Redebeitrag für die Hiroshima Gedenkveranstaltung am 6. August 2019 in Nürnberg

 

- Sperrfrist: 6.8.2019, Redebeginn: 20 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreunde, liebe Passanten und Interessierte hier auf der Nürnberger Museumsbrücke,

wir sind hier zusammengekommen, weil wir an den Abwurf der Atombombe auf die japanische Stadt Hiroshima am 6.8.1945 erinnern wollen. Wir gedenken der zahllosen Toten dieses Einsatzes, wie auch der Opfer der Atombombe auf Nagasaki drei Tage später, am 9.8.1945. In dies Andenken schließen wir auch die Opfer der verhängnisvollen Weiterentwicklung mit ein, von der militärischen Atomwaffenentwicklung und den Testexplosionen, meist im Pazifik, bis hin zur sogenannten zivilen Nutzung der Atomenergie.

Doch Gedenken genügt nicht, genügt uns nicht. Wir rufen "Nie wieder Hiroshima!"

Angesichts dieser Opfer sehen wir die Verpflichtung, alles dafür zu tun, dass so etwas nie wieder geschieht. Und das soll kein Lippenbekenntnis sein, deshalb möchte ich heute auf Besorgnis erregende aktuelle Entwicklungen eingehen.

Denn die Gefahr eines Atomkrieges, eines Atomkriegs hier in Mitteleuropa, steigt rasant. Die "Weltuntergangsuhr" steht auf 2 Minuten vor 12! So nah am Abgrund standen wir fast noch nie, außer

  • in den 1950er Jahren, als im Kalten Krieg die ersten gigantischen Wasserstoffbomben gezündet wurden, und es keinerlei vertragliche Rüstungsbegrenzung zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion gab - und
  • in den 1980er Jahren, als sich auf beiden Seiten der Blockgrenze, hier mitten durch Deutschland, schnelle, zielgenaue atomare Kurz- und Mittelstreckenraketen abschussbereit gegenüber standen.

Die Forderung: "Keine Atomraketen in Ost und West!" hat damals eine riesige Friedensbewegung in vielen Ländern mobilisiert. Die Erkenntnis breitete sich aus: Atomkrieg ist die ultimative Katastrophe. Schließlich erklärte sogar US-Präsident Ronald Reagan gemeinsam mit Generalsekretär Michail Gorbatschow: "Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen, ein Atomkrieg darf niemals geführt werden!" – und sie unterzeichneten 1987 den INF-Vertrag.

INF – das klingt nach einem der vielen Kürzel, die uns überall umgeben. INF heißt: Intermediate Range Nuclear Forces, übersetzt: Mittelstrecken-Atomwaffen. Also genau die Waffensysteme, die die lebensbedrohende Konfrontation auf die Spitze getrieben hatten.

Und dieser INF-Vertrag von 1987 hatte gewaltige, positive Auswirkungen! All diese Waffensysteme von USA und Sowjetunion wurden einvernehmlich (!) abgerüstet, eine ganze Kategorie von Waffen, sowas Umfassendes hat es fast noch nie gegeben. 2700 Systeme wurden zerstört, etwa 1800 auf der Seite der Sowjetunion, etwa 900 bei den USA. Zukünftig war die Stationierung solcher Waffen und auch die Aufstellung von Starteinrichtungen dafür verboten, das wurde gemeinsam überwacht, für Streitfälle gab es gemeinsame Prozeduren.

Ich denke, dass dieser Erfolg nicht nur kurzfristig die Situation entschärft hatte, sondern gegenseitiges Vertrauen hat wachsen lassen - damit wurde die Wende von 1989/90, die Vereinigung von West- und Ostdeutschland, das Ende der Block-Konfrontation ermöglicht.

Und diese Grundlage der Ordnung in Europa – ich zögere, von Friedensordnung zu reden, diese wird nun "einfach so" gekündigt und läuft aus, das war am 2.8., also vor vier Tagen.

Wieso eigentlich? War's vielleicht ein schlechter Deal, ich karikiere etwas. Oder liegt es daran, dass Trumps Sicherheitsberater Bolton versucht, die USA aus allen Verträgen heraus zu holen, die die Handlungsfreiheit begrenzen, insbesondere wenn diese schon 30 Jahre alt sind. Aber nein, da gab es ja was ganz Konkretes:

Die USA werfen Russland vor, durch Entwicklung und Stationierung eines atomaren Marschflugkörpers den INF-Vertrag seit Jahren zu verletzen. Die Russen bestreiten die Vertragswidrigkeit dieses Waffensystems. Die vertraglichen Mechanismen zur Klärung des Disputs wurden nicht genutzt. Und die NATO? - Hat das nur zur Kenntnis genommen und die Wichtigkeit des INF-Vertrags betont. Erst letztes Jahr hat sich Deutschland mitsamt der NATO geschlossen hinter die amerikanische Position gestellt. Fakten für die Öffentlichkeit gab es allerdings keine, nur den Hinweis auf "glaubwürdige" Geheimdienst-Informationen! Das kommt mir verdächtig vor, es klingt wie die Rechtfertigung des letzten Irak-Kriegs, damals waren es die Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins, die später leider nicht auffindbar waren.

In unseren Medien ist auch weitestgehend übersehen worden, dass auch Russland den USA seit Jahren Vertragsbrüchigkeit vorwirft. Es geht um die Raketen-Abwehrsysteme, die angeblich zur Abwehr iranischer Raketen in Rumänien bzw. Polen bereits aufgebaut sind bzw. werden, wenige hundert Kilometer von der russischen Grenze. Russland behauptet, diese seien auch zum Abschuss von Mittelstrecken-Marschflugkörpern geeignet und somit vom INF-Vertrag verboten! Und die Fakten? Laut Internet bietet der US-Hersteller ein modulares System an, das beides kann! Derselbe Typ von Abschussrampe ist auch auf vielen US-Kriegsschiffen im Einsatz, die damit unbestritten Tomahawk-Marschflugkörper verschießen.

Wenn die Bundesregierung wirklich den INF-Vertrag hätte retten wollen, dann wäre das Mindeste gewesen, sich um die Klärung der gegenseitigen Vorwürfe zu kümmern. Dafür stehen neutrale, internationale Organisationen zur Verfügung. Doch das hat sie nicht getan, es gab und gibt bis heute nur ultimative Forderungen an Russland.

Jetzt liegt das Kind im Brunnen! Der INF-Vertrag ist tot.

Damit ist ein neues atomares Wettrüsten hier in Mitteleuropa wieder möglich, vielleicht auch wahrscheinlich. In den letzten 30 Jahren hat sich die Zahl der Atomwaffen weltweit stark verringert, schließlich hat sich die Öffentlichkeit geradezu an den Gedanken gewöhnt, dass die Atomwaffen ein Thema von gestern wären, noch da, aber nicht mehr das Hauptproblem. Das Ende des INF-Vertrags könnte der Turn-Around sein, es kann wieder losgehen mit dem Atomrüsten! Und das ist für mich am Hiroshima-Gedenktag ein unerträglicher Gedanke!

Wir fordern deshalb von der Bundesregierung: sie soll nicht nur über das Ende des INF-Vertrags lamentieren, sondern sich strikt gegen eine Stationierung neuer Atomwaffen in Europa aussprechen und erklären, dass Deutschland nicht bereit ist, sein Territorium zur Verfügung zu stellen!

In den USA sind bereits hunderte von Millionen Dollar teure Entwicklungsprogramme angelaufen, um solche Waffen schnellstens zur Verfügung zu stellen, die bis vor wenigen Tagen noch verboten waren, neue atomar bewaffnete landgestützte Cruise Missiles und auch Mittelstrecken-Raketen, ähnlich der Pershing-II der 1980er Jahre.

Solche Atomraketen, hier bei uns oder vielleicht auch in den osteuropäischen Ländern der NATO, sind extrem gefährlich. Sie stehen nah an der russischen Grenze, daher ist die Flugzeit nur kurz und dementsprechend hat die Gegenseite fast keine Zeit für die Entscheidung, wie reagiert werden soll. Mit modernster elektronischer Steuerung ausgestattet muss die andere Seite davon ausgehen, dass das Ziel, zum Beispiel eine Kommandozentrale oder Raketenstellung getroffen und vernichtet wird. Dies führt zu extremer Krisen-Instabilität: bereits bei einer Warnung muss zwingend reagiert werden - somit kann der Atomkrieg auch schon durch einen Fehlalarm ausgelöst werden.

Diese Waffensysteme holen den Atomkrieg nach Europa, es sind Kriegsführungswaffen. Aus US-Sicht, von jenseits des Atlantiks, mag das vorteilhaft sein, für uns aber wäre es die Katastrophe. Nukleare Kriegsführungsfähigkeit ist auch der Leitbegriff für das riesige Aufrüstungsprogramm im Umfang von mehr als 1 Billion, also 1000 Milliarden US-Dollar, die in den nächsten Jahren für Atomwaffen ausgegeben werden.

Nebenbemerkung: auch alle anderen Atommächte haben solche sogenannten "Modernisierungs"-Programme laufen, aber die USA sind bei weitem dominierend.

Was der Begriff "Atomare Kriegsführungswaffe" konkret bedeutet, dafür gibt es Anschauungsmaterial im Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in der Eifel. Dort sind ca. 20 atomare Flugzeugbomben der USA gelagert, und Piloten der Bundeswehr üben mit ihren Tornados den Einsatz dieser Waffen. Dies nennt sich "Nukleare Teilhabe" Deutschlands am Atomwaffenpotenzial der USA, und es ist eine völkerrechtlich problematische Konstruktion, denn es verwischt die Grenze zwischen Atomwaffen- und Nichtatomwaffenstaat.

Diese Atomwaffen sind nicht mehr die neuesten, deshalb sollen sie "modernisiert" werden. Doch "Modernisierung" ist ein irreführender Begriff, denn die bisherigen frei-fallenden Atombomben sollen durch ein völlig neues Modell ersetzt werden, das militärisch effektiver einsetzbar sein soll. Dort sehen sie eine Attrappe in Original-Größe!

Die neue Bombe vom Typ B61-12 bekommt einen Steuerungsmechanismus, d.h. sie kann in großer Höhe und wesentlich größerer Entfernung abgeworfen werden und sie navigiert sich dann selbständig zum Ziel. Die Energie der Atomexplosion kann eingestellt werden, je nach zu zerstörendem Ziel. Und nicht zuletzt: der neue Atomsprengkopf ist so robust konstruiert, dass er mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit gut 10 Meter in steinigen Boden eindringen kann, ohne dass der Zündmechanismus Schaden nimmt. Dadurch kann diese Bombe zielgenau auch gehärtete Bunker zerstören. All dies gibt einen Eindruck davon, was sich die Militärs und Strategen unter einer einsetzbaren Atombombe vorstellen. Die Entwicklung dieser Bombe ist abgeschlossen, dieses Jahr hat die Produktion begonnen – und in den nächsten Jahren sollen die 20 Bomben in Büchel ersetzt werden.

Gegen diese Atomkriegs-Vorbereitung steigt der Widerstand auch in Büchel. Vor wenigen Wochen bei einer Großveranstaltung in Büchel wurden 20 solcher Atombomben-Attrappen vorgeführt, diese hier bei uns ist eine davon. Demonstrationen, Protest, Blockaden, Aktionen zivilen Ungehorsams – all das nimmt zu in Büchel. Immer mehr Menschen dringen auch in das Militärgelände ein, um zu dokumentieren, dass Atombomben in Deutschland nicht länger akzeptiert werden. Ich selbst war am 30. April mit einer Gruppe von 17 Personen dabei. Wir haben Schilder aufgehängt wie dieses, bevor wir hinausgetragen wurden: Ziviler Sicherheitsbereich – Betreten erwünscht – Kein Atomwaffengebrauch – unterschrieben: Die Zivilgesellschaft.

An diesem Hiroshimatag möchte ich mit einer hoffnungsvollen Entwicklung enden: dem Atomwaffenverbotsvertrag. Am 7.7.2017 hat eine große Mehrheit der UN-Vollversammlung diesem Vertrag zugestimmt. Inzwischen gibt es 70 formelle Unterzeichnerstaaten und 23 hinterlegte Ratifikationsurkunden. Sowie 50 Staaten ratifiziert haben, tritt dieser Vertrag völkerrechtlich in Kraft. Dieser Vertrag ergänzt den Atomwaffen-Sperrvertrag von 1970, er verbietet nicht nur den Einsatz und die Drohung mit Atomwaffen, sondern auch Herstellung, Test, Transport usw., also alle Aktivitäten mit Atomwaffen - und will letztlich Atomwaffen delegitimieren. Für die Initiierung dieses Vertrags hat die internationale Kampagne ICAN den Friedensnobelpreis erhalten.

Biologische und Chemische Massenvernichtungswaffen sind längst geächtet, warum nicht auch die Atomwaffen? Bringt das was?

Beispiel: Jeder weiß, dass Landminen durch den Vertrag von Ottawa verboten, international geächtet sind. Die ganz große Mehrheit der Staaten ist dabei, allerdings nicht z.B. die USA, Russland, Saudi-Arabien... Auch Deutschland, obwohl strammer Verbündeter der USA, konnte sich dem internationalen Druck nicht widersetzen und hat unterschrieben. Und es werden jedes Jahr immer mehr Unterstützer. Genau diesen Prozess wollen wir wiederholen, die Atomwaffenmächte werden einsehen müssen, dass ihre Prestige-Waffen in Wirklichkeit nichts taugen, dass sie auf dem internationalen diplomatischen Parkett wertlos sind, sie sind einfach nur gefährlich und für die Zukunft der Menschheit unakzeptabel.

Die Stadt Nürnberg hat sich dem internationalen ICAN-Appell übrigens angeschlossen. Und Einzelpersonen können hier den Appell an die Bundesregierung unterschreiben.

Wir fordern:

  • keine Zustimmung zur Stationierung neuer Atomwaffen in Deutschland
  • keine "Modernisierung" der Atombomben in Büchel
  • Deutschland muss sich dem Atomwaffen-Verbotsvertrag anschließen!

Hiroshima mahnt – Nie wieder Hiroshima! Keine neuen Atomwaffen in Ost und West!

Vielen Dank.

 

Dr. Wolfgang Nick ist aktiv beim Friedensmuseum Nürnberg.