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Interview mit dem britischen Historiker und END-Mitbegründer Edward P.Thompson über die Perspektiven der europäischen Friedensbewegung
Wir müssen die Zuversicht in die Demokratie neu erarbeiten
vonDer britische Historiker Edward P.Thompson ist einer der führenden europäischen Intellektuellen und engagierte sich seit 1980 an prominenter Stelle für die Europäische Bewegung für atomare Abrüstung (END). Zum Abschluß der diesjährigen END-Konferenz stellte der Züricher Politikwissenschaftler Andreas Gross dem Briten einige Fragen zum Zustand und den Perspektiven der europäischen Friedensbewegung.
Hat der Erfolg der alten Ideen der europäischen Friedensbewegung (Annäherung der Blöcke, Abrüstung und Kooperation statt Konfrontation) nun ihr Schicksal besiegelt?
E.P.T.: Nein. Ich glaube nicht, daß wir wirklich Erfolg gehabt haben. Wir waren erfolgreich, indem wir Veränderungen im Bewußtsein von vielen Menschen auslösten und neue Fragestellungen zu europäischen Themen machten. Doch die Blöcke gibt es immer noch, ebenso zu viele Waffensysteme: Unsere Ziele sind also noch lange nicht erreicht. 1989/90 haben wir höchstens einen einseitigen Erfolg errungen: Landesgrenzen wurden durchlässiger, die Blockkonfrontation nahm ab, viel mehr Menschen können nun aufeinander zu gehen und in einigen mitteleuropäischen Staaten sowie in der Sowjetunion fanden begeisternde Entwicklungen statt. Doch auf der NATO-Seite vermisse ich entsprechende Konzessionen. Deshalb haben wir nicht einmal bezüglich der Waffensysteme viel erreicht; doch ich denke, das wird noch kommen.
Weshalb vermochte die europäische Friedensbewegung im Westen die revolutionären Entwicklungen Ost-und Mitteleuropas nicht besser zu nutzen?
E.P.T.: Weil die Ereignisse so rasch aufeinander folgten, die Entwicklung so schnell vor sich ging. Weil wir als Bewegung im Protest stärker sind als im schöpferischen Aufbau neuer Verhältnisse. Und weil wir insofern ineffizient sind, weil wir nicht über Strukturen verfügen, die mit den Entwicklungen im vergangenen Herbst Schritt halten und sie entsprechend begleiten konnten. -Wir müssen diese Abwartehaltung nun allerdings endlich überwinden. Denn wir befinden uns immer noch in einem eher seltenen, günstigen Augenblick, in dem Strukturen beeinflußt, Einstellungen geprägt werden können. Wenn uns dies bis Ende dieses Jahres nicht gelingt, dann bedroht uns ein neuer, modifizierter Kalter Krieg, der uns dann wiederum vielleicht zwanzig Jahre belasten könnte. Wir sollten vor allem verhindern, daß es der NATO gelingt, die deutsche Frage so zu lösen, wie sie derzeit will, nämlich durch ihre Expansion in die DDR. Dem müssen wir uns widersetzen.(...)
Welches wären die strukturellen Ziele, welche die Friedensbewegung jetzt anstreben müßte, um nicht erneut eine gute Gelegenheit zu verpassen?
E.P.T.: Es gibt derzeit einige gute Vorschläge und Optionen, die wir aufnehmen müßten. Ich denke vor allem an die Vorschläge der tschechischen Regierung, welche vor allem den Helsinki-KSZE-Prozeß mit 35 Staaten weiterentwickeln und ausbauen möchten. Auch der DDR-Abrüstungsminister Eppelmann macht gute Vorschläge und fordert die NATO auf, nicht zu weit zu gehen...Schließlich gibt es auch Vorschläge für gegenseitige kollektive Sicherheitsabkommen, die vor allem von der SPD betont werden. All diese Anregungen müßten ernsthafter diskutiert werden, ohne daß ich mich von vornherein auf eine festlegen möchte. Denn wenn wir erfolgreich sein wollen, dann wird dies die Verbesserung einzelner solcher Vorschläge sein, wir werden uns kaum mit einer eigenen Idee ganz durchsetzen können. Möglicherweise sind unsere Chancen bezüglich Ausbau des KSZE-Prozesses am größten.
Wie beurteilen Sie den Widerspruch, daß in Ost-und Mitteleuropa im Namen der Demokratie ganze Revolutionen gelingen, im Westen aber, der immer so viel Demokratie für sich beansprucht, die Tendenz der Entdemokratisierung im Zuge der EG-isierung, der Globalisierung der Wirtschaft oder des vorherrschenden ôkonomismus, wenige zu stören, jedenfalls auch für die Friedensbewegung kein Thema zu sein scheint?
E.P.T.: Ich beobachte diese Widersprüchlichkeit auch. Allerdings denke ich nicht, daß in Ost-und Mitteleuropa einfach die politischen Systeme und Institutionen des Westens übernommen werden dürften. Denn wenn die Menschen dort einmal realisieren werden, was die sozialen Konsequenzen eines gänzlich freien Marktes sein werden, dann werden sie sich wohl älterer Erkenntnisse erinnern und diese möglicherweise mit den neuen Gegebenheiten zu qualitativ neuen Systemen der demokratischen Verteilung von volkswirtschaftlichen Leistungen und Ressourcen zusammenführen.
Doch es stimmt, daß in Ost und West viele Intellektuelle wenig tun für eine echte Demokratisierung der Gesellschaft. Im Westen, denke ich, wenden sich viele Intellektuelle vom Volk ab, weil sich dieses von Rechtspopulisten Ö la Reagan, Thatcher oder Haider so effizient hat verführen lassen. Im Osten haben die langen Jahre des Konformismus ebenfalls viele die Zuversicht in die Mobilisierung der emanzipativen Kräfte der Bevölkerung valvieren lassen. (...) Andererseits haben wir in den vergangenen drei Jahren doch einen Aufschwung für die Idee der Demokratie beobachten können in vielen Teilen der Welt. Und dennoch haben zu viele die Zuversicht in die Chancen der Demokratie verloren; doch diese Zuversicht müssen wir uns wiederum erarbeiten.
Das Interview ist in voller Länge in der österreichischen Zeitung "Der Standard" erschienen