Zivilgesellschaft in Tschetschenien und Inguschetien

von Barbara Gladysch

Zivilgesellschaft ist der Bereich der Gesellschaft, der nicht staatlich-(partei)politisch ist, sondern sich freiwillig, eigeninitiativ und öffentlich in gesellschaftlichen und politischen Fragen engagiert. Sie besteht aus Initiativen, die von Privatpersonen zu Informationszwecken und/oder zur Lösung gesellschaftlich relevanter Problemsituationen - häufig im kommunalen Umfeld - gegründet werden, und aus NROs (Nicht-Regierungs-Organisationen). NROs arbeiten international, national oder regional, um auf demokratischem Weg die Solidarität und die Achtung der Menschenrechte zu fördern oder humanitäre, medizinische und psychologische Hilfe in Kriegs- und Krisengebiete zu „installieren“, die Kluft zwischen Arm und Reich abzubauen und so zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung beizutragen.

Zur Zivilgesellschaft gehören alle Menschen, die in ihrem Land frei denken, sprechen und handeln können, ohne Angst vor Bespitzelungen (Geheimdienst), Angst vor selbsternannten „Autoritäten“ (Regierung), dem Militär oder der Polizei haben zu müssen. Voraussetzungen für zivilgesellschaftliches Engagement sind die individuellen und kollektiven Freiheiten (z.B. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), die demokratischen Staaten zivilgesellschaftlichen Akteuren, Bürgern und Bürgerinnen einräumen.

Die beiden Republiken Tschetschenien und Inguschetien gehören zur Russischen Föderation (RF). Ihre „Oberhäupter“ Ramzan Kadyrow (Tschetschenien) und Junus-Bek Jewkurow (Inguschetien) nennen sich seit kurzem nicht mehr „Präsident“ ihres Landes, sondern schlicht „Oberhaupt“, da es nur einen Präsidenten in der RF gebe, wie sie selbst sagen, nämlich zur Zeit (noch) Dimitrij Medwedew. Das bedeutet: Orientierung an der russischen Staatsführung, Abhängigkeit von dieser, Anerkennung der gesetzlichen Vorgaben der russischen Verfassung und Gesetzgebung.

Mit diesen „Vorgaben“ der RF sind die Rahmenbedingungen für die Regierungsform der beiden Republiken Tschetschenien und Inguschetien vorgegeben. Ihre beiden „Oberhäupter“ verhalten sich nicht nur loyal, sondern eher „untertänig“ gegenüber den beiden Mächtigen in Moskau: Premier Putin und Präsident Medwedew. Beide Seiten sind damit sehr zufrieden und „sichern“ somit den fragilen „Ruhezustand“ der beiden Kaukasusrepubliken. Zivilgesellschaftliches Engagement brauchen die Machthaber weder in Russland, noch im Kaukasus – im Gegenteil: dieses Engagement stört das System der Machtausübung und Machterhaltung in Moskau, in Grosny und in Magas, und ist „nicht erwünscht“, wird verboten, die Arbeit erschwert bis unmöglich gemacht. Die MitarbeiterInnen zivilgesellschaftlicher Organisationen werden vom FSB (Geheimdienst) kontrolliert, beobachtet, „verfolgt“ und - leider - auch immer wieder auf Anweisung von „Auftraggebern“… ermordet.

In beiden Ländern gibt es natürlich keine offizielle Opposition; mir ist auch keine „inoffizielle“ Opposition bekannt, es sei denn, darunter würde man die sog. „Extremisten“ oder „Terroristen“  verstehen. (Diese beiden Begriffe werden nebeneinander wahllos und undifferenziert von der tschetschenischen Regierung verwendet.) Wohl bekannt ist mir allerdings, dass in beiden Ländern „unliebsame“ BürgerInnen verschwinden, getötet werden oder ins Ausland fliehen. Diese Menschen haben zu offen, zu frei ihre Meinung gegen das Regierungssystem und gegen das entsprechende „Oberhaupt“  ausgesprochen, indem sie einfach nur die Wahrheit sagten.

Wenige zivilgesellschaftliche Gruppen
„Offiziell“ existiert die „Zivilgesellschaft“ in Tschetschenien und Inguschetien kaum. Es gibt eine kleine Arbeitsgruppe von Memorial in Grosny in einem neuen Büro. (Das alte wurde nach der Ermordung von Natalja Estemirowa im Juli 2009 geschlossen, etliche ihrer MitarbeiterInnen  mussten sich in Sicherheit bringen, manche sind im Ausland).

In Nazran gibt es noch das „alte“ Memorial-Büro mit vertrauten Mitarbeitern. In Inguschetien können sie fast problemlos arbeiten.

Im August 2009 wurde eine weitere Menschenrechtsaktivistin und ihr Mann in Grosny ermordet: Sarema Sadulajewa leitete die Organisation „Rettet die Generation“. Ihre Initiative kümmerte sich besonders um kriegsverletzte Kinder und um Opfer von Landminen. MitarbeiterInnen von internationalen und lokalen  Nichtregierungsorganisationen haben Angst, dass sie die nächsten Opfer sein werden. So haben internationale NROs in Inguschetien und Tschetschenien in den vergangenen fünf Jahren ihre MitarbeiterInnen aus Gründen der Sicherheit zurückgezogen. Eine weitere Begründung für den Rückzug ist, dass ihre Arbeit nicht mehr notwendig sei, die Zeiten hätten sich verbessert. Diese Einschätzung begrüßt das tschetschenische „Oberhaupt“ Ramzan Kadyrow sehr, denn offiziell besteht kein Bedarf mehr an humanitärer Unterstützung aus dem Ausland; die Regierung regelt alles zum Wohl des eigenen Volkes; die NROs machten sowieso „Oppositions-Politik“ und brächten nur Unruhe ins Volk.

Alle noch existierenden NROs werden kontrolliert: ihre Einnahmen und ihre Ausgaben werden regelmäßig mit bürokratischem Aufwand und unter Zuhilfenahme von geheimdienstlicher Unterstützung „unter die Lupe genommen“ und „zensiert“, d.h. es werden Spendengelder eingezogen, hemmende Auflagen angeordnet und die Arbeit so gestört, dass das zivilgesellschaftliche Engagement der MitarbeiterInnen von NROs mit der Zeit zunichte gemacht wird.

Bestehende NROs werden im Laufe der Zeit in den „Apparat“ einbezogen: das heißt: die bewährten Strukturen der NROs werden von der tschetschenischen Regierung „übernommen“ – mit den MitarbeiterInnen, mit deren Kompetenz und Erfahrung. Sie erhalten ihr Gehalt von der Regierung – und sind somit keine zivilgesellschaftliche Organisation mehr, nennen sich aber häufig noch so.

Neben „Memorial“ gibt es noch weitere NROs in Grosny, die weiterhin versuchen, von der „Regierung“ unabhängig zu arbeiten. Es sind: „Frauenwürde“ (geleitet von Liphan Basaewa), „Echo des Krieges“ (Zainap Gaschajewa), „Serlo“ (Zainap Batukaeva) und „Lebensfaden“ (Taita Junusova). Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt in den Bereichen: „Diskriminierung von Frauen“, „Opfer von Gewalt im häuslichen Bereich“, „Mädchenwürde“, „psychologische Hilfe bei der Verarbeitung von traumatischen Kriegserlebnissen“. Es sind in erster Linie Frauen, die mutig, kompetent und sehr klug mit eigenen Strategien konsequent „gegen den Strom schwimmen“. Andere kleine unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich um Menschen kümmern, denen ihre Rechte, Würde und Lebensgrundlagen entzogen wurden, gibt es auch – meist bestehend nur aus zwei, drei Menschen. Sie bleiben im Verborgenen – zur Sicherheit für ihr Klientel, für sich selbst und ihre eigene Familie.

Träume von Freiheit
Die Zivilgesellschaft, die wir kennen und als dringend notwendig erleben, gibt es in Tschetschenien und Inguschetien nicht.

Aber Gedanken, Geschichten, Gespräche darüber haben immer stattgefunden: In den Kellern während des ersten Krieges in Grosny haben tschetschenische Frauen und ich davon geträumt, uns ausgemalt, wie eine neue Gesellschaft nach dem Kriegsende in Tschetschenien aussehen werde. In der sehr gefahrvollen „Zwischenkriegszeit“ ist es dem damaligen demokratisch gewählten Präsidenten Aslan Maschadow nicht gelungen, die unterschiedlichen tschetschenischen Clan-Familien zu einer gemeinsamen Regierungsunion zusammenzuführen. Während des zweiten Tschetschenien-Krieges haben wir, die tschetschenischen SchülerInnen, ihre LehrerInnen und ich in den Zeltschulen der Flüchtlingslager in Inguschetien immer wieder von Freiheit, Frieden, Demokratie erzählt und uns konkret vorgestellt, wie die Zivilbevölkerung – nach Abzug des russischen Militärs – die „Macht“ im Volk übernehmen werde: freie Wahlen, ein gewähltes Parlament mit Oppositionsparteien, eine unabhängige Gerichtsbarkeit und viele, viele Interessensgruppen, die die jungen Menschen freiwillig und engagiert gründen wollten. Nichts davon gibt es heute. Statt „demokratischer  Entwicklungsmöglichkeiten“ für das Volk ordnete Putin das autoritäre „Tschetschenisierungs- Programm“ an (s. meinen zweiten Beitrag in diesem Heft).

Es ist Samstag, der 16. April 2011.
Seit einigen Tagen bin ich in Grosny und lebe in der Familie von Madina. Ich habe in Grosny noch viel zu erledigen; es ist für mich nicht einfach, hier zu sein. Aber bei dieser mir vertrauten Familie fühle ich mich wohl und schlürfe langsam den heißen Tee. Ich bin seit 1996 zum 24. Mal in dieser Stadt. Es wird wohl das letzte Mal sein.

Es ist kurz vor 10:00 Uhr; Usam, Madinas Mann, tritt in die Küche und verabschiedet sich. „Wo gehst Du hin?“ frage ich ihn. „Heute ist Subbotnik“, sagt Usam und grinst. „Freiwillig räumen wir unsere Stadt auf oder reinigen unsere Gebäude oder helfen in der Küche im Krankenhaus oder putzen die Flure in den Schulen oder … oder… . Das machen alle Menschen hier in Grosny, nur die Mütter und die Alten brauchen das nicht – das ist unser freiwilliger Dienst für die Gesellschaft, das ist unsere Beitrag für die Zivilgesellschaft – wir helfen uns gegenseitig, zeigen unsere Solidarität, sind verantwortungsvolle Bürger unserer Republik, Ramzan Kadyrow freut sich!“ Während Usam das erzählt, hört er nicht auf zu grinsen. „Subbotnik – gab es schon zu Lenins Zeiten. Alles freiwillig, bedeutet das; wir alle machen diese Arbeiten freiwillig und gern!“ Usam hört nicht auf zu grinsen. „Freiwillig“ und „gern“ betont er. „Und wenn du jetzt nicht zur freiwilligen Arbeit gehst, was geschieht dann?“ frage ich. „Dann wird meine Arbeitsstelle frei für jemanden anderen“, lacht Usam, „ich verliere freiwillig meinen Arbeitsplatz. Das wagt niemand, den Subbotnik nicht einzuhalten, denn das hätte sehr unangenehme Konsequenzen.“

So viel zur verordneten „Freiwilligkeit“ in Tschetschenien, zum „zivilen Gehorsam“, zur Zivilgesellschaft, die mal ein Traum von vielen Tschetschenen war.

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Barbara Gladysch, Jahrgang 1940, Begründerin 1981 von „Mütter für den Frieden“, „Kinder von Tschernobyl“ e.V. 1991, früher Projekte in Belarus, Bosnien und Kosovo; jetzt nur noch in Tschetschenien: „Kleiner Stern“; in Deutschland: Beratung und Unterstützung von Flüchtlingen, die von Abschiebung bedroht sind; „save me“-Kampagne in Düsseldorf; pensionierte Sonderschullehrerin, Großmutter von zwei wunderbaren Enkelkindern.