Schon verjährt-

Worüber man nicht spricht: Das Verbrechen NATO-Krieg

von Volker Böge
Im Blickpunkt
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Was sagen Sie nun, Frau Abgeordnete Beer, Herr Staatsminister Vol­mer, Herr Außenminister Fischer - was sagen Sie ein Jahr später? Wür­den Sie es wieder tun? Wie vor einem Jahr Ihre Zustimmung dazu ge­ben, dass deutsche Bombenflugzeuge gemeinsam mit denen der USA, Frankreichs, Großbritanniens und anderer NATO-Verbündeter gen Bel­grad fliegen und dort Fabriken, Schulen, Radiostationen in Schutt und Asche legen? War es das wert - hunderte oder gar tausende von toten serbischen ZivilistInnen in Kauf zu nehmen - als "Kollateralschaden" (= Unwort des Jahres 1999)? Der Menschen im Kosovo und ihrer Men­schenrechte wegen? Nimmt man die von Beer, Volmer, Fischer und tutti quanti vor einem Jahr ins Feld geführten Gründe für die Bombardierung Jugoslawiens und die damit angeblich verfolgten Ziele ernst, so müsste von einem vollständigen Fehlschlag der Mission gesprochen werden. Eigentlich müssten sich Beer, Volmer, Fischer zerknirscht an die Brust schlagen, ihre Fehler und ihre Schuld eingestehen, bei der Friedensbe­wegung Abbitte leisten und feierlich geloben, so etwas nie, aber auch nie wieder tun bzw. zulassen zu wollen. Aber darauf werden wir wohl vergeblich warten - wie mensch vergeblich auf eine große öffentliche Debatte über den Krieg, seine Folgen und die daraus zu ziehenden poli­tischen Lehren wartet. Dieses Schweigen ist erschreckend. Offensicht­lich will kaum jemand noch einmal nach-denken darüber, was vor einem Jahr gelaufen ist und mit welchen Begründungen.

Verbrechen Krieg
Der Krieg sei um der Menschen und der Menschenrechte willen geführt worden - so die NATO- und bundesregierungsof­fizielle Argumentation. Man habe nicht länger tatenlos zusehen können, wie die vom Diktator Milosevi  dirigierte serbi­sche Soldateska die kosovo-albanische Bevölkerung mit Massakern, Vertrei­bungen und Menschenrechtsverletzun­gen jedweder Art terrorisiert habe. Zum militärischen Eingreifen habe es ange­sichts der verzweifelten Lage der Men­schen im Kosovo keine Alternative ge­geben. Nun ist unbestritten, dass es Ter­ror gegen die kosovo-albanische Bevöl­kerung gegeben hat. Es gibt keinen Grund, die diskriminierende, rassisti­sche und chauvinistische Politik des Milosevi -Regimes gegenüber den Ko­sovo-AlbanerInnen zu beschönigen (bedauernswerter Weise finden sich sol­che Tendenzen in Teilen der Anti­kriegsbewegung; sie schaden deren Glaubwürdigkeit). Es gibt aber auch keinen Grund für die Annahme, die mi­litärische Intervention - und zwar alter­nativlos einzig und allein die militäri­sche Intervention - der NATO habe diese Politik stoppen wollen und kön­nen. Die Vorgeschichte des 24. März 1999 beweist, dass es sehr wohl nicht-militärische Alternativen der Konflikt­bearbeitung gegeben hat, dass diese aber von der NATO nicht gewollt waren. Zur Erinnerung nur zwei Stichworte: Hin­tertreibung der OSZE-Beobachtermis­sion, Diktat von Rambouillet, ein­schließlich des berühmt-berüchtigten Annex B. Und der NATO-Luftkrieg selbst dann hat erst die Massenflucht und -vertreibung ausgelöst, die die schrecklichen TV-Bilder lieferte, die dann wiederum zur Begründung des Luftkriegs herhalten mussten. Daher un­ser Diktum: Die NATO habe die huma­nitäre Katastrophe letztlich erst herbei­gebombt, die sie angeblich militärisch verhindern wollte. Elementarste Men­schenrechte wurden auch von der Kriegspartei NATO verletzt, nicht allein dadurch, dass sie gegen alles niederge­schriebene Völkerrecht einen Angriffs­krieg vom Zaune brach, sondern auch durch die Art der Kriegsführung. Diese widersprach ebenfalls allen niederge­schriebenen Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts, insbesondere dem Zusatzprotokoll I von 1977 zu den Gen­fer Konventionen von 1948 über den Schutz der Zivilbevölkerung in interna­tionalen bewaffneten Konflikten. Rechtswidrig wurden zivile Infrastruk­tur, lebensnotwendige Einrichtungen der Zivilbevölkerung und die Zivilbevölkerung selbst bewusst zu Zielen des Luftkriegs ge­macht; gemäß Zusatzprotokoll I handelt es sich hierbei um "Kriegsverbrechen". Dieser Krieg war mithin schlicht krimi­nelles Unrecht; die deutschen Politiker und Soldaten, die ihn (mit-)zuverantworten und (mit-)geführt ha­ben, haben sich nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern auch gegen die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, und gegen Strafgesetze vergangen. Statt ihrer aber stehen gegenwärtig Kriegs­gegnerInnen vor deutschen Gerichten, die die Bundeswehrsoldaten während des Krieges aufgefordert haben, sich diesem kriminellen Tun zu entziehen.

Von wegen Menschenrechte
Spätestens angesichts der toten serbi­schen ZivilistInnen bricht die men­schenrechtliche Legitimation des Krieges als "humanitäre Nothilfe" in sich zusammen: Wer Gewaltanwendung mit der Hilfe für ein misshandeltes Opfer legitimieren will, der hat die Kosten sei­nes Handelns, sofern er sie nicht dem Täter selbst aufbürden kann, auf sich zu nehmen. Keinesfalls darf er sie unschul­digen Dritten zuschieben. Genau das hat die NATO mit ihren Angriffen auf die Zivilbevölkerung getan. Die NATO hat massenhaft unschuldige Dritte getötet. Eine Maxime aber, die besagt, dass Un­schuldige getötet werden müssen, um Unschuldige zu retten, zerstört sich of­fenkundig selbst. Essenz der Menschen­rechte ist ihre Unteilbarkeit, ihre gleichmäßige Gültigkeit für alle Men­schen. Man kann nicht im Namen der Menschenrechte der einen - hier: der kosovo-albanischen ZivilistInnen - die anderen - hier: die serbischen ZivilstIn­nen - umbringen.

Nun sollen die an den Kosovo-Albanern tatsächlich verübten Verbrechen kei­neswegs geleugnet, verharmlost oder kleingeredet werden. Doch die Relatio­nen müssen zurechtgerückt werden. Im Vergleich zu dem, was in Kriegen heut­zutage allüberall in der Dritten Welt "normal" und alltäglich ist, kann das seinerzeitige Geschehen im Kosovo als "minder schwerer Fall" durchgehen. Ein Blick nach Afghanistan, in den Sudan, nach West-Papua, Angola und und und bestätigt das - humanitäre Katastrophen allüberall. Aber da guckt ja wieder kein Schwein bzw. kein menschenrechts­besoffener NATO-Politiker. Von "Völkermord", gar von einem neuen "Auschwitz" (Joseph Fischer) jedenfalls konnte im Kosovo nicht die Rede sein. Diese Assoziationen dienten zur propa­gandistischen Legitimation der eigenen Aggression - und in Deutschland ganz "nebenbei" auch dazu, die in der Menschheitsgeschichte einzig da ste­henden Verbrechen des deutschen Fa­schismus zu relativieren und deutsche Geschichte zu entsorgen. Perfider Hö­hepunkt: Bundeskanzler Schröders Spruch, die deutschen Soldaten hätten mit der Beteiligung am Krieg "Wiedergutmachung" für die Kriegsfüh­rung der deutschen Wehrmacht auf dem Balkan im Zweiten Weltkrieg geleistet.

Ein Scherbenhaufen - das Kosovo
Nicht allein, dass die von der NATO während ihres Bombenkrieges zehntau­sendfach auch über dem Kosovo abge­worfenen Streubomben bis heute als höchst gefährliche Landminen die Re­gion verseuchen und alle BewohnerIn­nen auf unbestimmte Zeit gefährden - auch sonst liegt das Kosovo in Scher­ben. Die meisten geflüchteten und ver­triebenen Kosovo-AlbanerInnen sind zwar nach der Besetzung ihrer Heimat durch die KFOR zurückgekehrt; doch nun begannen Flucht und Vertreibung von Serben, Roma und anderen Minder­heiten. Die Kosovo-AlbanerInnen und insbesondere die UÇK-Kämpfer erwie­sen sich - wen wundert's - keinesfalls als die besseren Menschen, sondern sannen auf Rache und Vergeltung.

Schon bald zeigte sich deutlich, dass die NATO-Staaten außer der Phrase, ein multi-ethnisches Zusammenleben im Kosovo gewährleisten zu wollen, kein politisches Konzept für die politische Zukunft der Region hatten und haben. Drauf hauen und Bomben schmeißen - das konnten sie. Aber Unterstützung von Wiederaufbau, Versöhnung, Frie­denskonsolidierung? Fehlanzeige. Die westliche "Staatengemeinschaft", für die es kein Problem war, eine gigantische Militärmaschinerie zu gigantischen Ko­sten für einen Aggressionskrieg zu mo­bilisieren, bekommt es nicht einmal auf die Reihe, die für den Wiederaufbau ei­ner leidlich funktionierenden Polizei benötigten Leute zu entsenden (von den 6000 vorgesehenen ausländischen Poli­zisten sind erst 1800 vor Ort); von der Diskrepanz zwischen den vollmundigen Versprechungen eines "Stabilitätspakts für Südosteuropa" und den Realitäten gar nicht zu reden. Und so ist die ein­zige Institution, die im Kosovo (noch) leidlich funktioniert, die KFOR. Dem militärischen und militärpolitischen Establishment kann das nur recht sein, bestätigt das doch einmal mehr die ei­gene Unentbehrlichkeit. Auf der ande­ren Seite offenbart das auch die Verlo­genheit des in der etablierten Politik in Mode gekommenen Geredes von der Stärkung ziviler Konfliktbearbeitung, nicht-militärischer Krisenprävention und Friedenskonsolidierung.

Leider kein Scherbenhaufen - die NATO
Die NATO hat bewiesen, dass sie die hegemoniale Ordnungsmacht in der Welt ist. Sie hat bewiesen, dass sie wil­lens und in der Lage ist, ihr neues stra­tegisches Konzept - verabschiedet wäh­rend des Krieges auf dem NATO-Gipfel in Washington im April 1999 - auch tatsächlich umzusetzen: "selbstmandatierte" militärische Inter­ventionen überall und jederzeit im "euro-atlantischen Raum" (der bis nach Zentralasien, ans Kaspische Meer und weit nach Afrika hinein reichen kann), ohne Rücksicht auf das Völkerrecht, wenn man es selber für im eigenen In­teresse geboten hält. Die UNO, die OSZE, Russland wurden marginalisiert. Aller Welt wurde vorgeführt, dass die NATO über ein Waffenarsenal und mi­litärisches Potential auf allerhöchstem technologischen Niveau verfügt, dessen Einsatz keinem Gegner eine Chance lässt. Die NATO steht bereit, die Welt(wirtschafts)ordnung des globali­sierten Kapitalismus im Interesse der Metropolen des Nordens auch militä­risch abzusichern. Die NATO-Aggres­sion gegen Jugoslawien war hierfür der Präzedenzfall. Dieser Krieg hat den Prozess der Umwandlung der NATO von einem Abschreckungsbündnis im Ost-West-Konflikt  zu einem Interventions­bündnis in der unipolaren Welt(militär)ordnung gekrönt.

In den Gesellschaften der NATO-Staa­ten wurde das Primat des Militärischen bei der "Bearbeitung" von Konflikten ideologisch zementiert, eine weitere Militarisierung von Politik und Gesell­schaft legitimiert, der militärisch-indu­strielle Komplex gestärkt. Speziell in Deutschland wurde endgültig die Rück­kehr zur "Normalität" vollzogen. "Normal" ist nämlich, dass ein Staat von dem ökonomischen Gewicht und der politischen Macht der Bundesrepublik diesem Gewicht und dieser Macht ent­sprechende militärische Mittel vorhält und sie gegebenenfalls auch einsetzt. Nur dann kann man eine Führungsrolle im Konzert der wichtigsten kapitalisti­schen Mächte beanspruchen.

Trotz alledem
Allerdings: Völlig reibungslos ist es für die NATO dann doch nicht gelaufen. Das lag leider nicht am machtvollen Widerstand der Antikriegsbewegungen in den NATO-Ländern (obwohl der sich mancherorts - vor allem in Griechenland - durchaus sehen lassen konnte), son­dern an Friktionen im Apparat selbst. Trotz der aufwendigen high-tech-Kriegsführung waren die militärischen Resultate eher bescheiden. Nach 32.000 Luftangriffen während des Krieges hatte man nicht mehr als ein paar Dutzend serbische Panzer zerstört (die serbische Seite selber sagte: 13); die Serben zogen Ende Juni mit 47.000 Mann, 250 Kampfpanzern, 450 Panzerwagen und 800 Artilleriesystemen aus dem Kosovo ab - soviel hätten es nimmermehr sein dürfen, hätten die Erfolgsmeldungen der NATO aus den Kriegstagen gestimmt (diese korrigierte im September 1999 ihre Erfolgsmeldungen selber deutlich nach unten: sie behauptete nurmehr, 93 Panzer zerstört zu haben). Man hatte mit einem sehr viel schnelleren Einknicken des Milosevi -Regimes vor der über­wältigenden militärischen Macht der NATO gerechnet. Schließlich sah man sich statt dessen mit der Gefahr einer Eskalationsdynamik konfrontiert, die den Krieg für einen selber doch noch kostspielig und weniger kalkulierbar gemacht hätte (Debatte um den Einsatz von Bodentruppen); und letztlich ist man nur mit einer gewissen Portion Glück aus dem selber angerührten Schlamassel wieder herausgekommen, wobei man dann für die Beendigung des Luftkriegs und die Etablierung der KFOR sogar doch noch die UNO und Russland wieder "mit ins Boot" holen musste. So hatte man sich Kriegsverlauf und -ausgang auf seiten der NATO of­fensichtlich nicht vorgestellt.

Die Schlussfolgerung herrschender Poli­tik aus diesen Problemen ist nun nicht etwa, künftig derartige Aggressionen bleiben zu lassen, sondern sich noch besser vorzubereiten. Das heißt vor al­lem: noch mehr qualitative Aufrüstung. Die Logik: Wenn die modernsten high-tech-Waffen nur recht bescheidene mi­litärische Resultate erzielten, dann müs­sen eben noch modernere Waffen her. In den USA wird es im Gefolge des Krieges einen gewaltigen Aufrüstungs­schub geben. Und auch die Europäer werden sich nicht lumpen lassen. Ihnen wurde im Krieg vorgeführt, wie mei­lenweit sie militärtechnologisch hinter den USA herhinken; jetzt wollen sie aufschließen. Alles, was für Militärin­terventionen fern der Heimat nötig ist, soll angeschafft werden: Lufttransport­kapazitäten, Aufklärungs- und Kommu­nikationssysteme, Krisenreaktionskräfte, Präzisionswaffen usw. usf.

Nicht zuletzt haben die Bestrebungen zum Aufbau einer interventionsfähigen Militärgroßmacht EU - unabhängig(er) von den USA - durch die Erfahrungen mit den USA während des Krieges einen neuen Schub bekommen. Die EU-Gipfel von Köln im Juni 1999 und von Hel­sinki im Dezember 1999 haben wesent­liche Weichenstellungen in diese Rich­tung gebracht. Diese Entwicklung wird von den USA mit Skepsis beobachtet. Die transatlantischen Widersprüche werden sich künftig verschärfen. Des­wegen ist zu erwarten, dass die NATO-Oberen in der nächsten Zukunft vor­sichtiger und zurückhaltender mit dem Instrument Militärintervention umgehen werden. Gleichwohl unsere Prognose: Sie werden es wieder tun. Und um es wieder tun zu können, ist ihnen auch soviel daran gelegen, ihre Interpretation des Kriegsausgangs als Erfolg in der heimischen Öffentlichkeit durchzuset­zen. Unsere Aufgabe ist es, in diesem Kampf um die Interpretationshegemonie zumindest mit unseren bescheidenen Kräften dagegen zu halten. Damit die Linke und die Friedensbewegung beim nächsten Mal schlagkräftiger zu ant­worten verstehen als vor einem Jahr. Vielleicht findet dann ja auch wieder die eine oder der andere, die oder der letztes Mal der Menschenrechts-Rhetorik Glauben schenkte, zurück in unsere Reihen. Auf dass wir (wieder) zusam­men kämpfen gegen Krieg, für Frieden und Menschenrechte - mit kühlem Ver­stand und heißem Herzen.

(zuerst erschienen in: analyse & kritik Nr. 436, 16. 3. 2000)

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