zivilen Beobachtern zum Ziel geführt hätten. In den zahlreichen Fällen, in denen Blauhelmeinsätze scheiterten, haben ihnen auch ihre militärischen Potentiale nichts genutzt. Bezeichnend dafür war der fehlgeschlagene Somaliaeinsatz. Seither ist das (militärische) Blauhelmkonzept diskreditiert. Wir sollten andererseits zugeben, dass die SFOR-Streitkräfte in Bosnien und die KFOR-Truppen im Kosovo (beides keine VN-Friedensmissionen, sondern NATO-Einsätze!) in einem hohen Maße Polizeifunktionen übernommen haben. Nur ist das eine Sekundärfunktion, die Primärfunktion des Militärs bleibt erhalten, nämlich die tatsächlichen oder vermeintlichen Friedensstörer mit Waffengewalt zu bekämpfen.

Prinzipiell ist und bleibt Militär ungeeignet, Frieden zu stiften. Zunächst bedeutet jeder Einsatz von Streitkräften eine erneute Aufwertung der Rolle des Militärs innen- wie außenpolitisch und damit eine Behinderung des Aufbaus zivilgesellschaftlicher Strukturen. Die Befürwortung militärischer Interventionen liefert Vorwände für weitere (oder sogar wieder mehr) Rüstung und gegen Reduzierung von Streitkräften und verzögert somit den 1990 zunächst eingetretenen Abrüstungstrend (wie aus den Daten von SIPRI und BICC eindeutig ablesbar). Sie liefert auch Vorwände für ganz andere offene und verdeckte Absichten, wie sie etwa dem Naumann-Papier (z.B. weltweite Ressourcensicherung) zu entnehmen sind.

Es besteht zudem keine Gewähr, dass solche Interventionen zu Erfolg führen. Im Falle des zweiten Golfkrieges sind erheblich mehr Menschen während der Intervention zu Tode gekommen (darunter viele Zivilpersonen) als durch die irakische Aggression gegen Kuwait zu beklagen waren. Zudem ist es nicht gelungen, eine wirkliche Friedenslösung herbeizuführen. Das Scheitern der Interventionen in Somalia ist offenkundig. Nordirland lehrt, dass der Einsatz hervorragend ausgebildeter Streitkräfte der britischen Armee über Jahre hinweg nicht in der Lage war, die Gewalt einzudämmen. Erst der Verzicht auf solche Einsätze machte den Weg zu einem zivilen Friedensprozess frei. Der tragische Fall Kosovo wirft die Frage auf, wer und was mit einem militärischen Einsatz der NATO bekämpft werden sollte (serbische Streitkräfte und/oder bewaffnete aufständische Albaner?), ohne dabei zahlreiche Zivilpersonen zu töten oder zu verletzen (was in den Armeeführungen zynischerweise mit "Kollateralschäden" bezeichnet wird).

Militärische Interventionen können neue Gewaltspiralen in Gang setzen. In Somalia waren dafür Anzeichen erkennbar. In Bosnien besteht die konkrete Gefahr, dass extremistische Serben und Kroaten SFOR-Soldaten angreifen. Daraus könnte ein jahrelanger Guerillakrieg entstehen, der noch mehr Tote fordert. Auch die Kosovo-Intervention läuft Gefahr, sich auf Macedonien und Albanien (und Montenegro) auszuweiten.

Der Aufwand für die Durchführung der Interventionen ist konterproduktiv zu den nichtmilitärischen Hilfeleistungen. In Somalia kosteten die drei Interventionen 3,5 Milliarden US$, der Wert humanitärer Hilfe belief sich auf ziemlich genau ein Zehntel, nämlich 350 Millionen US. Ähnliches gilt für Bosnien und das Kosovo. Der hohe Aufwand für die militärische Intervention verhinderte den vollen Aufbau der in der Dayton-Übereinkunft ebenfalls vorgesehen Internationalen Polizeitruppe (IPTF). Weder im Falle Somalias noch im Falle Bosniens und des Kosovo ist ernsthaft geprüft worden, ob die Bereitstellung von Hilfen größeren Ausmaßes die Konfliktparteien nicht doch an einen Tisch gebracht hätte, zumal klar ist, dass solche Hilfen tatsächlich nur gezahlt würden, wenn die Gewaltakte beendet werden.

Zentrale Bedingungen für militärische Einsätze gemäß VN-Charta wurden zu keinem Zeitpunkt erfüllt, ja von amerikanischer Seite (aber nicht nur von amerikanischer Seite) zielgerichtet blockiert. Sie standen nicht unter VN-Kommando, wie in der Charta ausdrücklich vorgesehen, sondern wurden von international zusammengesetzten Verbänden (meist unter amerikanischen Oberkommando), darunter in Bosnien von der NATO, lediglich "im Auftrag" der VN durchgeführt. Im Falle des Kosovo wurde sogar absichtlich unter Umgehung der VN gehandelt. Die Anerkennung der Einsätze in den betroffenen Bevölkerungen leidet darunter.

Die Selektion von Konfliktherden, wo militärische Interventionen geboten sein könnten (im Verständnis ihrer Befürworter), ist außerordentlich schwierig. Die Entscheidung, wo, wann und wie interveniert werden soll, unterliegt fast zwangsläufig opportunistischer Einschätzung, vor allem seitens der amerikanischen Regierung (und des US-Senats). Warum wurde nicht in Ruanda interveniert, warum nicht im Sudan, wo in den letzten Jahren mehr Menschen zu Tode gekommen sind als in allen anderen Konfliktregionen zusammen?

Militärinterventionen bleiben letztlich doch in nationaler Verantwortung und damit einseitiger Parteinahme und Interessenwahrnehmung verdächtig. Um die notwendigen Polizeifunktionen erfüllen zu können, müssen ganz andere Voraussetzungen gegeben sein. Die Angehörigen einer Polizeieinheit müssen von vornherein und grundsätzlich aus verschiedenen Staaten rekrutiert sein, sie müssen über (zumindest rudimentäre) Sprach- Rechts- und Situationskenntnisse verfügen und mit örtlichen Polizeikräften, soweit solche noch existieren, zusammenarbeiten. Sie sollen durchaus leicht bewaffnet sein, wozu auch gepanzerte Fahrzeuge und Aufklärungsflugzeuge/Hubschrauber gehören, nicht aber schwere Panzer, schwere Artillerie und Kampfflugzeuge. Es ist denkbar, dass entsprechend geeignete Angehörige bestehender militärischer Streitkräfte in solche Einheiten übernommen werden, wenn sie zuvor einer ganz anderen Ausbildung unterzogen wurden, die in mancher Hinsicht der allmählich in Gang kommenden, wenn auch immer noch unzureichenden Ausbildung von zivilen Friedensdienstleistenden ähneln sollte.

Ich schätze, dass dazu deutscherseits Kontingente zwischen 50.000 und 80.000 Personen (Frauen eingeschlossen) ausgebildet werden müssen, um jederzeit bis zu 20.000 PolizistInnen einsatzbereit zu halten, wobei zu überlegen ist, wie von vorn herein die internationale Zusammenarbeit organisiert werden kann. Ich stelle mir vor, dass deutsche Angehörige einer IPF (International Police Force) gemeinsam mit Angehörigen anderer Staaten ausgebildet und kaserniert werden. Das muss nicht zahlenmäßig ausgewogen sein. Beispielsweise könnten in Deutschland jeweils einhundert Franzosen, Schweden, Polen, Russen, Niederländer, Kenyaner, Argentinier, Japaner und Malaysianer (und andere) und umgekehrt zwischen 500 und 1000 deutsche Angehörige der IPF ständig (jeweils zu hundert) in den Partnerländern "dienen".

Gegen diesen Vorschlag wird häufig eingewandt, dass es sich um einen Etikettenschwindel handle, weil die beschriebenen polizeilichen Interventionen doch wieder militärischem Einsätzen gleich kämen. Das ist nicht der Fall. Allein schon die Rechtslage ist wichtig. Bei militärischen Kampfeinsätzen kommt es nach wie vor darauf an, dass so viel gegnerische Kombattanten wie möglich "ausgeschaltet" werden, was in der Regel auf Tötung im Kampf hinausläuft. Der einzelne Soldat oder Offizier braucht sich (unter Bedingungen eines Kampfeinsatzes!) nicht zu rechtfertigen, wie viele "Gegner" (einschließlich Zivilpersonen) getötet wurden. Der Polizist ist dagegen dem Schutz des Menschen verpflichtet, auch des Rechtsbrechers, er wird für jeden Schuss zur Rechenschaft gezogen, so wie dies im nationalen Recht die Regel ist. Selbstverständlich darf auch ein Polizeieinsatz nur im Rahmen einer Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat erfolgen. Für mögliche (straf)rechtliche Würdigungen wären internationale Gerichtshöfe zuständig, wie es im Falle Ex-Jugoslawiens und Ruandas bereits der Fall ist. Damit wären - auch ohne "Weltregierung" - die rechtlichen Voraussetzungen für eine wirklich einsatzfähige internationale Polizeitruppe gegeben.

Es bleibt freilich das Problem, dass wir eine solche Polizei noch nicht, beziehungsweise erst in Ansätzen haben. Hier sollte ein pragmatisches Vorgehen im Rahmen einer Doppelstrategie möglich sein: unter der Voraussetzung, dass über die Schaffung solcher internationaler Polizeieinheiten Konsens erzielt sowie mit Ausbildung und Aufstellung ernsthaft begonnen wird, könnte übergangsweise auch über herkömmliche militärische Interventionen Übereinkunft erzielt werden, allerdings nur, wenn diese eindeutig dem VN-Sicherheitsrat und dem VN-Generalsekretär unterstellt und ausreichende Finanzmittel bereit gestellt werden. Eine entsprechend klare Aufwertung der Vereinten Nationen wäre zugleich geeignet, die zu beobachtenden Blockierungen im Sicherheitsrat durch ein Veto der ständigen Mitglieder zu vermeiden.

Ein solches Konzept würde es meines Erachtens erlauben, sowohl pazifistische Grundsätze durchzuhalten als auch Fortschritte mit Blick auf eine Entmilitarisierung der Gesellschaft zu erzielen, ohne deshalb gefährdete Menschen eines wirksamen Schutzes zu berauben.

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Karlheinz Koppe ist ehemaliger Leiter der Bonner Arbeitsstelle Friedensforschung.