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"Wir haben gemerkt, wieviele wir sind"
von"Osteuropa - Müllkippe des Westens" - so stand es am 20. Februar auf einem Transparent slowakischer Umweltschützer. Sie hatten in Schutzanzügen und Gasmasken an der Bahnstation Nove Zamky gegen einen Atomtransport protestiert, der in Deutschland seit Wochen Schlagzeilen machte. Es gehört zu den Schattenseiten der Medienöffentlichkeit, daß die slowakischen und ungarischen Proteste nicht einmal wahrgenommen wurden.
Es war der Tag des Castortransportes, der von Lubmin am Greifswalder Bodden über Eberswalde, Frankfurt, Cottbus, Dresden und Bratislava nach Paks in Ungarn führte. Dieser Transit von 235 radioaktiven Brennelementen (Verkaufswert: eine symbolische Mark) spart dem Atomkraftwerk Paks einen Neukauf von Uran, der ihm umgerechnet 30 - 40 Millionen Mark kosten würde. Den gleichen Betrag spart die Energiewerke Nord GmbH in Lubmin für die Entsorgung vor Ort. Die ganze Geschichte - offiziell als "europäische Bruderhilfe" propagiert - reduziert sich auf einen Deal der beteiligten Firmen (auch die Tschechische Staatsbahn kassierte: 53.000 Mark Transitgebühr).
Paks ist baugleich mit den Greifswalder Meilern 5 - 8. Der Block 5 mußte 1990 aus sicherheitstechnischen Gründen vom Netz gehen und die Blöcke 6 - 8 durften nicht weiter gebaut werden. Auch Paks weist gravierende Sicherheitsmängel laut Dr. Helmut Hirsch, GREENPEACE-Atomexperte in Hamburg, auf.
Die geplante Entsorgung des Lubminer Urans soll in der russischen Anlage RT-1 in Majak/Ural erfolgen. Majak ist Teil eines Militärkomplexes zur Plutoniumgewinnung. Seine Umgebung ist eine der am schwersten radioaktiv verseuchten Regionen der Welt.
Trotz Blockaden und massiver Kritik durch GREENPEACE, regionalen und überregionalen Umweltgruppen konnte der Transport nicht verhindert werden.
Für uns Greifswalder Anti-Atom- und Umweltgruppen ist nach vielenWochen voller Aktionen (vor dem Atomkraftwerk, ringsum auf den Dörfern und in Greifswald) der "Alltag" wiedergekehrt. Viele bereiten Veranstaltungen vor zum Gedenken an den Reaktorunfall von Tschernobyl.
Die 1989 entstandene Bürgerinitiative Kernenergie (BI) hat kurz vor Weihnachten in wenigen Wochen rund 15 000 Unterschriften für eine öffentliche Anhörung gesammelt. Diese befaßt sich mit dem fast fertiggestellten "Zwischenlager Nord für atomare Abfälle" (ZLN), das sechzehnmal größer als Gorleben ist. Die Anhörung, die für April geplant ist, muß gut vorbereitet werden, wenn sie
Erfolg haben soll.
Mitglieder der Initiative und Anwohner des Kraftwerkes haben zudem seit eineinhalb Jahren Klage gegen mehrere Detailgenehmigungen des ZLN eingereicht. Der Grund: atomrechtliche Genehmigungen fehlen bislang ebenso wie eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Es bestehen zudem begründete Befürchtungen, daß hier nicht nur Atommüll aus Rheinsberg und Lubmin eingelagert wird, sondern auch aus anderen Atomanlagen Europas.
Im Februar verlangte die Klägergemeinschaft schließlich Baustopp vor Gericht. Dennoch wird weitergebaut. Wie der Prozess ausgeht, ist ungewiß. Inzwischen müssen jedoch die Anwaltskosten überwiesen werden - insgesamt bisher mehrere tausend Mark. Dreimal so viel wird noch erwartet. Das Geld immer wieder zu beschaffen, ist nicht leicht für unsere Initiative.
Eine zweite Anti-Atom-Initiative, die 1995 gegründete Bürgergruppe "Maikäfer flieg", hat sich vor allem die Aufklärung der Bevölkerung über das Strahlenrisiko in der Region Vorpommern zum Ziel gesetzt. Die Auswertung des jetzt als Buch erschienenen DDR-Krebsregisters wird ebenso versucht wie Befragungen in den Dörfern, etwa nach Leukämiefällen.
Eine dritte Gruppe von Atom-Gegnern stellen die jungen Leute der Greifswalder Umwelt-Szene dar, zu der - wenn das Semester läuft - auch Studenten der Ernst-Moritz-Arndt-Universität gehören.
Die zurückliegenden sechs Aktionswochen, die vor dem Hintergrund des Paks-Transportes auf das globale Problem der Kernenergie aufmerksam machen sollten, haben uns hier an der Küste Mut gemacht: Wir haben gemerkt, wie viele wir sind. Wochenlang, Sonntag für Sonntag, standen wir vereint auf dem Anschlussgleis vor dem Tor 19 des Lubminer Kraftwerks. In eisiger Kälte, von Polizei und Werkskameras gut bewacht, führten wir unsere "Anti-Atom-Picknicks" durch. Bei Tee, Grog, Schmalzbrötchen und Kuchen sangen wir stundenlang unseren Protest in den rauen Wind.
Wir fordern, daß Greifswald nicht durch ein riesiges Atommüllzwischenlager und verschiedene Verarbeitungsanlagen zur gesamtdeutschen Atommüllkippe wird. Deshalb ist der sofortige Ausstieg aus der Atomindustrie hier und heute umzusetzen.
Kontakt: BI Kernenergie e.V. zur Förderung alternativer Energiekonzepte; c/o Dr. Rosmarie Poldrack, Fleischerstraße 22, 17489 Greifswald; Tel/Fax 03834-89 21 50.
Spendenkonto für Klagen: Kto-Nr. 528 999 8; BLZ 120 96 597, beider Sparda Bank Berlin e.G.