Nachruf

Wolfgang Zucht: „Ein Außenseiter, wie alle Anarchisten“

von Bernd Drücke

Etwa 130 Menschen aus England, Spanien und Deutschland kamen am 2. Oktober 2015 zur bewegenden Trauerfeier für den Graswurzelrevolutionär Wolfgang Zucht (30.1.1929 - 17.9.2015) nach Kassel. Wolfgang Zucht war vielen aus der Friedensbewegung bekannt als der Betreiber eines kleinen, gewaltfrei-anarchistischen Verlags und einer Versandbuchhandlung: WeZuCo. Zusammen mit seiner Frau Helga war er regelmäßiger Gast auf den Jahrestagungen des Versöhnungsbundes und anderen Veranstaltungen. Wir dokumentieren hier Auszüge aus der Trauerrede, die Bernd Drücke gehalten hat.

Wolfgang hat zusammen mit seiner älteren Schwester Marlis und der jüngeren (schon verstorbenen) Schwester Inge einen großen Teil seiner Kindheit im Nationalsozialismus verbracht. Bei Kriegsende war Wolfgang 16, verbrachte viele Nächte im Keller, wenn die Erde bebte vom Einschlag der Bomben. In einem Interview, das ich 2003 mit Wolfgang und Helga für die Graswurzelrevolution geführt habe, beschreibt Wolfgang seine bewusste und systematische Auseinandersetzung mit der Nazizeit, die etwa drei Jahre nach Kriegsende einsetzte:

In den letzten Monaten unserer Schulzeit in Braunschweig hatten wir einen Lehrer, der uns dazu brachte, unsere Beschäftigung mit der Philosophie im sokratischen Gespräch zu führen. Diese Methode bietet die Möglichkeit zur gewalt- und herrschaftsfreien Diskussion philosophisch-politischer Fragen. Sie erfordert viel Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit, zum Sich-Öffnen für die Argumente der anderen und Infragestellen der eigenen Denkgewohnheiten. Das alles war für uns, die wir die Nazizeit in lebhafter Erinnerung hatten, eine enorme Herausforderung. Vor allem durch diesen Lehrer sind wir alle unsere ‚Nazi-Hangups‘ gründlich losgeworden. Von ihm hörten wir zum ersten Mal von einem Sozialismus freiwilliger Zusammenschlüsse, von gegenseitiger Hilfe, von der Notwendigkeit von Gewerkschaften ohne Hierarchie und Bürokratie, damit die Kontrolle über die Entscheidungen durch die Arbeitenden gewährleistet ist.

Dieser Lehrer gehörte dem ‚Internationalen Sozialistischen Kampfbund’ an. Dass Helgas Eltern in der Vorläufer-Organisation dieses Bundes organisiert waren, war eine der vielen ideellen Verbindungen zwischen Helga und Wolfgang. Die Idee der Frauenbefreiung, der völligen Gleichberechtigung der Geschlechter gehörte mit zu den Grundgedanken dieser Organisation.

Wolfgang entwickelte sich zum Antimilitaristen und gewaltfreien Anarchisten. 1960 zog er nach Hannover, lebte zuerst in Untermiete, dann in einer Laube in seinem Kleingarten. Durch den Ostermarsch gegen Atomwaffen kam er in Kontakt mit einem Freundeskreis, der sich um die Kriegsdienstverweigerung herum gebildet hatte. In dieser Zeit wurde er Mitglied der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) und des Verbands der Kriegsdienstverweigerer (VK). Beeinflusst unter anderem von Tolstoi, Gandhi, Landauer und Kropotkin gründete seine Gruppe die „Direkte Aktion“. Diese „Zeitschrift für Gewaltfreiheit und Anarchismus“ kann als Vorgänger der Graswurzelrevolution gesehen werden.

Wolfgang orientierte sich zunehmend international, bewarb sich bei der War Resisters‘ International (WRI) in London und nahm an Kongressen im In- und Ausland teil. Auf einem solchen Kongress 1964 in Offenbach lernte er Helga kennen, die im gemeinsamen Büro der Naturfreundejugend, des Verbandes der Kriegsverweigerer und des Ostermarsches arbeitete. 1965 wurde Wolfgang in London bei der WRI angenommen. Helga entschied sich 1967, ebenfalls nach London zu gehen und begann nach einem Jahr, auch bei der WRI zu arbeiten. In dieser Zeit entstanden enge persönliche Beziehungen, zum Beispiel zum Generalsekretär der WRI, Devi Prasad, mit dem erst Helga und dann auch Wolfgang die Leidenschaft des Töpferns teilten.

1973 kehrten Helga und Wolfgang nach Deutschland zurück, beteiligten sich an der 1972 von Wolfgang Hertle gegründeten Graswurzelrevolution und gründeten 1974 zusammen mit anderen in Kassel die Graswurzelwerkstatt. Dort wurden sie angestellt.

Als Graswurzelwerkstatt-ArbeiterInnen gaben Helga und Wolfgang von 1974 bis 1980 den „Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren“ heraus.

Mitte der 1970er Jahre war Wolfgang aktiv in der Anti-Atom-Bewegung, bei Gewaltfreien Aktionen und der Kampagne Stromgeldverweigerung gegen Atomenergie. Als Mitinitiator der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) übernahm er 1980/81 die deutsche und dann die internationale Koordination für den Internationalen gewaltfreien Marsch für Entmilitarisierung. 1982 schieden beide aus der Graswurzelwerkstatt aus, waren aber in diesen Jahren auch beratend tätig für Kriegsdienst- und Totalverweigerer. Von 1992 bis 1995 war Wolfgang Mitherausgeber des Graswurzelrevolution-Kalenders.

In der Todesanzeige für Wolfgang, die die Internationale der KriegsdienstgegnerInnen, die GWR und die WRI gemeinsam unter anderem in der taz und der Graswurzelrevolution Nr. 402 veröffentlicht haben, findet sich ein Zitat des gewaltfreien Anarchisten Bart de Ligt:

Neue Ideen werden nur bekannt aufgrund der Beharrlichkeit einer wagemutigen Minderheit!

Es gibt eine Gedenkseite für Wolfgang Zucht: http://dadaweb.de/wiki/Wolfgang_Zucht_-_Gedenkseite. Dort können die Rede von Bernd Drücke und weitere Erinnerungen in voller Länge nachgelesen werden.

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund
Bernd Drücke ist Redakteur der Graswurzelrevolution.