"Wir haben gemerkt, wieviele wir sind"

von Thomas JeutnerRosmarie Poldrack
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"Osteuropa - Müllkippe des Westens" - so stand es am 20. Februar auf einem Transparent slowakischer Umweltschützer. Sie hatten in Schutz­anzügen und Gasmasken an der Bahnstation Nove Zamky gegen einen Atomtransport protestiert, der in Deutschland seit Wochen Schlagzeilen machte. Es gehört zu den Schattenseiten der Medienöffentlichkeit, daß die slowakischen und ungarischen Proteste nicht einmal wahrgenom­men wurden.

Es war der Tag des Castortransportes, der von Lubmin am Greifswalder Bod­den über Eberswalde, Frankfurt, Cott­bus, Dresden und Bratislava nach Paks in Ungarn führte. Dieser Transit von 235 radioaktiven Brennelementen (Verkaufswert: eine symbolische Mark) spart dem Atomkraftwerk Paks einen Neukauf von Uran, der ihm umgerech­net 30 - 40 Millionen Mark kosten würde. Den gleichen Betrag spart die Energiewerke Nord GmbH in Lubmin für die Entsorgung vor Ort. Die ganze Geschichte - offiziell als "europäische Bruderhilfe" propagiert - reduziert sich auf einen Deal der beteiligten Firmen (auch die Tschechische Staatsbahn kas­sierte: 53.000 Mark Transitgebühr).

Paks ist baugleich mit den Greifswalder Meilern 5 - 8. Der Block 5 mußte 1990 aus sicherheitstechnischen Gründen vom Netz gehen und die Blöcke 6 - 8 durften nicht weiter gebaut werden.  Auch Paks weist gravierende Sicher­heitsmängel laut Dr. Helmut Hirsch, GREENPEACE-Atomexperte in Ham­burg, auf.

Die geplante Entsorgung des Lubminer Urans soll in der russischen Anlage RT-1 in Majak/Ural erfolgen. Majak ist Teil eines Militärkomplexes zur Plutonium­gewinnung. Seine Umgebung ist eine der am schwersten radioaktiv verseuch­ten Regionen der Welt.

Trotz Blockaden und massiver Kritik durch GREENPEACE, regionalen und überregionalen Umweltgruppen konnte der Transport nicht verhindert werden.

Für uns Greifswalder Anti-Atom- und Umweltgruppen ist nach vielenWochen voller Aktionen (vor dem Atomkraft­werk, ringsum auf den Dörfern und in Greifswald) der "Alltag" wiedergekehrt. Viele bereiten Veranstaltungen vor zum Gedenken an den Reaktorunfall von Tschernobyl.

Die 1989 entstandene Bürgerinitiative Kernenergie (BI) hat kurz vor Weih­nachten in wenigen Wochen rund 15 000 Unterschriften für eine öffentliche Anhörung gesammelt. Diese befaßt sich mit dem fast fertiggestellten "Zwischenlager Nord für atomare Ab­fälle" (ZLN), das sechzehnmal größer als Gorleben ist. Die Anhörung, die für April geplant ist, muß gut vorbereitet werden, wenn sie

Erfolg haben soll.

Mitglieder der Initiative und Anwohner des Kraftwerkes haben zudem seit ein­einhalb Jahren Klage gegen mehrere Detailgenehmigungen des ZLN einge­reicht. Der Grund: atomrechtliche Ge­nehmigungen fehlen bislang ebenso wie eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Es bestehen zudem begründete Befürch­tungen, daß hier nicht nur Atommüll aus Rheinsberg und Lubmin eingelagert wird, sondern auch aus anderen Atom­anlagen Europas.

Im Februar verlangte die Klägergemein­schaft schließlich Baustopp vor Gericht. Dennoch wird weitergebaut. Wie der Prozess ausgeht, ist ungewiß. Inzwischen müssen jedoch die Anwaltskosten überwiesen werden - insgesamt bisher mehrere tausend Mark. Dreimal so viel wird noch erwartet. Das Geld immer wieder zu beschaffen, ist nicht leicht für unsere Initiative.

Eine zweite Anti-Atom-Initiative, die 1995 gegründete Bürgergruppe "Maikäfer flieg", hat sich vor allem die Aufklärung der Bevölkerung über das Strahlenrisiko in der Region Vorpom­mern zum Ziel gesetzt. Die Auswertung des jetzt als Buch erschienenen DDR-Krebsregisters wird ebenso versucht wie Befragungen in den Dörfern, etwa nach Leukämiefällen.

Eine dritte Gruppe von Atom-Gegnern stellen die jungen Leute der Greifs­walder Umwelt-Szene dar, zu der - wenn das Semester läuft - auch Studen­ten der Ernst-Moritz-Arndt-Universität gehören.

Die zurückliegenden sechs Aktionswo­chen, die vor dem Hintergrund des Paks-Transportes auf das globale Pro­blem der Kernenergie aufmerksam ma­chen sollten, haben uns hier an der Kü­ste Mut gemacht: Wir haben gemerkt, wie viele wir sind. Wochenlang, Sonntag für Sonntag, standen wir vereint auf dem Anschlussgleis vor dem Tor 19 des Lubminer Kraftwerks. In eisiger Kälte, von Polizei und Werkskameras gut be­wacht, führten wir unsere "Anti-Atom-Picknicks" durch. Bei Tee, Grog, Schmalzbrötchen und Kuchen sangen wir stundenlang unseren Protest in den rauen Wind.

Wir fordern, daß Greifswald nicht durch ein riesiges Atommüllzwischenlager und verschiedene Verarbeitungsanlagen zur gesamtdeutschen Atommüllkippe wird. Deshalb ist der sofortige Ausstieg aus der Atomindustrie hier und heute umzusetzen.

Kontakt: BI Kernenergie e.V. zur Förderung alternativer Energiekon­zepte; c/o Dr. Rosmarie Poldrack, Fleischerstraße 22, 17489 Greifs­wald; Tel/Fax 03834-89 21 50.

Spendenkonto für Klagen: Kto-Nr. 528 999 8; BLZ 120 96 597, beider Sparda Bank Berlin e.G.

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Thomas Jeutner ist Mitglied bei BI Kernenergie Greifs-wald e.V. zur Förderung alternativer Energiekonzepte.
Rosmarie Poldrack ist Mitglied bei BI Kernenergie Greifs-wald e.V. zur Förderung alternativer Energiekonzepte.