Kolumbien vor großen Herausforderungen

Zeitenwende in Kolumbien?

von Irmgard Ehrenberger
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Was für eine Überraschung! In dem lateinamerikanischen Land, in dem über Jahrzehnte linke Politiker*innen als Guerilla verunglimpft wurden, hat am 19. Juni erstmals ein linker Kandidat die Präsidentschaftswahl gewonnen. Gustavo Petro, ehemaliger Bürgermeister von Bogotá, wird mit Vizepräsidentin Francia Márquez die lange Tradition von rechten bis rechts-rechten Regierungen durchbrechen. Mit Francia Márquez bekleidet zudem erstmals eine afrokolumbianische Menschenrechts- und Umweltaktivistin das zweithöchste Amt in Kolumbien.

Die neue Regierung übernimmt ein sehr schwieriges Erbe in dem zutiefst gespaltenen und von Gewalt, Ungleichheit und Korruption geprägten Land. Trotz des Friedensvertrags, den die Regierung unter Präsident Santos 2016 mit der damals größten Guerillagruppe FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) abschloss, kann von einem Ende des sechzigjährigen bewaffneten Konflikts nicht die Rede sein. Dafür sorgen die unterschiedlichen illegalen bewaffneten Gruppen wie die Guerillagruppe ELN (Nationale Befreiungsarmee) oder Dissidentengruppen der FARC-EP. Am stärksten und bezüglich der Auswirkungen ihrer Handlungen verheerendsten wüten paramilitärische Gruppen, die seit 2016 erstarken und in vielen Gemeinden die soziale, wirtschaftliche und politische Kontrolle übernahmen. Die größte dieser Gruppen, die Autodefensas Gaitanistas de Colombia - AGC, stellte Anfang Mai mit einer tagelangen erzwungenen Ausgangssperre im Nordwesten Kolumbiens und in der Region Buenaventura ihre Macht unter Beweis. In 119 Gemeinden wagte sich niemand auf die Straße, das öffentliche Leben war völlig lahmgelegt, die Gaszufuhr für viele Haushalte unterbrochen.

Als Grund für die illegale Ausgangsperre benannten die AGC die Auslieferung ihres Anführers Dairo Antonio Úsaga, alias „Otoniel“, der auch als größter Drogenboss seit Pablo Escobar gilt, an die USA. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass mit diesem Gewaltakt die deutliche Botschaft an die zukünftige Regierung gesendet werden sollte, wer in großen Teilen Kolumbiens das Sagen hat.

Dass während der Ausgangssperre auch keine Sicherheitskräfte auf den Straßen zu sehen waren, spricht Bände. In einer hoch militarisierten Zone wie dem Nordwesten Kolumbiens wäre zu erwarten gewesen, dass die Sicherheitskräfte diesen illegalen Gewaltakt nicht unbeantwortet lassen.

Die Rolle der Sicherheitskräfte ist ambivalent. Militärischen Einheiten werden immer wieder Menschenrechtsverletzungen und die Kollaboration mit paramilitärischen Gruppen nachgewiesen. Auch eine Radikalisierung und Politisierung ist zu beobachten. So griff der Kommandant des kolumbianischen Heeres, General Eduardo Enrique Zapateiro, während des Wahlkampfes Gustavo Petro wüst an. Das war mehr als ein Fauxpas, es war ein glatter Verstoß gegen die Verfassung.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Kolumbien eines der gefährlichsten Länder für Menschenrechtsaktivist*innen und das gefährlichste Land für Umweltverteidiger*innen ist. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat sich die Menschenrechtssituation stetig verschlechtert, das Missmanagement der Regierung Duque in Sicherheitsfragen kostete Hunderten Menschen das Leben, Zehntausende wurden vertrieben. Die Gewalt hat wieder ein Ausmaß erreicht wie während der schlimmsten Phase des bewaffneten Konflikts in den 90er-Jahren.

Der soziale Aufschrei
Das Friedensabkommen von 2016 sollte den über sechzig Jahre andauernden bewaffneten Konflikt nicht nur beenden, sondern auch dessen Ursachen. Kolumbien zählt weltweit zu den Ländern mit der größten Ungleichheit der Einkommensverteilung. Nach fünf Jahren ist das Friedensabkommen aber nur zu 30 Prozent umgesetzt, die so wichtige integrale Landreform ist überhaupt nur zu 4 Prozent umgesetzt.

Diese Missstände führten letztes Jahr zu einem monatelangen nationalen Streik, an dem viele Städte und Dörfer beteiligt waren. Auslöser war eine geplante Steuerreform, die vor allem die Armen und den Mittelstand getroffen hätte. Die Demonstrationen wurden von den Sicherheitskräften, aber auch von Paramilitärs und bewaffneten Zivilpersonen brutal niedergeschlagen. Zum Schweigen konnte die Massenbewegung aber nicht gebracht werden. Der Streik hat zu einem erhöhten politischen Bewusstsein und letztendlich zu einer für Kolumbien ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung geführt, die Gustavo Petro den Sieg brachte.

Große Herausforderungen
Manche werfen Petro einen Hang zum Autoritarismus vor. Wie dem auch sei, Petro ist sicher die beste Wahl, die die Kolumbianer*innen unter den Kandidat*innen treffen konnten, und vorsichtiger Optimismus ist durchaus angesagt. Aber es sollte auch klar sein, dass die riesigen Probleme des Landes, allen voran der Filz von Gewalt und Korruption, in vier Jahren Amtszeit nicht gelöst werden können. Zudem verfügt die zukünftige Regierung über keine Mehrheit im Parlament, sie wird Kompromisse eingehen müssen, um Mehrheiten für Reformen zu finden. Das Programm der neuen Regierung beinhaltet u.a. die Umsetzung des Friedensvertrags, eine Reform des Steuerwesens und des Sozialstaates sowie die Umgestaltung der Wirtschaft, die nicht mehr auf Extraktivismus, sondern auf Klimafreundlichkeit setzen soll. All diese Pläne werden auf mächtige Gegner*innen aus den wirtschaftlichen und politischen Eliten stoßen. Ob es der neuen Regierung gelingt, einen Wandel zu mehr Frieden und Gerechtigkeit in Gang zu setzen, wird vielleicht nicht nur von ihrem politischen Geschick abhängen, sondern auch davon, ob sie Politik nicht nur FÜR, sondern auch MIT den Menschen macht, insbesondere mit der überaus lebendigen Zivilgesellschaft.

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Krisen und Kriege
Irmgard Ehrenberger ist Co-Geschäftsführerin des Internationalen Versöhnungsbundes – österreichischer Zweig. Sie ist für die Themenbereiche Friedenskultur und Friedenspolitik zuständig. Darüber hinaus arbeitet sie in der Arbeitsgruppe „Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei“ (der VertreterInnen von WRI, dem Bund für Soziale Verteidigung und Connection e.V. angehören) mit.