Korea

Wohl die gefährlichsten Bedrohungen des Weltfriedens

von Karl Grobe

Die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel und in den Meeren ringsum sind derzeit wahrscheinlich die gefährlichsten Bedrohungen des Weltfriedens – der Abwesenheit von Krieg zwischen Staaten –, drei Nuklearmächte und zusätzlich eine militärisch aufstrebende Handels- und Industriemacht sind beteiligt. Die Großmächte USA und China direkt, Russland und Japan indirekt. Die Interessengegensätze zwischen ihnen komplettieren und komplizieren die Situation.

Mitte April trafen die Häupter zweier dieser Staaten zusammen. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping besuchte den amerikanischen Präsidenten-Neuling Donald Trump in Florida und machte ihm zehn Minuten lang die verzwickten Beziehungen zwischen China und den USA klar. Danach erklärte der Gastgeber, er habe etwas verstanden, dass nämlich China gar nicht so große Macht über Nordkorea habe. Er habe übrigens einen Flugzeugträger dorthin geschickt. Offenbar hatte Trump die Zielgebiete verwechselt. Das erwähnte Kriegsschiff steuerte nämlich zunächst indonesische Gewässer an, erreichte aber den koreanischen Hafen Pusan noch rechtzeitig vor dem Ende des alljährlichen Großmanövers. Dass Trump im selben öffentlichen Statement sich aller Details eines köstlichen Schokoladenkuchens erinnerte, aber Syrien – Angriffsziel von 59 Tomahawk-Lenkraketen – und Irak verwechselte, könnte Schlüsse auf seinen Lernprozess anregen. Andererseits deutete der Abwurf der größten verfügbaren „konventionellen“ Bombe auf ein vermutetes Taliban-Tunnelsystem in Afghanistan an, dass der US-Präsident nun Gefallen an der Weltpolizistenrolle gefunden haben mag, die der Kandidat Trump noch abgelehnt hatte.

Kriegsübungen
Die „unberechenbare Persönlichkeit“ Trumps veranlasste die Seouler Tageszeitung Korea Herald, öffentlich darüber nachzudenken, ob der Präsident gegen Nordkorea ebenso vorgehen werde wie gegen Syrien. Die Flottendemonstration der USA vor Nordkoreas Küste wirkte als glatte Drohung. Die Voice of America (VoA) berichtete, das atomgetriebene U-Boot USS Michigan habe Südkorea erreicht, die Kriegsmarinen der USA und Südkorea „schlossen sich denen Japans an“ und hielten gemeinsame Militärmanöver im Seegebiet westlich von Korea ab – was, falls es zutrifft, Fragen nach der Friedensklausel (Artikel 9) der japanischen Verfassung aufwirft. Die 2017 wie alljährlich unter dem Namen Foal Eagle abgehaltene Kriegsübung war die bisher größte seit 2000 (damals mit 30.000 US-Soldaten und 500.000 südkoreanischen Soldaten), und sie enthielt zwei Besonderheiten: Geprobt wurden ein Landemanöver und (in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen) der „Enthauptungsschlag“ eines Spezialkommandos gegen die nordkoreanische Führung.

Zur gleichen Zeit beging das nordkoreanische Regime zwei hohe Feiertage: den „Tag der Sonne“, den 105. Geburtstag des Staatsgründers Kim Il Sung, und den 85. Gründungstag der Volksarmee (genauer: jener Partisanenverbände, die 1932 den Unabhängigkeitskrieg gegen Japan begonnen). Beide Anlässe werden traditionell mit Raketenstarts und eventuell Atomwaffentests gefeiert; die gewöhnlich hervorragend informierte Webseite 38 North hatte schon auf entsprechende Vorbereitungen an bekannten Test-Orten hingewiesen. Doch dann explodierte eine (vermutliche) Mittelstreckenrakete sofort nach dem Start. Der erwartete Atombombentest fand nicht statt. sondern ein Artilleriemanöver mit scharfer Munition nahe der weit im Norden liegenden Stadt Wonsan. Die Parteizeitung Rodong Sinmun nannte bei der Gelegenheit die Feuerkraft der Volksarmee „unbegrenzt“ wegen der „präzisen miniaturisierten Atomwaffen und von U-Booten aus abgefeuerten ballistischen Raketen“.

Grenzziehungen
Stoff genug für eine politische Zusammenkunft in Washington, die so nicht eben üblich ist: eine gemeinsame Sitzung aller hundert US-SenatorInnen hinter verschlossenen Türen. Die Minister Jim Mattis (Verteidigung) und Rex Tillerson (Außen) sowie der oberste Geheimdienstchef Dan Coats und Generalstabschef Joseph Dunford unterrichteten die VolksvertreterInnen, die in auswärtiger Politik ein gewichtiges Wort zu sprechen haben, besonders über Nordkorea. Vertrauliche Briefings auf dem Capitol Hill seien durchaus üblich, aber ein solches Plenum nicht, bemerkte die VoA. Es sei Bestandteil des erpresserischen amerikanischen Drucks, der einen umfassenden Krieg in Korea auslösen könne, kommentierte Nordkoreas Außenministerium. Der bewaffnete Konflikt schien kaum mehr vermeidbar.

Die polemische Schärfe der einen und die Eskalationsangst der anderen Seite, selbst wenn beides propagandistisch übertrieben ist, bleiben ohne Rückblicke in die Geschichte der Region unverständlich. Am Ende des Koreakriegs (1950-53) haben Nordkorea und „Waffenbruder“ China einerseits sowie die USA (agierend für die UN) den Waffenstillstandsvertrag unterschrieben. Südkorea, damals unter dem Diktator Syngman Rhees, verweigerte die Unterschrift und drohte bewaffnete Revanche an. Auch deswegen legten die USA eine Seegrenze (Northern Limit Line, NLL) drei bis fünf Seemeilen vor der nordkoreanischen Küste fest, die von südkoreanischen Schiffen unbedingt zu respektieren war und etwaige militärische Landungen verhindern sollte. Eine international anerkannte Grenze war dies nicht. Mit dem Beitritt beider Koreas zu internationalen Seerechtskonventionen (1972) wurde eine südlich der NLL verlaufende Grenze verbindlich, jetzt nach internationalem Recht, abgesichert. Das Seegebiet zwischen beiden Grenzen ist immer wieder Schauplatz bewaffneter Zusammenstöße, die oft das Potential zur Auslösung eines größeren Krieges hatten. Die jüngsten Foal Eagle-Manöver der USA und des Südens fanden in unmittelbarer Nähe dieser Streitzone statt.

Die Landgrenze, eine vier Kilometer breite Zone entlang der Waffenstillstandslinie (Demilitarized Zone, DMZ) von 1953, war ebenfalls Schauplatz von Zusammenstößen, mehrmals gruben nordkoreanische Einheiten Tunnel unter der DMZ. Auch solche Stoßtruppunternehmen wurden lokal abgewehrt und hatten keine größeren Folgen.

Südkorea und Nordkorea
Die unterschiedliche Entwicklung beider Staaten ist ein weiterer Konfliktpunkt. Südkorea blieb bis 1988 (erste freie Parlamentswahlen) eine harte, von Militärputschen unter Duldung durch die US-Militärpräsenz geprägte Diktatur, wandelte sich seit den neunziger Jahren zu einer funktionierenden Demokratie und erreichte eine rasche wirtschaftliche Entwicklung. Diese beruhte auf aggressiv wachsenden Konzernen (Chaebol), jahrzehntelangem Niedriglohnsystem, dagegen einer erst im 21. Jahrhundert wachsenden Gewerkschaftsbewegung und nun auch steigendem Wohlstand. Noch sind rund 25.000 US-Soldaten in Südkorea stationiert. Die Atomwaffen der USA wurden 1992 abgezogen.

Die nordkoreanische Einparteiendiktatur war zu dieser Zeit, noch unter Staatsgründer Kim Il Sung, dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten, hatte insgeheim aber einschlägige Programme entwickelt. 1994 stellte es diese im Rahmen eines mit den USA und Südkorea getroffenen Abkommens („Agreed Framework“) ein, baute aber ein Raketen- und Atomwaffenprogramm auf, nachdem (und wodurch) das Agreed Framework obsolet wurde. Kim Jong Il, der von 1994 bis 2011 herrschte, trieb diese Entwicklung unter der Parole Songun (Das Militär zuerst) energisch voran. Am 10. Februar 2005 erklärte die Regierung Kim Jong Ils, sie verfüge jetzt über einsatzfähige Kernwaffen. Aus dem Sperrvertrag war sie 2003 ausgetreten. Es folgten Atomwaffentests, bis 2017 insgesamt sechs, und zahlreiche Starts von Mittelstreckenraketen.

Unter Kim Jong Un, der 2011 auf Kim Jong Il folgte, wurde dieses Programm fortgesetzt. Aber nun wurden auch Wirtschaftsreformen eingeleitet, angefangen mit der Zulassung von Bauernmärkten und dem Zugeständnis an die Bauern, einen Teil der Produktion dort absetzen zu dürfen. Das Reform und Rüstung kombinierende neue Schlagwort heißt Byungjin, es kann (neben der Bezeichnung Jangmadang für den Markt) zum charakterisierenden Schlagwort der „Ära Kim Jong Un“ werden. Es entspricht jedenfalls dem widersprüchlichen Erscheinungsbild des dritten Kim in der öffentlichen Wahrnehmung: Einerseits Besuche von Popkonzerten und Vergnügungsparks (beides unerhörte Neuerungen), oft leger in Begleitung der Ehefrau; andererseits brutale Säuberungen und Morde: Onkel Jang Song Thaek, bis dahin zweitwichtigster Politiker in Pjöngjang, wurde in einer öffentlich übertragenen Parteisitzung wegen Fraktionsbildung verhaftet und umgehend erschossen. Spitzenfunktionäre der Partei und der Armee wurden ebenso liquidiert. Schließlich wurde Kim Jong Uns Halbbruder Kim Jong Nam in nordkoreanischem Auftrag in Malaysia ermordet. Daraus resultierte, dass der ja noch junge und wenig erfahrene Machthaber als absolut unberechenbar, aber jedenfalls gewaltbereit eingeschätzt wurde. Die nordkoreanische Atombewaffnung erschien als Welt-Gefahr.

Raketen-Abwehr
Die Stationierung eines Raketen-Abwehrsystems (Terminal High Altitude Area Defense, THAAD) durch die USA hat in diesem Kontext begonnen. Schutz für die Region um die südkoreanische Metropole Seoul, ein Gebiet mit 25 Millionen EinwohnerInnen, würde es kaum gewähren. Seoul ist nur 40 Kilometer von der Grenze entfernt – sogar in Schussweite nordkoreanischer Spezial-Artillerie, die grenznah stationiert und verbunkert ist. Seoul ist in der Situation einer Geisel. Auf dem Hintergrund der von Barack Obama initiierten Wendung nach Asien (Pivot on Asia) ist THAAD eher ein regionales Defensivsystem, gerichtet gegen China und Russland. Und zwar nicht gemäß der alten Voraussetzung, dass China einziger Verbündeter und Verteidiger Nordkoreas sei. Das hat sich gründlich geändert. Shen Zhihua, ein in Peking tonangebender Korea-Forscher, hatte im März in einer Rede ausgeführt: „China und Nordkorea sind nicht mehr Waffenbrüder“, und „die tiefere Ursache für die ständig wachsende Krise auf der koreanischen Halbinsel besteht darin, dass Nordkorea Atommacht geworden ist und immer wieder Atomtests durchführt“. Shen hatte außerdem herausgestrichen, dass auf lange Sicht (und im Grunde schon seit den neunziger Jahren) Südkorea und nicht der Norden der natürliche Partner Chinas sei. Der Text stand lange im Internet, was ohne Erlaubnis durch die Zensur kaum denkbar ist. China hatte zudem Kohlelieferungen zurückgeschickt und sich dabei erstmals auf Sanktionsbeschlüsse der UN bezogen. Schließlich verlegte China Truppen in das Grenzgebiet. Wang Yi, Außenminister in Peking, beschrieb die Eskalation der Krise mit dem Bild zweier aufeinander zurasender Züge und rief dazu auf, die Notbremse zu ziehen, und zwar durch Verhandlungen. Nordkorea kann also nicht mehr auf chinesische Langmut rechnen.

China als Vermittler?
Dafür plädierte Ehsan Arari, Forscher am Institut für Strategische Studien des US Army War College in Carlisle. „Während US-Präsident Donald Trump seine neue Position als möglicher Destabilisator der Levante genießt und militärische Aktionen gegen Nordkorea im Fall einer weiteren Nuklearexplosion androht, taucht China als ein Friedensstifter auf“, schrieb er in der Hongkonger South China Morning Post. China sei als neuer Wirtschaftsriese dringend daran interessiert, einen bewaffneten Konflikt mit den USA zu vermeiden, und deshalb auf eine Deeskalation in Korea bedacht. Nordkorea werde allerdings seine Nuklearrüstung keinesfalls als Vorleistung vor der Aufnahme diplomatischer Gespräche aufgeben.

Das ist der springende Punkt. Für Kim Jong Uns Regime ist die Atomrüstung nach dem Urteil der meisten Experten die Lebensversicherung. Der Status als kleine Atommacht mit vielleicht zwei Dutzend Sprengköpfen und einer Fähigkeit zum Gegenschlag schützt es vor Invasionen – einen Erstschlag würde es keinesfalls führen, denn den Zweitschlag einer größeren Macht würde das Land nicht überleben –, und die Umstürze und Invasionen wie in Libyen, Irak, Syrien, Afghanistan, Jemen usw. meint das Regime abgewehrt zu haben, weil es sich wehren kann.

Den Zerfall Nordkoreas wünscht indessen keiner seiner Nachbarstaaten. Südkorea könnte derzeit nicht einmal die Kosten einer friedlichen Wiedervereinigung tragen, zu tief sind die Unterschiede in Lebensstandard, Wirtschaftskraft, Bürger-Freiheiten (abwesend im Norden) und in der Information der Bevölkerung. Folglich kommt der Status quo der südkoreanischen Regierung am ehesten zupass. China mag auch den Ex-Waffenbruder Nordkorea nicht aufgeben, ein Puffer zwischen dem aggressiv-kapitalistischen übrigen Korea (und indirekt Japan und den USA) gibt der kommunistisch-kapitalistischen Volksrepublik Sicherheit.

Doch auch die USA können, sofern über ihre Außenpolitik rational entschieden wird, die atomare Rüstung Nordkoreas akzeptieren. Die beiden Verbündeten Japan und Südkorea werden dadurch stärker an die Sicherheits- und Beistandsgarantien Washingtons gebunden und akzeptieren eher die fortdauernde Anwesenheit von US Army und US Navy. Die japanische Regierung unter Shinzo Abe nutzt die Politik Kim Jong Uns, ihre Bestrebungen zur Revision der Verfassung (Artikel 9) und zur verstärkten Rüstung zu motivieren. Außerdem lenkt das Heraufbeschwören einer Drohung von innenpolitischen Misshelligkeiten ab. Das gilt ebenso für Südkorea angesichts der Korruptionsskandale und der zunehmenden sozialen Konflikte. Und die AnhängerInnen einer eigenen Atomrüstung – vor vier Jahrzehnten ist ein solches Unterfangen aufgeflogen – können damit argumentieren.

Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass Nordkoreas Führungsequipe die Atomrüstung auch als Mittel einsetzt, von den USA als gleichberechtigter, wenn auch sehr viel kleinerer Partner, anerkannt zu werden. Für einen Friedensvertrag, verbunden mit Existenzgarantien und wirtschaftlicher Hilfe, könnte Pjöngjang zum Verzicht bereit sein. Vor 25 Jahren war es das schon einmal, noch unter Gründungs-Diktator Kim Il Sung. 1992 bekannte es sich schriftlich zu einer atomwaffenfreien Halbinsel Korea.

Die Wiederaufnahme dieser Position ist wohl der Ausgangspunkt für eine diplomatische Lösung oder wenigstens Entschärfung des Problems. Dafür bietet sich als Rahmen an, die von 2003 bis 2011 einigermaßen funktionierenden Sechs-Mächte-Gespräche neu aufleben zu lassen. Im August 2003 hatte diese Runde auf Einladung der chinesischen Regierung erstmals getagt. Thema war von Anfang an das nordkoreanische Atomprogramm, das offiziell der Energieerzeugung diente, insgeheim aber ein Atomwaffenprogramm war. Die sechs Mächte (Nordkorea, Südkorea, China, USA – die Waffenstillstandsmächte von 1953 –, Japan und Russland) verhandelten weiter, obwohl Nordkorea den Atomsperrvertrag gekündigt, sich als Nuklearmacht bekannt und am 9. Oktober 2006 den ersten Atomtest durchgeführt hatte. Stets ging es um Sicherheit, um Garantien und um Wirtschaftshilfen. Der Ansatz ist noch aktuell. Doch Trump droht immer noch (Die Welt, 28. April) mit dem „großen, großen Konflikt“.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.