200 Milliarden und mehr jährlich fürs Militär? Nicht mit mir!
Ich protestiere gegen die geplante massive Aufrüstung Deutschlands!
Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 6. August 2024 in München
- Es gilt das gesprochene Wort –
Liebe Freundinnen und Freunde,
mein Name ist Julian und ich bin bei der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen aktiv.
Brigitte Obermayer, die Hüterin und treibende Kraft des Münchner Friedensbündnis, hat mich gebeten, ein paar Worte über die Atomkriegsgefahr zu sagen, die vom Ukraine-Krieg ausgeht.
Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet. Wenn man auf Englisch ausdrücken möchte, dass ein Thema einfach zu verstehen ist, gibt es das Sprichwort, “it’s not rocket science” — oder auf Deutsch, “es ist keine Raketenwissenschaft”.
Aber in diesem Fall ist es eben doch Raketenwissenschaft. Und ich bin kein Raketenwissenschaftler und die meisten von Euch sind es wahrscheinlich auch nicht.
Während ich über die Atomkriegsgefahr spreche, die vom Ukraine-Krieg ausgeht, behaltet bitte diese Laien-Perspektive im Blick — ich möchte noch einmal darauf zurückkommen.
Um es kurz zu sagen: Der Ukraine-Krieg ist ein Brennpunkt für die Instabilität und zunehmende Destabilisierung des atomaren “Gleichgewicht des Schreckens”.
Damit will ich sagen,
- dass es so etwas wie ein stabiles Gleichgewicht des Schreckens nie gegeben hat und nicht geben kann,
- dass dieses ohnehin instabile System seit einigen Jahren zunehmend aktiv destabilisiert wird, und
- dass der Ukraine-Krieg diese Destabilisierung noch weiter vorantreibt.
Die Illusion des “Gleichgewichts des Schreckens” beruht auf der Annahme, dass jeder Atomwaffenangriff der einen Atommacht durch einen Atomwaffenangriff der anderen Atommacht vergolten werden kann. “Mutually assured destruction” – die gegenseitig zugesicherte Zerstörung.
Nur, dass in einer Welt der menschlichen und technischen Fehlbarkeit und des technologischen Fortschritts die Fähigkeit zum Zweitschlag nie wirklich abgesichert ist. Für Militärs und politische Entscheidungsträger*innen ist deshalb der Enthauptungsschlag, also ein entwaffnender Erstschlag, Traum und Albtraum zugleich. Trotzdem arbeiten sie daran.
Dieses Gleichgewicht, das eben keines ist, wurde lange Zeit durch internationale Verträge aufrechterhalten, die die Weiterentwicklung atomarer Angriffs- und Abwehrtechnologien zumindest eingehegt haben. Diese Verträge wurden nach und nach aufgekündigt — der ABM-Vertrag durch George W. Bush, der INF-Vertrag durch Donald Trump, der New Start-Vertrag, ausgesetzt durch Vladimir Putin. Das Gleichgewicht des Schreckens wird immer schwindelerregender.
In dieser Situation überfällt Russland die Ukraine.
Ich möchte ein paar der besorgniserregenden Entwicklungen seit Beginn des Ukraine-Kriegs nennen:
- Da ist die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus, die zumindest angekündigt und wahrscheinlich auch vollzogen wurde.
- Da war vor kurzem der ukrainische Drohnenangriff auf ein russisches Atomraketen-Frühwarnsystem — seit 2020 erachtet Russland solche Angriffe übrigens als Grund für einen atomaren Vergeltungsschlag.
- Da waren die Angriffe auf das größte Atomkraftwerk in Europa in Saporischschja, die übrigens auch dieses Jahr noch andauern, auch wenn das kaum noch berichtet wird.
- Da waren wiederholte russische Atomwaffendrohungen und die Warnungen vor dem Einsatz von “Dirty Bombs” in der Ukraine.
- Da war die voranschreitende Modernisierung der Atomwaffenarsenale von Russland und NATO sowie militärische Großmanöver.
- Und vor kurzem war da die Ankündigung der Stationierung neuer atomwaffenfähiger Mittelstreckenraketen und konventioneller Hyperschallraketen in Deutschland.
All diese Entwicklungen bringen neue Unsicherheiten ein in das unmögliche Kalkül des “Gleichgewicht des Schreckens”. Die Gefahr ist kaum in Worte zu fassen. 90 Sekunden bis Mitternacht, sagt die Doomsday Clock.
Wenn wir die Gefahr des Atomkriegs ernst nehmen, müssen wir uns fragen, was das mit uns zu tun hat. Klar, wir können die atomare Abrüstung fordern, aber wie und wem gegenüber?
Wir sind in Deutschland; wir haben keinen direkten Einfluss auf politische Entscheidungsträger*innen in Russland, der Ukraine oder den USA. Wir können höchstens hoffen, Einfluss auf unsere eigenen Entscheidungsträger*innen ausüben zu können.
Deutschland ist zwar selbst keine Atommacht, aber ich möchte behaupten, dass Deutschland trotzdem in einer einzigartig geeigneten Position ist, auf atomare Abrüstung hinzuwirken, und zwar mindestens aus folgenden Gründen:
- Deutschland hat eine Geschichte der Entspannungspolitik mit der Sowjetunion und der Diplomatie mit Russland — mit den Minsker Abkommen auch während des Ukraine-Kriegs, zumindest vor dem Angriff des 24. Februar 2022.
- Deutschland ist einer der wichtigsten Verbündeten der USA in Europa.
- In Deutschland lagern im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO ca. 15. US-Atombomben, die im System der atomaren “Abschreckung” großteils bedeutungslos sind — die man also abschaffen könnte, ohne das nuklear-strategische Kalkül Russlands oder der USA wesentlich zu destabilisieren.
Die Beseitigung der US-Atombomben aus Deutschland und die Verweigerung der Stationierung atomwaffenfähiger Mittelstreckenraketen hätte eine rein symbolische Wirkung — aber was für ein mächtiges Symbol das wäre, in alle Richtungen. Ein Symbol der Hoffnung im Angesicht des Grauens, sowohl des alltäglichen Grauens im Ukraine-Krieg als auch des abstrakten Grauens der atomaren Vernichtung der Menschheit.
Ein Symbol der Menschen in Deutschland an die Menschen in anderen Staaten, deren Herrschende sie dazu zwingen, unter dem Schreckgespenst der atomaren Vernichtung zu leben.
Denn wenn die Atombomben aus Deutschland verbannt werden sollen, dann wird das nur durch Druck der Bevölkerung und gegen den Widerstand der Politik geschehen.
Denn jahre- und jahrzehntelang gab es Umfragen, in denen überwältigende Mehrheiten der Befragten sich für den Abzug der US-Atombomben aus Deutschland aussprachen, im Jahr 2016 waren es bspw. 85 % — und unsere politischen Entscheidungsträger*innen haben nie gehandelt. Selbst als Union und FDP den Abzug der Atombomben 2009 in ihrem Koalitionsvertrag festhielten — was ist passiert? Nichts. Und selbst wenn Parteien wie die Grünen in die Regierung kommen, die mit Sprüchen werben wie, “Eine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen auf dem europäischen Kontinent lehnen wir ab” oder “Wir wollen ein Deutschland frei von Atomwaffen” — was passiert? Das Gegenteil. Mit der Politik wird es also nicht gehen — sondern nur gegen ihren Widerstand.
Das ist keine neue Erkenntnis. Helmut Michael Vogel, der ehemalige Bundesvorsitzende der DFG-VK, hat sie bereits vor 50 Jahren formuliert. Ich möchte ihn zitieren:
“Abrüstung muss durchgesetzt werden — im politischen Kampf von der Mehrheit gegen den hartnäckigen Widerstand der Minderheit des Militär-Industrie-Komplexes erzwungen werden. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie muss eine Öffentlichkeitsarbeit beschaffen sein, welche Elemente muss sie enthalten, von welchen Voraussetzungen muss sie ausgehen, um die große Zahl zu mobilisieren?”
Ich denke, das ist immer noch die entscheidende Frage. Deshalb habe ich zu Beginn festgestellt, dass ich ein Laie bin, dass viele von Euch wahrscheinlich Laien sind. Weil es die Laien und die große Zahl der Menschen sind, die wir überzeugen müssen und die die Abrüstung durchsetzen müssen — hier und in den USA, in Russland, etc. Nur dann können wir überhaupt hoffen, sicher zu sein vor der Bedrohung des Atomkriegs, die immer da ist – und besonders in Zeiten des Krieges, wie jetzt gerade in der Ukraine. Nur dann wird es nie wieder ein Verbrechen wie am 6. August 1945 in Hiroshima oder am 9. August 1945 in Nagasaki geben.
Julian Mühlfellner ist Landesgeschäftsführer der DFG-VK Bayern.