Kriegsszenarien der Bundesregierung

Zivile und militärische Verteidigung – ein Januskopf

von Ulrich Stadtmann
Hintergrund
Hintergrund

Das Verteidigungskonzept Deutschlands besteht aus einem militärischen Teil, für den das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr zuständig sind, und aus einem zivilen Teil in der Obhut des Bundesinnenministeriums. Zivile und militärische Verteidigung sind organisatorisch getrennte Aufgaben, die jedoch zusammen die Gesamtverteidigung bilden. Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine haben sich seit 2022 die zugrunde liegenden Bedrohungsszenarien deutlich geändert. Es gibt jetzt vier Phasen eines „möglichen und plausiblen“ Konfliktverlaufs, wie die Bundesregierung im „Bericht zur Risikoanalyse für den Zivilschutz“ dem Bundestag am 19.02.2024 darlegte (1), die auch von militärischen Kämpfen an der Nato-Ostflanke und in Deutschland ausgehen.

Die erste Phase beinhaltet „Hybride Bedrohungen“ mit Desinformationskampagnen sowie Spionage, Cyberangriffen, Sabotage und Anschlägen, die „über mehrere Jahre in schwankender Intensität“ andauern. In einer zweiten Phase, die sich über mehrere Monate erstreckt, könne es „zum militärischen Aufmarsch des Aggressors an den östlichen Grenzen des NATO-Bündnisgebietes und als Reaktion darauf zu einem Aufmarsch von NATO-Kräften zur Abschreckung“ kommen. Hierbei führe der Aggressor vermehrt hybride Angriffe durch, um „Truppenbewegungen innerhalb des NATO-Territoriums und insbesondere in Deutschland zu be- oder verhindern und so den Aufmarsch von Streitkräften an der Ostflanke der NATO zu verzögern“. Dem könne eine dritte Phase der Bündnisverteidigung mit Übergang zur Landesverteidigung über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr folgen, in der der Aggressor nicht nur zivile und militärisch genutzte Satelliten stört, sondern mit militärischen Mitteln die Grenzen des Nato-Bündnisgebietes angreift. „Die Schwelle zum klassischen Krieg ist damit überschritten. Es kommt zu punktuellen Angriffen mit konventionellen Waffen und nicht konventionellen Mitteln, auch auf Ziele im Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland“. Zur Veranschaulichung erläuterte Rasmus Buchsteiner im Spiegel am 12.07.2024 den „Operationsplan Deutschland“ der Bundeswehr, der bei einer Eskalation an der Nato-Ostflanke die Verlegung Hunderttausender Soldat*innen und Fahrzeuge über die A2 vorsieht, die von Oberhausen bis Berlin führt. Brücken dieser Autobahn könnten dann Ziele für Anschläge oder Raketenangriffe sein.

Das Eskalationsszenario der Bundesregierung, zu dem es am 21.03.2024 eine Aussprache im Bundestag gab, endet mit einer vierten Phase der Landesverteidigung. Hierbei „gelingt den gegnerischen Truppen ein Durchbruch der Verteidigungslinien der NATO bis auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. In der Folge kommt es zu Kampfhandlungen an Land, zur See sowie in der Luft auf deutschem Territorium.“ Die Bundeswehr hatte für das Nato-Manöver Air Defender 23 eine solche vierte Phase schon am 01.06.2023 beschrieben: „Kampfhandlungen auf deutschem Boden [...] Wie kann reagiert werden, wenn ein feindliches Militärbündnis einen Teil Deutschlands besetzt hält? … etwa ein Viertel des Landes“. (2) Die militärische Antwort auf Szenarien der zweiten und dritten Phase wurden in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 9. November 2023 veröffentlicht. Deutschland soll zur „Drehscheibe […] für unsere Verbündeten“ werden.

Zivile Verteidigung
Die Zivile Verteidigung soll dabei gemäß den Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung vom 06.06.2024 das Militär unterstützen mit allen „nicht-militärischen Maßnahmen, die zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit einschließlich der Versorgung und des Schutzes der Bevölkerung notwendig sind“. Für das Szenario eines besetzten Gebietes, in dem es entsprechend kein eigenes Militär gibt, fehlt es jedoch an einer Beschreibung der nicht-militärischen Aktivitäten für den Bevölkerungsschutz. Dies weist auf einen eklatanten Mangel im Maßnahmenkatalog der Bundesregierung hin. Verteidigung wird im Grunde nur militärisch gedacht und soll von der Zivilgesellschaft unterstützt werden. Da, wo militärisch gekämpft wird, soll der Bevölkerung durch den Zivilschutz und Selbstschutzmaßnahmen geholfen werden. Dort, wo kein eigenes Militär ist – wie in besetzten Gebieten – bleibt die Bevölkerung sich selbst und dem Aggressor überlassen. Dabei bräuchte es gerade dann Handlungsempfehlungen, welche nicht-militärische Maßnahmen die Bevölkerung zu ihrem Schutz ergreifen kann und welche nicht-militärischen Widerstandshandlungen möglich sind – z.B. aufgrund historischer Erfahrungen. Die Erweiterung des Blicks auf nicht-militärische Verteidigungsoptionen würde zudem weitere Handlungsmöglichkeiten schon während militärischer Kampfhandlungen eröffnen, sobald diese die eigene Bevölkerung mehr gefährden als schützen, wie in bewohnten Gebieten. Eine Verteidigung, die offenkundig den Bevölkerungsschutz nicht ausreichend berücksichtigt, ist letztlich keine glaubwürdige Verteidigung und dürfte noch massive Probleme mit der gesellschaftlichen Unterstützung bekommen.

Anmerkungen
1 https://dserver.bundestag.de/btd/20/104/2010476.pdf
2 https://www.bundeswehr.de/de/organisation/luftwaffe/aktuelles/gopolitisc...

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Ulrich Stadtmann ist im Vorstand des Bundes für soziale Verteidigung. (BSV)