Im Blickpunkt

Zur Krise in der Ukraine

von Christine Schweitzer

Kaum schien der Aufstand in der Ukraine mit dem Sturz des Regimes von Janukowitsch zu Ende zu gehen, entwickelten sich gefährliche Spannungen mit Russland, einschließlich der Gefahr einer Militärintervention Russlands.

Die Reaktion der meisten Medien und leider auch Teile der Politik war, dass wieder einmal die Welt in "gut" und "böse" geteilt wurde. Als die "Guten" wurden die aufständischen UkrainerInnen ausgemacht, die für Demokratie und die Assoziierung an die Europäische Union auf die Straße gegangen sind. Und die "Bösen" sind einmal wieder "die Russen", die diesen Prozess mit Gewalt zu stoppen suchen und drohen, militärisch in der Ukraine zu intervenieren. Beides ist nicht falsch, und doch ist das Bild viel komplexer. In der Tat: Viele der Protestierenden in der Ukraine haben auf dem Maidan demonstriert, weil sie die Korruption und Willkürherrschaft der Regierung Janukowitsch satt hatten.

Sie sahen oder sehen sich auch nur teilweise von den oppositionellen Parteien repräsentiert - ein starkes Element des Protests der letzten Wochen war das Misstrauen gegen alle Parteien und PolitikerInnen. Aber mit der wachsenden Militanz des Protests - oder besser: der Abdrängung derjenigen, die auf gewaltlose Mittel gesetzt hatten, in die Rolle von UnterstützerInnen schwerbewaffneter Milizen mit Lebensmitteln und Sanitätsdiensten - ging die Stärkung der Rolle faschistischer, russenfeindlicher und antisemitischer Gruppen einher.

Der gemeinsame Nenner, Janukowitsch zu stürzen, wäre vielleicht schon zerbrochen, wenn nicht die Bedrohung durch Russland die Reihen anscheinend weiter zusammenschweißen würde. Die Ukraine mobilisierte ihre Reservisten und Ex-Ministerpräsidentin Timoschenko drohte Russland mit einem militärischen Eingreifen der NATO. Dass diese Drohung keine Basis in der Realität hat, wusste sie wahrscheinlich auch, aber es spiegelt die aufgeheizte und gewaltbereite Stimmung in der Ukraine Anfang März des Jahres wieder.

Auf der anderen Seite war die russische Rhetorik genauso auf Konfrontation gerichtet, und Russland ließ seinen Erklärungen, "seine BürgerInnen im Ausland schützen zu müssen", auch schon Taten folgen. Medienberichten zufolge wurde die Zahl der Truppen in den russischen Stützpunkten auf der Krim verstärkt.

Spekulationen über einen möglichen Einmarsch Russlands in die Ostukraine und eine Abspaltung der Krim machten in östlichen wie westlichen Medien die Runde und basierten angeblich auf schon zuvor entwickelten Plänen. Die Erinnerung an die Konflikte in Georgien wurden wach, wo mit Hilfe russischer Truppen zwei Minderheitengebiete, Südossetien und Abchasien, de facto von Georgien gegen dessen militärischen Widerstand abgetrennt wurden.

Die von Seiten der USA verhängten Sanktionen gegen Russland trugen ebenso zu einer Verschärfung der Lage bei, denn sie drücken eine eindeutige Positionierung der USA in dem Konflikt aus - Russland wird die alleinige Schuld gegeben.

Das national-ethnische Gesicht des Konflikts
Die Ukraine ist ein multiethnischer Staat aus Menschen, die sich in Volkszählungen (zuletzt 2001) als UkrainerInnen (77,8 Prozent), RussInnen (17,3 Prozent), KrimtartarInnen oder Angehörige vieler anderer kleiner Nationalitäten und Ethnien bezeichnen. Russisch ist in weiten Gebieten die allgemeine Verständigungssprache (Iaut Wikipedia für 77,7 Prozent der Bevölkerung die Muttersprache). Die Ukraine hat eine wechselvolle Geschichte schon seit vor der Gründung der Sowjetunion hinter sich, bei der Teile des Landes zu Österreich-Ungarn, andere Teile (u. a. die Krim) zu Russland gehörten.

Und auch die Stalinzeit mit ihren Untaten ist in der ukrainischen Erinnerung nicht verschwunden, sondern dient ukrainischen Nationalisten als anti-russisches Argument. Bislang war es dem multiethnischen Land gelungen, die Gegensätze zwischen seinem ukrainisch geprägten Westen und russisch geprägten Osten zumindest oberflächlich auszugleichen.

Doch der Aufstand gegen Janukowitsch hatte ein deutlich anti-russisches Gesicht, und es gab lange Zeit neben den Anti-Regierungskundgebungen auch pro-Regierungs-Kundgebungen. Dass die sich Russland verbunden fühlende Bevölkerung in der Ukraine in Sorge geriet, als die neue Regierung in Kiew als eine ihrer ersten Amtshandlungen ein Gesetz auf den Weg brachte, das Ukrainisch zur einzigen Amtssprache machte, ist verständlich.

Konflikte dieser Art sind in vielen Ländern Osteuropas und dem Raum der ehemaligen Sowjetunion anzutreffen. Schnell werden Konflikte, egal was ihre eigentlichen Ursachen sind, in ethnischnationalen Kategorien erklärt und es wird entsprechend politisch mobilisiert. Wo versucht wurde, mit Gewalt Fakten zu schaffen, führte dies gewöhnlich zu Flucht und "ethnischen Säuberungen" geführt.

Ein Wechsel der Herrschaftsverhältnisse ist hier keine Lösung, sondern allein die behutsame Schaffung von Regierungsformen, die Minderheitenrechte stärken und ethnische Spannungen abbauen.

Das strategische und ökonomische Gesicht des Konflikts
Das Schwarze Meer hat Anlieger, die der NATO angehören (Türkei), Anlieger, die gerne Mitglieder würden (Georgien, jetzt vielleicht auch Ukraine), und Russland mit seinen Militärbasen auf der Krim, die auch der Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte ist. Russlands Interesse an der Krim und daran, zu verhindern, dass Georgien oder Ukraine Mitglieder der NATO oder der EU werden, ist aus seinem strategischen, in alter Blocklogik verfangenen Denken zu verstehen. Dabei kann es sich auch noch auf alte Zusagen berufen, die die NATO 1990 gegenüber UdSSRPräsident Gorbatschow gemacht hatte, dass der Einflussbereich der NATO nicht bis an die russischen Grenzen ausgeweitet würde. Der Ost-West-Konflikt hat den Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" überlebt, und Russland agiert, besonders seit Putin an der Macht ist, trotz G8-Mitgliedschaft und strategischer Allianz mit der NATO, i. d. R. als Gegner des Westens - von Kosovo bis Syrien und jetzt in der Ukraine. Dass andererseits die EU in ihrem Umgang mit der Ukraine Fehler gemacht hat, wird inzwischen auch von PolitikerInnen zugegeben - man hätte die russischen Interesssen mitdenken sollen, so Norbert Röttgen, Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses, am 4. 3. in SWR2.

Allerdings: Dass Russland Sorge um seine Marinebasis auf der Krim hat, ist aus realpolitischer Sicht im Grunde nichts anderes, als wenn Kuba oder Costa RicaAnstalten machen würden, die US-Militärbasen auf ihrem Territorium schließen zu wollen. Um nicht missverstanden zu werden: Aus pazifistischer Sicht ist keine Militärbasis oder Militärpräsenz in Drittstaaten wünschenswert, und diese Feststellung darf auch nicht als Rechtfertigung des russischen Konfrontationskurses missverstanden werden. Aber manche derjenigen, die jetzt Russland lauthals verurteilen, würden sich mit genauso lautem Geschrei auf die Seite der USA stellen, wäre z. B. Kuba so verrückt, die umstrittene Präsenz der USA auf seinem Territorium in Frage zu stellen. Müssen wir es jetzt der Tatsache zuschreiben, dass sich hier die beiden Großmächte direkt gegenüberstehen, wenn die USA nicht mit einer Militärintervention in die Ukraine drohen, sondern lediglich Sanktionen verhängen? Zum Glück setzen einige europäische Regierungen im Westen - erfreulicherweise gehört die deutsche dazu - weiter auf Vermittlungsbemühungen und die Notwendigkeit, den Konflikt friedlich beizulegen.

Friedenslogik, angewendet auf die Ukraine
Im Sinne einer Friedenslogik anstelle einer Abschreckungs- oder Sicherheitslogik sollten alle Anstrengungen auf Deeskalation gerichtet werden. Im Westen heißt es dazu, dass "die meisten Vermittler" in den vergangenen Wochen "verbraucht" seien. Das trifft aber nur zu, wenn man an Russland als Adressaten denkt. Gerade weil sie sich als "pro-westlich" definiert, hat der Westen durchaus noch Einflussmöglichkeiten auf die neue Führung in der Ukraine.

Anfang März wurde von Seiten der Friedensbewegung u.a. vorgeschlagen, dass er diesen Einfluss nutzen solle, um darauf zu drängen, dass die ukrainische Regierung die militärische Mobilisierung beende, das umstrittene Sprachengesetz zurücknehme und die OSZE oder den Europarat mit Vermittlung und der Unterstützung bei der Schaffung oder Überarbeitung von inklusiven Bürgerrechten in Anspruch nehme. Ebenso wurde Russland aufgefordert, alle militärischen Maßnahmen sofort zu stoppen, bilaterale Gespräche mit der neuen ukrainischen Regierung zu führen und seine eskalierende Rhetorik zu beenden. Außerdem wurde u. a. die Entsendung einer zivilen Beobachtungsmission vorgeschlagen und die Medien kritisiert, die mit ihren Darstellungen des Konfliktes zur Eskalation beitrugen.

Es war, während dieser Artikel abgeschlossen wurde, noch nicht absehbar, wie sich die Situation weiterentwickeln würde. Aber unabhängig davon ist die generelle Zunahme der Spannungen zwischen dem Westen und Russland besorgniserregend. Nicht nur die Regierung Putin, sondern auch viele PolitikberaterInnen gerade in den USA bedienen sich inzwischen wieder der Begriffe und der Denkweise des Kalten Kriegs. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung, die es zu stoppen gilt, bevor ein echter neuer Kalter Krieg beginnt, bei dem Schlimmeres scheinbar nur durch gegenseitige militärische Abschreckung verhindert wird. Ein Konzept gemeinsamer Sicherheit anstelle der gefährlichen Abschreckungslogik und der Mut, der anderen Seite Vertrauen entgegenzubringen, haben geholfen,den Kalten Krieg vor fast 30 Jahren zu beenden. Auch heute gilt: Sicherheit ist nichts, das durch Waffen erzielt werden kann. Sicherheit kann es nur geben, wenn die Menschen den ersten Schritt aufeinander zu machen - und sei es gegen den Willen ihrer Regierungen.

Dieser Text basiert auf einer Erklärung des Bund für Soziale Verteidigung (BSV). Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim BSV und Redakteurin des Friedensforums.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.