Dokumentation: Erklärung von Marianske Lazne (Marienbad)

Wir sind für gute Nachbarschaftsbeziehungen

Ergebnis eines deutsch-tschechischen Dialoges aus Anlaß des 50. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges

Als Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik, die sich in der Friedensbewegung engagieren, fühlen wir uns legitimiert, zum gegenwärtigen Stand der deutsch-tschechischen Beziehungen Stellung zu nehmen und Vorschläge zu ihrer Verbesserung zu unterbreiten.

Die Grundsätze guter Nachbarschaft wurden im Weltmaßstab durch die "Charta der Vereinten Nationen" formuliert und in der "Deklaration der Prinzipien der Beziehungen zwischen den Staaten" der Schlußakte von Helsinki für den europäischen Kontinent konkretisiert.

Nach 1989 erweiterten sich die Möglichkeiten der Zusammenarbeit, wobei wichtige Impulse von den Reden der Präsidenten Vaclav Havel und Richard von Weiszäcker ausgingen, die darum bemüht waren, die gegenseitige Atmosphäre zu verbessern.

Als Teil der Friedensbewegung können wir zusätzlich an die guten Erfahrungen anknüpfen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aus Begegnungen zwischen den Bürgern und Bürgerinnen unserer beiden Länder sowie bei der Zusammenarbeit ihrer demokratischen und humanistischen Organisationen gesammelt wurden.

Ungeachtet belastender Fakten der Vergangenheit, die man nicht mehr ändern kann, ist es jetzt notwendig, den Blick nach vorn zu richten. Wir haben die Chance, die Realität in Gegenwart und Zukunft so zu beeinflussen, daß die stabilen, friedlichen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern und Völkern aufrechterhalten und entwickelt werden, damit wir die Vorteile der Zusammenarbeit und gegenseitig nützlicher Kontakte genießen können.

1) Der gegenwärtige Stand der deutsch-tschechischen Beziehungen entspricht weder den Bedürfnissen noch den Möglichkeiten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf beiden Seiten gibt es jedoch Bereitwilligkeit zu ihrer Verbesserung. Sie kann und muß im Interesse der Bürger und Bürgerinnen beider Länder genutzt werden.

2) In der Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen sind zwei Grundlinien aufzuspüren. Einerseits gibt es die Linie der Feindschaft, der Kämpfe, des Leidens und des Unrechts, andererseits die Linie der friedlichen Kontakte, der gleichberechtigt und gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit. Die Linie der Feindschaft, die ihren stärksten Ausdruck in der verbrecherischen Politik des nazistischen Deutschlands, einschließlich der Liquidierung der Tschechoslowakei als selbständigen Staat fand, mußten nicht nur das tschechische, sondern auch das deutsche Volk teuer bezahlen.

Jede Bestrebung, die Uhr der Geschichte zurückzustellen, würde eine Erneuerung der feindlichen Linie in unseren Beziehungen bedeuten und neue Risiken heraufbeschwören. Es ist deswegen vor allem der Wiederbelebung all dessen vorzubeugen, was in der Vergangenheit die deutsch-tschechischen Beziehungen belastet hat.

3) Auf beiden Seiten wurden inzwischen Schritte unternommen, die angesichts der bitteren Erfahrungen der Vergangenheit darauf abzielten, neues Vertrauen zu bilden und das gegenseitige Verständnis zu stärken und vertiefen. Dazu gehört das gesamte nach dem 2. Weltkrieg entstandene Vertragswerk zwischen unseren Staaten.

4) Die deutsch-tschechischen Beziehungen können sich positiv entwickeln, wenn - ungeachtet der Unterschiede hinsichtlich der territorialen Größe, der Bevölkerungszahl, der ökonomischen und militärischen Macht unserer beiden Länder - das Prinzip der souveränen Gleichheit in den zwischenstaatlichen Beziehungen und in den Angelegenheiten der Praxis präzise berücksichtigt wird.

5) Zu den Voraussetzungen einer friedlichen Entwicklung der deutsch-tschechischen Beziehungen gehört auch die innere ökonomische und soziale Stabilität der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik als Bedingung für die Geltendmachung der Demokratie. Ökonomische und soziale Instabilität sowie Einschränkung der Demokratie in unseren Ländern würde ähnlich wie in der Vergangenheit die Bedingungen für nationalen und andersgearteten Haß schaffen.

6) Für die positive Entwicklung unserer Beziehungen spielt die Ökonomie - gerade auch unter den Bedingungen des beabsichtigten vollen Beitritts der Tschechischen Republik zur Europäischen Union - eine entscheidende Rolle. Falls das Aufkaufen tschechischer Unternehmen durch deutsches Kapital oder seine Beteiligung in diesen Unternehmen im Rahmen der Privatisierung in der Tschechischen Republik nicht zur Unterstützung, sondern zur Hemmung der ökonomischen Entwicklung führen würde, kann man davon ausgehen, daß dies auf tschechischer Seite Bedingungen für einen "Schutznationalismus" schaffen würde und damit eine Belastung der gegenseitigen Beziehungen zur Folge hätte. Die Enttäuschung großer Erwartungen und Versprechungen würde neues Ressentiment und neue Feindbilder hervorrufen.

7) Für gute Nachbarschaftsbeziehungen ist eine gegenseitige Informiertheit, die die objektive Realität in unseren beiden Ländern widergespiegelt, von großer Bedeutung. Sie erschwert die Schaffung von Feindbildern auf der jeweils anderen Seite. Die vollständige Durchlässigkeit unserer Staatsgrenzen für die Bevölkerung beider Staaten hat die Voraussetzungen geschaffen, daß die Bürgerinnen und Bürger auf Grund von konkreten, persönlichen Erfahrungen ein eigenes Bild über ihr Nachbarvolk bekommen können.

8) Die deutsch-tschechischen Beziehungen sind nicht nur die Angelegenheit der Regierungen. Es ist notwendig, direkte Beziehungen zwischen den Menschen zu entwickeln und zu fördern, wobei die Gewohnheiten und Gesetze des besuchten Landes beachtet und eingehalten werden müssen.

Die Fortentwicklung direkter Beziehungen zwischen den Bürgern unserer Länder wird durch eine Sprachbarriere behindert. Aus diesem Grund wäre es sinnvoll, Bedingungen für das Erlernen der tschechischen Sprache an deutschen Schulen zu schaffen, um den Deutschen eine unmittelbare Erkenntnis des Lebens, der Menschen, der Kultur und der Entwicklung der inneren Situation in der Tschechischen Republik zu ermöglichen. Die materiellen Bedingungen für den Austausch von Schülern und Studenten sowie für längere Studienaufenthalte müssen dringend verbessert werden. Städtepartnerschaften und Kontakten zwischen Berufsorganisationen kommt eine wichtige Bedeutung bei der Vertiefung unserer gegenseitigen Beziehungen zu.

9) Die Zukunft der Deutschen und Tschechen gleich wie der anderen europäischen Nationen liegt im vereinigten Europa, ohne Isolierung irgendeines Staates von einem anderen, und ohne ökonomische, politische oder militärische Vorherrschaft eines Staates über einen anderen. Dieses Ziel kann durch freundschaftliche und gleichberechtigte Zusammenarbeit, durch Harmonisierung der Volkswirtschaften und gemeinsamen Fortschritt auf ökologischem und sozialem Gebiet gefördert und im Rahmen einer gesamteuropäischen Integration Schritt für Schritt verwirklicht werden. Die Grundlage dazu bilden die von den Repräsentanten aller europäischer Staaten abgestimmten Prinzipien und Dokumente der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Dazu möchten wir unseren Beitrag leisten. Ihr alle, die Ihr für gute deutsch-tschechische Nachbarschaftsbeziehungen seid, schließt Euch uns an.

Berlin und Praha - Januar 1995

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