Redebeitrag für den Ostermarsch Krefeld am 5. April 2021

 

- Sperrfrist: 5. April 2021, Redebeginn: 11 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

mein Name ist Stefan Sweekhorst und ich werde hier anfangs zum Stolperstein von Anja Lundholm etwas sagen und dann zu Verletzungen der Würde in Syrien überleiten.

Erster Teil “Das Höllentor”

Anja Lundholm wurde, auf Betreiben Ihres Vaters, ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, wo sie, trotz ihrer jüdischen Mutter, als Politische eingeordnet wurde.

Sie berichtete in ihrem Buch "Das Höllentor" über das Lager und erhielt 1991 den Sonderpreis des Friedenspreises der Stadt Osnabrück für dieses Buch.

Ich interpretiere ihr Buch als Appell an die Menschlichkeit wie sie in den Paulusbriefen vorkommt:

Glaube, Liebe, Hoffnung, aber die größte unter ihnen ist die Liebe.

Ohne sie ist alles andere nichts.

Worauf sich Anja Lundholm stützt?

Immerzu stellt sie die Frage: Warum sind die Menschen so schlecht zu den Menschen?

Und gibt es unter den schlechten Menschen auch andere, die nicht Schlecht sind?

Weiter gehend stellt sich die Frage: Kann ich schlecht zu den Menschen sein, die schlecht zu den Menschen sind?

Der „Stürmer“ antwortet auf diese Frage mit der banalen Feststellung – im Buch aus dem Munde einer SS-Aufseherin – Menschen, die vom “Stürmer” als “Brut des Satans” bezeichnet werden, seien keine Menschen, also in der Diktion der Nazis sogenannte “Unmenschen”.(9)

So erklärt sich, warum diejenigen, die den Aussagen des „Stürmer“ gefolgt waren, keine Liebe für die Häftlinge entwickeln konnten, wenn sie dies glaubten.

Dieser Irrweg wird noch einmal am Ende des Buches deutlich.

Dort heißt es zum Ende hin: Zitat (1)

„Dann ist es soweit.
Wir helfen einander auf die Beine, pflücken das klettrige Gesträuch aus den Kleidern.
- Frei! Ruft Usch.
Wir sind frei! - Noch zu früh sagt Erika.
-  Aber die Hölle, freut sich Kartoffelnase mit einem Blick in die Richtung, aus der wir gekommen sind, sie liegt hinter uns.
- Gabriele folgt ihrem Blick ohne Lächeln.
Schüttelt sacht den Kopf mit den grauen Stoppeln.
Deutet mit dem Finger auf die Gegend ihres Herzens: Nein, sagt sie.
Sie liegt hier.
In uns allen.
Bis ans Ende unserer Tage.“

Zitat Ende.

Kann es Verzeihen, Versöhnung geben für die Verbrechen der NS-Herrschaft? Dies ist ein aktiver Akt und kann nicht eingefordert werden.

Es muss gewußt werden, was verziehen werden soll und dann, ob der Akt der Liebesfähigkeit so groß sein kann zu verzeihen.

Was soll verziehen werden? Zitat (2):

“Aber die hier, besser, das hier, der Knochenhaufen, sind das wirklich Menschen gewesen? Diese gelben Hüllen, haben sie geatmet, gelacht, geweint, Freude oder Angst empfunden? In der Zwischenzeit habe ich doch schon mehr Tote gesehen und mir kaum mehr Gedanken über sie gemacht.
Ohne dass man es merkt, stumpfen die Sinne ab, nehmen nur noch auf, was zum Überleben notwendig ist.
Das hier vor mir bringt mir zum Bewußtsein, dass es einen Unterschied gibt.
Die Toten, die ich bisher sah, waren einzelne gewesen, vor unseren Augen gestorben an Arbeitsüberforderung, an einer Krankheit, von deren vorhandensein wir wußten, oder am Hunger.
Tages-, seltener Nachttote.
Zur Ruhe gekommene Kameradinnen.
Dies hier aber sind keine Toten, es sind Leichen.
Etwas Furchtbares geht von ihnen aus: So werdet ihr alle enden! Mein Hals zieht sich zusammen, es würgt mich.
Lange stehe ich bewegungslos in der Tür.
(…).
Kein schöner Anblick das, sagt eine vorbeikommende Französin, die als Pflegerin im Revier arbeitet.
Übermorgen gehen die durch den Kamin, damit Platz für die nächsten wird.
Das sagt sie in meinem Rücken.
Ganz gelassen.
Mühsam wende ich mich von dem Bild vor mir ab, drehe mich zu ihr um.

Ein junges, ein zartes Gesicht.
Aber in den Augen lodert der Haß.
Ich mache, dass ich in meine Baracke zurückkomme.“

Zitat Ende.

Wie kann einem vom Hass verzehrten Menschen vergeben werden?

Zitat (3):

„Ich könnte heulen, wenn ich noch Tränen hätte, ich sehne mich so nach menschlicher Nähe.
Nicht der körperlichen, davon gibt’s hier zuviel.
Nach der anderen Nähe, der, die von innen kommt."

Zitat ende

Er, der von Hass verzehrte Mensch, muss zuerst zu der Einsicht kommen, dass das gegenüber auch Menschen sind.

Im Buch wirft ein Siemens-Vorarbeiter in Bezug auf einen “Vorfall” ein:

Zitat (4):

(...) - Lassen Sie es gut sein, Frau Klatt,
(...)
Es sind auch Menschen“

Zitat ende

Diese wohltuende Einsicht schafft erst Vertrauen, so dass es möglich wird jeglichen Hass auf den anderen/die andere zu überwinden.

Zweiter Teil

Festgeschrieben ist die Anerkennung des/der anderen als Menschen in Artikel 1 der Alllgemeinen Erklärung der Menschenrechte:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.

Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

In diesem Artikel steht die Grundüberzeugung der Menschenrechte: Alle Menschen haben die gleichen Rechte und sind gleich wertvoll.

Eine Rassenideologie wie in der NS-Zeit, die "höhere" und "niedere" Rassen definierte, steht diesem Artikel also grundlegend entgegen.(5)

Wo ist dieser Grundsatz in der heutigen Zeit besonders stark verletzt? Wo ist der Wert eines Menschen heutzutage besonders stark in Mitleidenschaft geraten?

Mir persönlich drängt sich besonders stark eine bekannte Verletzung von der Würde eines Menschen in den – von Folter und z.B.

auch von Fällen von „Verhungern lassen“ - bestimmten Gefängnissen in Syrien auf.

Zitat (6):

"Die Ermittlungen von Amnesty International belegen, dass der syrische Geheimdienst seit Jahrzehnten in einem Ausmaß systematische Folter eingesetzt hat, wonach der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllt ist.
Aus den Ermittlungen von Amnesty International zu den unmenschlichen Zuständen in syrischen Militärgefängnissen, einschließlich im Gefängnis Saydnaya bei Damaskus, ergibt sich ein Bild des Grauens von systematischer Folter und Erniedrigung, sexualisierter Gewalt, sowie Nahrungs- und Wasserentzug.
Auf Anordnung von höchster Stelle wurden Tausende Häftlinge systematisch hingerichtet oder durch Folter und Verhungernlassen getötet."

Zitat Ende

Es wird von Hunderttausenden von „Verschwundenen“ geredet.

Zitat (7):

“Etwa Hunderttausend Menschen sind bis heute nicht wieder aufgetaucht.
Die Freilassung der Gefangenen und die Aufklärung des Verbleibs aller Verschwundenen ist daher die oberste Priorität der Truth and Justice Charter.
Außerdem fordern die beteiligten Organisationen ein sofortiges Ende von Folter und sexualisierter Gewalt in Hafteinrichtungen, faire unabhängige Gerichte und Entschädigungen für Überlebende und Familien von Opfern.
"Die Wahrheit (…) muss anerkannt werden", heißt es in der Charta in Bezug auf einen möglichen Friedensprozess – und dass an ihm die Opfer und ihre Familien beteiligt sein müssen.“

Zitat Ende – Zitat aus genannter Charta (8):

„Seit 2011 hat das syrische Regime seine rücksichtslosen Methoden erweitert, um abweichende Stimmen zu kontrollieren und politischem Aktivismus entgegenzuwirken.
Diese Methoden, die von Verschwindenlassen und willkürlicher Inhaftierung bis hin zu weit verbreitetem Einsatz von Folter und unmenschlicher Behandlung in all ihren Formen reichen, sind weit verbreitet, ohne dass die Täter_innen zur Rechenschaft gezogen werden.
Das syrische Regime hat weiterhin ungestraft gearbeitet und die Rechte der Opfer und ihrer Familien absichtlich verweigert und missachtet.
Darüber hinaus haben die Mehrheit der bewaffneten syrischen Fraktionen, radikalen Organisationen und De-facto-Behörden, insbesondere der sogenannte islamische Staat Irak und die Levante („Daesh“), diese Praktiken nachgeahmt und damit weitverbreitete willkürliche Inhaftierungen, Verschwindenlassen und Folter begangen und töten während ihrer Kontrolle über syrisches Territorium.
Der Weg zu Frieden, Genesung und Wiederaufbau in Syrien und für das syrische Volk beginnt mit der Feststellung der Wahrheit und der Gewährleistung von Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht für diese schwerwiegenden Verstöße.
Keine Verhandlungen oder kein Friedensprozess können erfolgreich sein, solange den Familien der Inhaftierten und den Vermissten die Kenntnis des Schicksals ihrer Angehörigen verweigert wird, wenn keine wirklichen vertrauensbildenden Maßnahmen gemäß UNR 2254 vorliegen und das Problem des Verschwinden lassens nicht als oberste Priorität bei der Inhaftierung und bei der Durchsetzung der Resolution angegangen wird.“

Zitat Ende

– Diese ausformulierten Forderungen der Opferverbände mahnen uns an unsere Erfahrungen mit unserer eigenen Geschichte, um dort zu echter Aussöhnung nach einem zu beendenden Krieg zu kommen.

 

Anmerkungen/Quellenverzeichnis: