Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 6. August 2023 in Stuttgart

 

- Sperrfrist: 6.8., Redebeginn: 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Ich darf sie alle heute zur Hiroshima-Mahn-Aktion begrüßen – als einer der 6.000 deutschen Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges.

Heute vor 78 Jahren, am 6.August 1945 wurde die japanische Stadt Hiroshima Ziel des ersten Atombombenabwurfes – 3 Tage später, am 9. August 1945, folgte der atomare Angriff auf Nagasaki. Insgesamt starben dadurch etwa 92.000 Menschen
sofort, 130.000 weitere Menschen verstarben bis zum Jahresende 1945 an den Folgeschäden – bis heute leiden noch Menschen an den gesundheitlichen Folgen der damaligen atomaren Verstrahlung.

Atomwaffen schaffen unendliches Leid. Eine wirksame medizinische Hilfe ist für direkte Strahlungsopfer nicht möglich – als Ärzt*innen können wir bei einem Atomangriff nicht mehr helfen ! In der Konsequenz heißt das: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich Hiroshima und Nagasaki nie mehr wiederholen können. Die Atombomben-Opfer mahnen uns, für eine Welt ohne Atomwaffen einzutreten und diese einzufordern - deshalb stehen wir heute hier am Schloßplatz!

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine eskaliert weiter - auch in der Drohung Präsident Putins, gegebenenfalls taktische wie strategische Nuklearwaffen einzusetzen. Mögliche Szenarien des Einsatzes von taktischen Atomwaffen werden von den Militärs, wohl auf beiden Seiten, durchgespielt. Es droht eine nukleare Spirale, an deren Ende die atomare Katastrophe stehen kann.

Die seit Jahrzehnten andauernde Warnung der Friedensbewegung vor einem Atomkrieg in Europa ist also wieder erschreckend nahe gekommen.

Die atomare Bedrohung ist so groß wie nie. Weltweit, auch in Deutschland, wird atomar aufgerüstet - schon vor dem Ukraine-Krieg hat dieser unheilvolle Weg unter dem Stichwort „Modernisierung der Atomwaffen“ begonnen. Es gibt derzeit über 12.000 Atombomben, etwa 2.000 davon sind in ständiger Einsatzbereitschaft - das reicht, um alle großen Städte der Welt mehrfach zu zerstören.

Beim Einsatz von „nur“ 50 Bomben mit der Sprengkraft je einer Hiroshima-Bombe - das wäre nur ein Bruchteil der Sprengkraft des heute auf der Welt vorhandenen atomaren Arsenals – würden fünf Millionen Tonnen Rußpartikel in die Atmosphäre gelangen und das Sonnenlicht weltweit absorbieren. Als Folge würde z.B. die US-Weizenproduktion auf Jahre um bis zu 20 Prozent zurückgehen, die Reisproduktion in China würde um bis zu 25 Prozent einbrechen, bei Winterweizen sogar bis 40
Prozent. Weltweit würde die Nahrungsmittelproduktion in den ersten zehn Jahren um 20 bis 40 Prozent sinken.

Würden mehr Atombomben eingesetzt, steht uns allen das bevor, was die Forschereinen nuklearen Winter nennen – Atomwaffen drohen uns alle zurück in eine Eiszeit zu bomben.

Der Einsatz von A-Waffen ist also nie begrenzbar, der radioaktive Fallout betrifft immer alle Menschen auf allen Kontinenten.

Die enormen Risiken der Atomwaffen und die unabsehbaren humanitären Folgen lassen nur einen Schluss zu; die Atomwaffen müssen abgeschafft werden.

Der beste Weg dafür ist der UN-Atomwaffenverbotsvertag, der seit 2021 völkerrechtlich bindend ist. Atomwaffen sind damit eindeutig und klar geächtet – dafür steht der Verbotsvertrag.

Das Inkrafttreten des Vertrags war ein Meilenstein der globalen Bewegung für nukleare Abrüstung. Die Initiative ICAN, von der IPPNW als Tochterorganisation gegründet, hat hierfür 2017 den Friedensnobelpreis erhalten!

Der Vertrag verkörpert den Willen von uns allen, ohne Atomwaffen leben zu wollen.

Er stellt einen Sieg der internationalen Demokratie und der multistaatlichen Diplomatie über die Dominanz der 9 Atommächte dar.

ABER: Deutschland fehlt bisher unter den Unterzeichnerstaaten.

MEHR NOCH: Deutschland ist explizit Bestandteil der nuklearen Bedrohung, indem es die Stationierung von 15 US-Atombomben im Fliegerhorst Büchel erlaubt und mitfinanziert.

Damit legalisiert und unterstützt Deutschland den Besitz von und die Drohung mit Atomwaffen, was auch in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung bekräftigt wird.

Gleichzeitig stellt sie enorme Geldsummen, und das fast ohne gesellschaftliche Debatte, für eine massive Aufrüstung bereit. Die in Büchel gelagerten US-Atombomben werden aktuell „modernisiert“, d.h. diese werden

anwendungstauglicher gemacht – mit der Folge, dass deren taktischer Einsatz auch wahrscheinlicher wird. Dazu tragen die neuen F35-Tarnkappenbomber bei, die die Bundesregierung bestellt hat und mit denen im Kriegsfall US-Atombomben durch
deutsche Piloten abgeworfen werden sollen. Dieser Einsatz würde vom US-EUCOM in Stuttgart Vaihingen aus koordiniert.

Wir fordern deshalb klar und unmissverständlich:

Deutschland muss endlich raus aus der nuklearen Teilhabe!

Deutschland muss endlich atomwaffenfrei werden!

Die Bundesregierung verliert jedwede Glaubwürdigkeit, wenn sie die Stationierung russischer Atomwaffen in Weissrusslands streng verurteilt, aber selber die eigene nukleare Teilhabe mit der USA aufrechterhält.Gerade auch in einem laufenden Krieg muss das Prinzip der Gewaltreduktion und das der Deeskalation Vorrang haben.

Die IPPNW plädiert deshalb für einen Verhandlungsfrieden und für die Suche nach einem Interessensausgleich zwischen Russland und der Ukraine.

Dies ist eine notwendige Alternative zur aktuellen deutschen Politik, die allein auf massive militärische Aufrüstung der Ukraine und Europas setzt – und sie stimmt leider in den Chor der Sieges-Parolen ein und begünstigt damit die übliche polarisierende Kriegsrhetorik.

Deutschland hat hier jede historisch angeratene Zurückhaltung verloren.

Durch die erst kürzlich erfolgte Zusage über erneute Panzer - und Raketenlieferungen an die Ukraine sind wir in Deutschland mittlerweile sichtbar zur Kriegspartei geworden, mit all den möglichen Konsequenzen!

Und ich sage es in aller Deutlichkeit: Diese Militarisierung und diese Aufrüstung geschieht nicht in unserem Namen.

Lassen sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Streumunition sagen, die seitens der USA jetzt in die Ukraine geliefert wird. Ja, Russland setzt diese offensichtlich gegen die Ukraine ein. Ja, es gilt aber auch, dass das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta darin eingeschränkt ist, dass der Einsatz von geächteten Waffen auch einem mit diesen Waffen angegriffenen Staat verboten ist.

Darüber hinaus gilt: D ist dem Übereinkommen zum Verbot von Streumunition völkerrechtlich beigetreten und ist daher Verpflichtungen aus diesem Vertrag eingegangen. Daher ist der Transport der Streumunition durch das Bundesgebiet strafrechtlich verboten. Und die Bundesregierung ist völkerrechtlich sogar verpflichtet, den USA bei der Lieferung und der Ukraine beim Einsatz von Streumunition „in den Arm zu fallen“, also alles zu unternehmen, um den Einsatz von Streumunition zu erschweren und zu verunmöglichen.

Die Bundesregierung schweigt zu diesem Thema – und begeht im Schweigen einen Vertragsverstoß.

Die Wahrheit ist, dass alle Beteiligten, zuvorderst die Ukraine und Russland, verlieren werden, wenn der Krieg auch nur einen Tag länger weitergeht. Wer von einem möglichen Sieg redet, auf welcher Seite auch immer, belügt die Bevölkerung!

Wir lassen es nicht zu, dass zwischen erschossenen russischen und ukrainischen Soldaten moralisch unterschieden wird.

Weil jeder toter Soldat ein zu betrauernder toter Soldat ist, weil jedes getötete Kindoder jede getötete Privatperson eine Gestorbene ist, weil ein Mensch ein Mensch ist - deshalb muss dieser Krieg aufhören. Wir müssen einen Waffenstillstand anstreben
und zunächst die hinter dem Krieg stehenden Interessens-Konflikte einfrieren. Neben den völkisch-nationalen und imperialen Kriegs-Motiven Russlands besteht eben auch ein Konflikt zwischen der NATO und Russland.

Langfristig müssen wir auf eine neue europäische und internationale Friedens-Architektur hinarbeiten, die auf dem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit aufbaut, hinarbeiten.

Wir Ärztinnen und Ärzte sind alarmiert, denn alle Atommächte stocken aktuell ihr konventionelles wie nukleares Arsenal auf.

Die Doomsday-Uhr, die uns auf das Risiko eines atomaren Weltuntergangs hinweist, steht 90 Sekunden vor 12 ! Die Zeit für friedenspolitisches Handeln drängt also!

Miteinander reden – ja und unbedingt - gerade in Zeiten, in denen die Angst vor einem Atomkrieg zurück ist und der russische Angriffskrieg in der Ukraine unsere friedenspolitischen Grundsätze auf eine Probe stellt.

Wir setzen auf Austausch und Aufklärung – es gibt hierzu keine Alternative.

Was der US-amerikanische Kardiologe Bernard Lown und sein sowjetischer Kollege Evgenij Chazov im Kalten Krieg vor über 40 Jahren mit der Gründung der IPPNW begonnen haben, lebt bis heute in unserer Arbeit fort – über Grenzen und Mauern
hinweg einen Ausgleich suchen - durch menschliche Begegnung und gegenseitigen Respekt

Vielen Dank.

 

Dr. Jörg Schmid ist allgemein Arzt und aktiv bei IPPNW-Regio Gruppe Stuttgart.