Erich Fromm über Frieden und Krieg

Zur Aktualität von Erich Fromms Arbeiten

von Hemut Johach
Schwerpunkt
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Erich Fromm (1900-1980) ist bekannt als aus Deutschland stammender, jüdischer Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, der zur frühen Frankfurter Schule gehörte, mit ihr nach der Machtergreifung der Nazis in die USA emigrierte, später in Mexico ein zentrales Psychoanalytisches Institut aufbaute und seinen Lebensabend in der Schweiz verbrachte.

Weltweite Berühmtheit erlangte er durch zahlreiche Bücher mit psychologisch-gesellschaftskritischem Inhalt, von denen vor allem zwei, Die Kunst des Liebens (1956) und Haben oder Sein (1976), in Deutschland zu Bestsellern wurden. Weniger bekannt sind dagegen seine Veröffentlichungen aus der Zeit des Kalten Krieges, als mit dem Bau der Berliner Mauer und der Kuba-Krise eine militärische Auseinandersetzung zwischen den nuklearen Großmächten USA und Sowjetunion drohte. Wenig Beachtung finden auch seine friedenspolitischen Aktivitäten aus dieser Zeit. Da die derzeitige Lage in Europa mit der damaligen gewisse Ähnlichkeiten aufweist, lohnt es sich, diesen Teil von Fromms Stellungnahmen näher zu beleuchten.

Einsatz für nukleare Abrüstung
Schon im Jahr 1957 war Fromm an der Gründung der amerikanischen Friedensbewegung SANE (National Comittee for a Sane Nuclear Policy) beteiligt. Als Mitglied von SANE, jedoch ohne offiziellen Auftrag nahm er 1962 an einer Weltfriedenskonferenz in Moskau teil, die von den westlichen Regierungen als kommunistische Propagandaveranstaltung gewertet wurde. Der Verdacht, dass die Konferenz einseitig gesteuert war, bestätigte sich zwar insofern, als die Delegierten aus der Sowjetunion und den übrigen Ländern des Warschauer Pakts kräftig applaudierten, wenn es gegen die Atomwaffenversuche der USA und die Aufrüstung der NATO-Staaten ging, sich jedoch jeglicher Kritik an ihren eigenen Regierungen enthielten. Fromm und sein damaliger Mitstreiter Homer A. Jack nahmen jedoch die Gelegenheit wahr, vor versammeltem Plenum dieses Verhalten zu kritisieren und von beiden Seiten die Bereitschaft zu ernsthaften Abrüstungsverhandlungen zu fordern (1). Der Auftritt bei der Veranstaltung des Weltfriedensrates in Moskau gehört zu den bedeutendsten und mutigsten Aktivitäten Fromms in dieser Zeit.

Mit kritischen Veröffentlichungen zur Außen- und Verteidigungspolitik und über direkte Kontakte zu Kongressabgeordneten suchte Fromm darauf hinzuwirken, dass die USA mit der nuklearen Abrüstung beginnen sollten, um „aus dem Teufelskreis von Drohung und Gegendrohung herauszukommen“ (GA V, 21) (2). Die für das Wettrüsten maßgebliche Ansicht, man müsse auf einen jederzeit möglichen nuklearen Angriff der Gegenseite vorbereitet sein, ohne zu fragen, ob ein solcher überhaupt wahrscheinlich sei, bezeichnete er als „paranoides Denken“ (GA V, 58). Gesundes Denken müsse sich an Fakten statt an Fiktionen orientieren – so der Titel seiner Schrift Es geht um den Menschen! Über Tatsachen und Fiktionen in der Außenpolitik (1961), in der er nachzuweisen suchte, dass die Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion in den 50er Jahren eher vom Streben nach Sicherheit als nach militärischer Expansion dominiert waren. Allerdings zeigte sich bald darauf, dass die Raketenstationierung auf Kuba kaum anders denn als Vorbereitung eines nuklearen Angriffs auf die USA zu verstehen war. Fromms Überlegungen zu pathologischen und vernünftigen Reaktionsweisen in Bezug auf bedrohliche Entwicklungen werden durch die fehlerhafte Einschätzung der damaligen Situation jedoch nicht entwertet. Angst und Misstrauen, Doppelbotschaften und die Projektion eigener Aggressionsabsichten auf den Gegner spielen ihm zufolge nicht nur in persönlichen Beziehungen, sondern auch in der internationalen Politik eine große Rolle. Dass es in der Kuba-Krise gelang, trotz dieser mentalen Barrieren Vereinbarungen über den Abzug russischer Raketen von Kuba sowie amerikanischer Raketen aus der Türkei abzuschließen und so ein nukleares Desaster zu verhindern, war ein Sieg der Vernunft, denn es hätte auch „anders kommen können“ (GA V, 245).

Aggression und die Entstehung von Kriegen
In seiner groß angelegten Untersuchung zur Anatomie der menschlichen Destruktivität (1973) hat Fromm zwischen „gutartiger“ und „bösartiger“ Aggression unterschieden und sich mit Ursachen des Krieges auseinandergesetzt (GA VII, 188ff.). Unter gutartiger Aggression versteht er vor allem reaktives und defensives Verhalten zur Abwehr einer Gefährdung, unter bösartiger Aggression dagegen ein aktives Handeln, das von Grausamkeit, Sadismus und Destruktivität bestimmt ist. Er lehnt es ab, die Entstehung von Kriegen auf konstitutionelle Faktoren, wie den von Freud postulierten „Todestrieb“ oder einen sich von Zeit zu Zeit aufstauenden und nach Abfuhr suchenden „Aggressionstrieb“, den Konrad Lorenz bei Mensch und Tier am Werk sieht, zurückzuführen. Vielmehr entstehen Kriege nach Fromm in der Regel durch „den Ehrgeiz der politischen, militärischen und industriellen Führer“ (GA VII, 190), die sich fremdes Land und dessen Naturprodukte, Rohstoffe und Industrieanlagen aneignen wollen und die eigene Bevölkerung durch mehr oder minder intensiven Druck und Propaganda dazu bringen, mitzumachen. Aggressives Handeln von Einzelnen oder Gruppen ergibt sich als Folge aus sozialen und historischen Konfliktkonstellationen, in denen Eliten und Teile der Bevölkerung auf eine kriegerische Lösung drängen. Konflikte können jedoch auch durch Verhandlungen und Diplomatie beigelegt werden und Zustimmung oder Ablehnung in der Bevölkerung sind manipulierbar.

Grundsätze einer tragfähigen Friedenspolitik
Bei den Salzburger Humanismusgesprächen im Jahr 1968 hielt Fromm aus dem Stegreif ein Referat Zur Theorie und Strategie des Friedens, in dem er nicht nur auf die Bedrohung des Weltfriedens durch das atomare Wettrüsten, sondern auch auf grundlegende Voraussetzungen von Friedenspolitik hinwies. Friede könne dabei zweierlei bedeuten: in negativer Form „Nicht-Krieg oder Nicht-Anwendung von Gewalt zur Erreichung gewisser Ziele“, im positiven Sinn dagegen einen „Zustand der brüderlichen Harmonie aller Menschen“, aber auch mit der Natur, was dem biblischen „Schalom“ im Sinne von „Ganzheit, Harmonie, Vollheit“ (GA V, 243) entspreche.

Fromm ist sich bewusst, dass er mit der positiven Definition des Friedens von Realpolitiker*innen jedweder Couleur leicht als Utopist abgestempelt werden kann. Gleichwohl hält er daran fest, dass es solche Utopien geben muss, ja dass sie als Entwürfe einer besseren Welt unerlässlich sind, wenn man sich nicht mit einer ungenügenden Version des Bestehenden zufriedengeben will. Immerhin kann man aus der Utopie der Brüderlichkeit, die sich einst die Französische Revolution auf ihre Fahnen geschrieben hat, die Forderung an die Gesellschaft ableiten, dass sie nicht auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruhen soll, und Fromms Vorstellung vom Frieden mit der Natur kann für die ökologische Thematik fruchtbar gemacht werden.

Fromm führt einige grundlegende Prinzipien an, von denen sich eine vernünftige Friedenspolitik leiten lassen soll. Dazu gehört

1. das Prinzip, die „Niederlage des Gegners zu vermeiden“ (GA V, 252). Dieses Prinzip gilt in erster Linie für die kriegsführenden Parteien und Politiker. Es klingt paradox, da im üblichen Freund-Feind-Denken des Militärs die dauerhafte Schwächung oder völlige Ausschaltung des Gegners als selbstverständliches Ziel vorausgesetzt wird. Fromm denkt jedoch vom Ende her: Wie soll ein friedliches Zusammenleben von ehemals verfeindeten Kontrahenten möglich sein, wenn die unterlegene Seite durch die Niederlage so tief geschwächt und gedemütigt wird, dass sie nur noch an Rache und Revanche denkt? Er bemerkt dazu, dass die Diplomaten und Staatsmänner im 19. Jahrhundert noch um dieses Prinzip gewusst und meist auch entsprechend gehandelt hätten, während es danach völlig in Vergessenheit geraten sei.

2. Als ein weiteres Prinzip nennt Fromm „Aufklärung über die Tatsachen, Erziehung zu kritischem Denken“ (GA V, 252f.). Dieses Prinzip gilt vor allem für Friedensbewegungen, die einen Druck auf die öffentliche Meinung ausüben wollen. Es geht u.a. darum, angebliche Fakten, die von der kriegsführenden bzw. kriegsbereiten Partei als Gründe für die Unausweichlichkeit militärischen Eingreifens angeführt werden, kritisch zu überprüfen und sich über die wahren Hintergründe und Drahtzieher des Konflikts Klarheit zu verschaffen. Ferner sollte man Skepsis gegenüber Feindbildern entwickeln und sich von Ideologien, die die narzisstische Überbewertung des Selbst und die Entwertung des Anderen betreiben, lösen. Fromms besonderer Argwohn gilt dem Nationalismus als einer Form von Patriotismus, die „die eigene Nation über die Menschheit stellt, über die Prinzipien von Wahrheit und Gerechtigkeit“ (GA IV, 45).

3. Als Alternative zur bewaffneten Auseinandersetzung mit einem Gegner, dessen ungerechte Herrschaft man nicht länger erdulden will, erwähnt Fromm den „passiven Widerstand“ (GA V, 245). An ihm könne auch die größte Gewalt scheitern. Als Beispiel führt er die politische Aktivität Mahatma Gandhis an, die zur Befreiung Indiens vom englischen Kolonialismus führte. Er hätte aber auch Martin Luther King nennen können, dessen Aufrufe zum passiven Widerstand entscheidend dazu beigetragen haben, dass in der Gesetzgebung der USA die Rassendiskriminierung in den 60er Jahren aufgehoben wurde. Beide Beispiele zeigen: Man kann auch ohne bewaffneten Widerstand wirksam für Menschen- und Bürgerrechte kämpfen. Gewaltlosigkeit ist ein essentieller Bestandteil jeder Friedensstrategie, die ungerechte Herrschaftsverhältnisse mit friedlichen Mitteln ändern will.

Folgerungen für die Gegenwart
Auf Grund der Zugehörigkeit zur amerikanischen Friedensbewegung SANE und seines Engagements gegen den Vietnamkrieg könnte man vermuten, dass Fromm ein grundsätzlicher Gegner von kriegerischen Auseinandersetzungen gewesen sei. Dagegen spricht jedoch, dass bei ihm defensive Aggression zur Verteidigung des eigenen Lebens akzeptiert wird, was auch für die Landesverteidigung gilt. Im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine ist Russland unter Führung Putins der Aggressor, während die Ukraine einen Verteidigungskrieg führt. Sich gegen einen Angriffskrieg mit Waffengewalt zu verteidigen, ist nach Fromm ein genuines Recht des betroffenen Landes und seiner Bevölkerung, zumal wenn den Angegriffenen das Existenzrecht abgesprochen wird. Fromm war kein absoluter Pazifist. Bei Friedensverhandlungen, die auf einen „negativen“ Frieden im Sinne von Waffenstillstand folgen sollen, wäre die Anerkennung des weiteren Fortbestands der Ukraine eine notwendige Voraussetzung.

Gegenwärtig bezweckt die Aufrüstung der Ukraine mit westlichem Kriegsmaterial samt Instruktion durch westliche Streitkräfte die Befähigung zur Fortsetzung des Krieges mit konventionellen Mitteln. Die Bereitschaft zum Waffenstillstand und zum Verhandeln bleibt auf beiden Seiten gering, solange man sich vom Weiterkämpfen einen Sieg oder wenigstens eine Verbesserung der bisherigen Bilanz verspricht. Waffenstillstandsverhandlungen und Friedensgespräche werden erst aufgenommen, wenn durch sogenannten „Abnutzungskrieg“, der lange dauern kann, eine Erschöpfung der Kräfte eingetreten ist. Zur Frage, wieweit diese Art der Kriegsführung noch „rational“ zu nennen ist, hat Fromm sich nicht geäußert; er nennt jedoch als Grund für die wachsende Übereinstimmung unter religiösen Pazifist*innen, Humanist*innen und Atomkriegsgegner*innen, dass bei anhaltender Dauer des Krieges, wachsender Zerstörung und Zunahme der Zahl der Toten „die Kriegsführung gleichzeitig immer sinnloser und immer vernichtender wird“ (GA V, 216).

In einer Zeit sich verstärkender Ost-West-Konfrontation, bei der die drittgrößte Atommacht China sich offensichtlich mehr auf die russische Seite schlägt und diese den „New Start“-Vertrag mit den USA zur Begrenzung der Atomwaffenarsenale ausgesetzt hat, ist es an der Zeit, sich an Fromms Forderung zu erinnern, dass es auf keinen Fall zu einem Atomkrieg kommen darf. Wohl keine Forderung hat er mit solchem Nachdruck vertreten wie diese. Ein Atomkrieg wäre für ihn ein extremes Beispiel von „Nekrophilie“, d.h. nicht nur Hingezogensein zum Toten, sondern Lust an der „Zerstörung von Leben“ (GA II, 181) schlechthin. Falls Putin im Kampf gegen eine mit immer stärkeren konventionellen Waffen aus dem Westen ausgestattete ukrainische Armee eine Niederlage befürchten müsste, wäre ein solches Horror-Szenario nicht mehr undenkbar. Die westlichen Staaten haben bisher, um nicht in militärische Konfrontation mit Russland zu geraten, ihre eigenen Streitkräfte aus den Kämpfen in der Ukraine herausgehalten. Ob diese Haltelinie auf Dauer bestehen bleibt, könnte bei einem Einsatz „taktischer“ Nuklearwaffen durch die russischen Streitkräfte fraglich werden. Ein direktes Eingreifen von NATO-Truppen in die Kampfhandlungen wäre der Beginn eines Dritten Weltkriegs. Es ist zu hoffen, dass der jetzige Krieg nicht bis zum Letzten eskaliert und dass sich, wie seinerzeit in der Kuba-Krise, noch rechtzeitig ein Einlenken des Aggressors ergibt. Dafür sind Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen unerlässlich. Für die Friedensbewegung stellen sich in jedem Fall angesichts aktuell mangelnder Bereitschaft der Kriegsparteien zu Verhandlungen und der Gefahr weiterer militärischer Eskalation größer werdende Herausforderungen.

Anmerkungen
1 Jack, H.A., 1987: »Die Friedensbewegung und Erich Fromm«. In: L. v. Werder (Hrsg.): Der unbekannte Fromm. Biographische Studien. Frankfurt/M.: Haag & Herchen, S. 61-70., hier S. S. 63ff

2 GA steht für: Fromm, E., 1999: Erich Fromm Gesamtausgabe (GA). Hrsg. v. Rainer Funk. XII Bde. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt und München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

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