Thesen

Zur Zukunft der Friedensbewegung nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien

von Clemens Ronnefeldt
Schwerpunkt
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1. Wir leben in Orwell`schen Zeiten
Wer die beiden Bücher von Heinz Loquai (Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000) und Jürgen Elsässer (Kriegsverbrechen. Die tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo-Konflikt, Hamburg 2000) gelesen hat, braucht sehr viel guten Willen, um noch Reste von funktionierender Demokratie in Deutschland entdecken zu können: Den Scharping`schen Hufeisenplan gab es nicht, das sog. Massaker von Racak war nach Kämpfen inszeniert, ein Völkermord fand - laut OSZE-Bericht (As seen/As told, http://www.osce.org) - nicht statt.

Das Orwell`sche an dem Buch von Brigadegeneral a.D. Heinz Loquai ist, dass Enthüllungsjournalismus vielleicht kurz beachtet und von einigen SpezialistInnen zur Kenntnis genommen wird, aber offenbar keine politischen Konsequenzen mehr hat - außer dem Verlust des Arbeitsplatzes für den Autor.

2. Die OSZE wurde von der NAT0 im Jugoslawienkrieg offensiv bekämpft
Die OSZE-Mission wurde von der NATO massiv "gemobbt". Hätte sie ihre zivile Konfliktbearbeitung ungestört zu Ende (und möglicherweise zu einem Erfolg) bringen können, wäre sie aufgewertet worden und hätte künftig mehr Geld erhalten. Umgekehrt wäre die NATO in Legitimationsschwierigkeiten für ihre nationalen Budgets geraten. Diese "Gefahr" wurde von der NATO rechtzeitig erkannt und daher die OSZE konsequenterweise ausgeschaltet. Das Risiko, das Herr Walker, Leiter der OSZE-Mission, und einige andere eingingen, als sie Teile der OSZE-Mission als trojanisches Pferd für die spätere Bombardierung instrumentalisierten, war für alle anderen zivilen OSZE-MitarbeiterInnen lebensgefährlich hoch (1). Die Inszenierung von Racak, wo Herr Walker die Toten "mediengerecht positionieren" (2) ließ, um die Lunte zum Krieg zu zünden, dürfte der bis dato schwärzeste Tag in der Geschichte der OSZE gewesen sein. Das Kernproblem einer künftig zivileren OSZE besteht darin, dass die NATO-Staaten innerhalb der OSZE das Sagen haben.
 

3. Deutschland sucht als stärkste europäische Macht seinen Platz an der Sonne
"Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, den anderen das Meer und sich selber den Himmel reservierte, diese Zeiten sind vorüber. Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer Schifffart, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen. ... Wir sind gerne bereit den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, dass unsere eigenen Interessen gleichfalls die gebührende Würdigung finden. Mit einem Wort: Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber verlangen auch unseren Platz an der Sonne", meinte der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow 1897. Weil damals auch noch andere "an die Sonne" wollten, wurde es 1914 sehr dunkel.

Seit 1992 gehören nach den Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr "die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" - mit dem den Kreis quadratierenden Zusatz - "im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung" zu den vitalen deutschen Interessen.

4. Die Gefahr eines neuen Weltkrieges wächst
Beim Kampf um die verbliebenen Ressourcen der Erde und die Neuverteilung politischer Gewichte nach Ende des Ost-Westkonfliktes, insbesondere auch zwischen USA und Europa, spitzt sich eine Situation zu, die sowohl derer vor 1914 wie auch derer in den 30er Jahren nicht unähnlich ist:

"Washington fürchtet eine Kettenreaktion der Gewalt in Nahost" titelte die FR am 10.10.2000 und führte aus: "Der Vergleich, mit dem ein US-Beamter das Ziel des Gipfels beschrieben hat, den Clinton noch in dieser Woche zustande bringen will, lässt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig. Es gehe darum, ´nach etwas zu suchen, was eine Kettenreaktion wie im August 1914 stoppen würde`. Damals glitt Europa in den ersten Weltkrieg".

Das Einzige, was wir aus der Geschichte lernen, ist, dass wir nichts aus der Geschichte lernen - ich hoffe, dass wir diesen Satz widerlegen können und der Rubikon noch nicht überschritten ist!

5. Die internationalen Finanzmärkte sind Triebfeder der globalen Beschleunigungskrise
"Die Generäle der Wallstreet lieben den Krieg", brachte Daniel Kadlec in der "Time" die Kurssteigerungen nach dem 2. Golfkrieg auf den Punkt (3). Die Triebfeder der derzeitigen "globalen Beschleunigungskrise" (Peter Kafka) sind m.E. nicht so sehr das Militär und nicht die Politik (wobei beide auch davon profitieren), sondern die aus dem Ruder gelaufenen internationalen Finanzmärkte. Die Eliten schicken heute kaum noch Armeen, sondern Dollar, Euro und Yen zu ihren Eroberungsfeldzügen aus, weltweit derzeit 1,5 Billionen Dollar pro Börsentag.
 

"Das Volumen des Welthandels belief sich 1998 demgegenüber auf insgesamt 6,9 Billionen US-Dollar. Um den weltweiten Handel zu finanzieren, würden also fünf Börsentage ausreichen" (4). Die Börsen der Welt tanzen auf dem Vulkan - ein Platzen der Seifenblasen scheint näherzurücken.

Nach Angaben des Human Development Report 1999 der Vereinten Nation (UNDP) ging die Einkommensschere zwischen dem Fünftel der Weltbevölkerung, das in den reichsten Ländern lebt, und dem ärmsten Fünftel im Jahre 1997 auf 74:1 auseinander, während das Verhältnis 1960 noch bei 30:1 lag.

"Ein freier Markt und eine nicht ganz so freie Gesellschaft gehen Hand in Hand", meint der US-Ökonom Edward Luttwak in seiner Beschreibung des "Turbo-Kapitalismus".

Im Umkehrschluss gilt, dass ein etwas weniger freier Markt, wieder zu einer freieren - und auch gerechteren - Gesellschaft führen kann. Wenn die Ursachen der Globalisierung nicht angegangen werden, sind auch deren Auswüchse z.B. in Form des größten Um- und Aufrüstungsprogramms der Bundeswehr seit deren Bestehen sowie neue Krisen und Kriege im Kaukasus oder Nahen und Mittleren Osten nicht zu verhindern.

6. Die internationalen Finanzmärkte sind bei politischem Willen kontrollierbar
Vorschläge für eine Kontrolle sind:
 

  •  Die Einführung einer Steuer auf internationale Finanztransaktionen (z.B. Tobin-Steuer)
     
  •  Die Schließung der Steuerparadiese und "Off-Shore-Zentren"
     
  •  Keine Privatisierung der Alterssicherung (z.B. Pensionsfonds)
     
  •  Das Verbot von spekulativen Derivaten und der hochspekulativen "Hedge-Funds"
     
  •  Schuldenstreichung für die Entwicklungsländer
     
  •  Strengere Banken- und Börsenaufsicht für die sog. institutionellen Anleger
     
  •  Stabilisierung der Wechselkurse zwischen den drei Hauptwährungen Dollar, Euro und Yen
     
  •  Die demokratische Umgestaltung internationaler Finanzinstitutionen
     
  •  Die stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften und großen Vermögen
     

(Quelle: http://www.share-online.de/Finanzmärkte).

Was derzeit wohl am meisten fehlt, nennt Peter Kafka "Strukturelle Nichtausbeutungsfähigkeit". Erst als deren Folge ist m.E. überhaupt an eine "Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" oder Auflösung der NATO zu denken, - zeitlich wohl kaum umgekehrt! Trotzdem fände ich es sinnvoll, die Erreichung beider (Fern-)Ziele gleichzeitig anzustreben und auf beiden Feldern parallel und stärker als bisher vernetzt zu arbeiten. Vorschläge zur Reform von WTO, IWF und Weltbank wurden in Seattle und Prag gemacht.

7. Die Innen- und Außenseite bei Individuen und Gesellschaften sind vergleichbar
Zwischen der Innenseite eines Menschen und seinen äußeren Taten besteht meist ein deutlich erkennbares Verhältnis. Ähnliches gilt m.E. auch für Gesellschaften. In welchem Verhältnis stehen die Todesurteile in den USA und die überfüllten Gefängnisse zur US-Außenpolitik? In welchem Verhältnis steht die deutsche Kriegsbeteiligung am Jugoslawieneinsatz zur deutschen Innenpolitik? Wieviel innerdeutsches Aggressionspotenzial hat sich in diesem Krieg aufgrund von Projektion nach außen abgeleitet und entladen?

In dem Spion-Thriller "Get Smart" fragt Agent 99: "Weißt du Max, manchmal denke ich, wir sind nicht besser als sie sind; die Art, wie wir morden und töten und Leute zerstören. Worauf Smart antwortet: "Warum?, Agent 99, Du weißt, dass wir morden, töten und zerstören müssen, um alles was gut ist in der Welt zu bewahren" (5).

Zur Überprüfung der eigenen Friedensfähigkeit empfehle ich die Übung, sich seinen größten Feind oder Gegner vorzustellen, sich zu fragen, was es ist, was einem an ihm oder ihr stört - und anschließend zu überprüfen, was die gefundenen Eigenschaften mit einem selbst zu tun haben. Politische Arbeit "im Außen" und persönliche Bewusstseinsarbeit "im Innen" gehören m.E. zusammen. Bei der Bewältigung der derzeitigen Situation halte ich beide Aspekte für grundlegend.

8. Auch die Friedensbewegung benötigt eine neue Kultur des Umgangs miteinander
Wieviele Friedensgruppen wären nicht an Richtungsstreitigkeiten zerbrochen, wenn sie etwas z.B. von der Gewaltfreien Kommunikation nach Dr. Marshall Rosenberg gehört und diese praktiziert hätten? Wo würden sie heute stehen, wenn sie Beobachtungen von Bewertungen, Gefühle von Interpretationen und Bitten von Forderungen zu unterscheiden gelernt hätten, wenn tief verankerte menschliche Grundbedürfnisse nach Wertschätzung, Freiheit des Willens und Unabhängigkeit in unseren Friedensgruppen grundlegender berücksichtigt worden wären?

Die Friedensbewegung heute krankt an einem Missverhältnis: "Den einen, insgesamt ziemlich wenigen, platzt schier der Kopf von all dem Horrorwissen, ohne dass sie es in Veränderungsenergie umsetzen könnten. Andere, wohl die meisten der ansprechbaren Mitbürger, verdrängen dies Wissen alsbald, weil sie gar nicht die Kraft haben, es auszuhalten... Und die bei weitem meisten aller Bundesbürger haben nicht einmal unsere Flugblätter gelesen, unsere Demos allenfalls nur kurz im Fernsehen gesehen und sind nie zu den mühsam vorbereiteten Informationsveranstaltungen gekommen. Ich vermute heute, dass ihre ´Bequemlichkeit` auch ein instinktiver Selbstschutz war nach dem Motto ´Lass mich in Ruhe mit all dem Scheiß; ich kann eh nix dran ändern`" (6).

Was ist heute zu tun angesichts der Tatsache, dass der Höhepunkt der Krise wohl erst noch kommen wird? Wir stehen m.E. vor einer Durststrecke, die es auszuhalten gilt, ohne zynisch oder sarkastisch zu werden. Wenn wir bei jedem Schritt sofort ein Ergebnis sehen wollen und zu sehr auf schnelle "Erfolge" schielen, gehen wir dem neoliberalistischen System auf den Leim. Die "Strukturelle Nichtausbeutungsfähigkeit" und die "Strukturelle Nichtangriffs-fähigkeitbzw. Auflösung der NATO sind Langzeitprojekte.
Der Verzicht auf Rechthaberei und die Stärkung der eigenen Kritikfähigkeit kann uns dabei glaubwürdiger und einladender für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen. Bei meinen vielen Veranstaltungen ist mir aufgefallen, dass diejenigen Gruppen den längsten Atem haben, die sich auch menschlich am besten verstehen und zusammen feiern können.

9. Die Stärkung widerstandsfähiger Menschen ist ein vielversprechender Ansatz
Ein Ansatz, den ich teile, stammt von Gerhard Breidenstein: "Alle Bürger sind im Blick, wenn es darum geht, die ideologische Vorherrschaft der heute noch Mächtigen zu unterhöhlen. Nichts wäre wirkungsvoller dafür, als wenn viele Menschen auf psychologisch-spirituellem Wege ihre Angst verlieren und ihr Selbstvertrauen gewinnen. Denn wer keine Angst mehr hat oder besser: wer mit seiner Angst vertraut ist, fällt weder auf die Feindbild-Propaganda noch auf die Sicherheitsideologien mehr herein. Wer seinen inneren Wert kennt, ist nicht mehr verführbar. Und vor allem: wer in seinen tieferen Bewusstseinsschichten wieder Anschluss gefunden hat an die Urkraft des Lebens, dem kann keine Krise mehr die Hoffnung zerstören, die wird nicht mehr resignieren, der oder die wird unerschöpfliche Kräfte gewinnen für die langwierige gesellschaftliche Veränderung" (7).

Dies schließt für mich Zeiten der Resignation und Erschöpfung nicht aus. Hoffnung ist allerdings für mich etwas anderes als Optimismus. Optimistisch bin ich nicht, was die nähere Zukunft betrifft - aber auch keineswegs hoffnungslos. Je härter die Krise werden wird, desto mehr werden wir uns gegenseitig als Stütze und Solidargemeinschaft brauchen.

10. Nichtregierungsorganisationen überwinden die Individualisierung und sind derzeit Hoffnungsträger
Dorothee Sölle sieht uns in einem doppelten Gefängnis: "Eine der spirituellen Schwierigkeiten in unserer Lage ist der innere Zusammenhang von Globalisierung und Individualisierung. Je globaler die Weltwirtschaft sich organisiert, je desinteressierter sie sich allen sozialen oder ökologischen Eingebundenheiten gegenüber gibt, desto mehr benötigt sie als Ansprechpartner das Individuum ohne jede Beziehung, den homo oeconomicus, jenes geschäfts- und genussfähige Einzelwesen, das - von Gott ganz zu schweigen - auch an den Tretminen, die sein Autohersteller produziert, oder am Wasser, das seine Enkelkinder benutzen werden, kein Interesse zeigt. ... Die Religion des Konsumismus braucht die älteren und schwächeren Gestalten des Opiums des Volkes nicht mehr. Es gibt überall bessere Opiate zu kaufen. ... Dieses Zusammenspiel von Weltherrschaft der Konzerne in der Globalisierung und einer neuartig inszenierten Individualisierung ohne Rest, ohne Bindung an die Geschwistergeschöpfe, erscheint hoffnungslos, ein Weiterrasen auf den apokalyptischen Untergang hin, und wird von vielen Nachdenklichen als unaufhaltsames Fatum angenommen. ... Wenn wir nur die ´Herren dieser Welt` anstarren und die Masse der unschädlich gemachten Einzelnen, dann sehen wir noch nicht mit den Augen des anderen Blickes. Die Weltangst umfängt uns dann und sperrt uns in das besteingerichtete Gefängnis, das es je gab. ...
 

Die Hoffnungsträger im gegenwärtigen Szenario der ´global players` auf der einen und der isoliert-amüsierten Individuen auf der anderen Seite sind Gruppen, die auf Freiwilligkeit, Kritikfähigkeit und eigene Initiative setzen. Diese Nichtregierungsorganisationen, zu denen ich auch die lebendigen Teile der christlichen Kirche rechne, sind politisch gesprochen die Trägerinnnen von Widerstand. Spirituell gesprochen verkörpern sie ein anderes Subjekt als das im Gefängnis des Konsumismus eingeschlafene. Was trägt sie? Was hält sie wach? Warum geben sie nicht auf? Ich denke, es sind Elemente von Mystik, die sich nicht auslöschen lassen. ... Das vernetzte und sich verbindende Subjekt, das in den Widerstand hineinwächst, ist nicht zerstörbar" (8).

Anmerkungen:
1vgl. D. S. Lutz, Völkermord, Moral und die Unabwendbarkeit von Kriegen. Das Beispiel Kosovo, in: Shalom, hg. im Auftrag der Evangelischen Kirche von Westfalen, Dortmund, Ausgabe 1/2000, S. 24.
 

2Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000, S. 51.
 

3zitiert nach FR, 25.2.98.
 

4zitiert nach "Kapital braucht Kontrolle - Die internationalen Finanzmärkte: Funktionsweise - Hintergründe - Alternativen", hg. von "Kairos Europa" und "Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung" (WEED), Bonn 2000, S.7f. (Kontakt: http://www.weedbonn.org oder Bertha von Suttner Platz 13, 53111 Bonn).
 

5Vgl. Walter Wink, Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1999, S. 21 (Übersetzung C.R.).
 

6Gerhard Breitenstein, Hoffen inmitten der Krisen. Von der Krankheit und Heilung unserer Gesellschaft, Frankfurt 1990, S. 242.
 

7Gerhard Breitenstein, a.a.O., S.244.
 

8Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand, Hamburg 1998, S. 241ff.

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Clemens Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes.