Ungehaltener Redebeitrag für den abgesagten Ostermarsch Traunstein am 3. April 2021

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

mein Name ist Thomas Nowotny, ich bin Kinderarzt aus Stephanskirchen bei Rosenheim. Ich spreche heute als Mitglied des AK Flucht und Asyl der IPPNW (der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung) – und als Sprecher der Initiative Erinnerungskultur – Stolpersteine für Rosenheim. Vielen Dank für die Einladung.

Eigentlich hätten wir uns heute vor dem Denkmal für die Verfolgten des Nationalsozialismus im Traunsteiner Stadtpark versammelt. Stattdessen stehe ich vor dem KZ-Außenlager Stephanskirchen-Haidholzen, an das dieser Gedenkstein erinnert.

In der Stadt Rosenheim gibt es bisher noch keinerlei öffentliches Gedenken an die Opfer des Naziterrors. Das wird sich am 10. Juni ändern. Sieben Stolpersteine sollen verlegt werden, die ersten in der Stadt. Dazu lade ich alle schon heute herzlich ein.

Ich bin ein deutscher Jude, aber nicht religiös. Heute trage ich eine Kippa – aus Respekt vor den Opfern und aus Solidarität mit denen, die gern ein Zeichen ihres jüdischen Glaubens tragen würden, aber Angst haben. Sorgen wir dafür, dass sich das ändert!

Jude – das ist kein Schimpfwort. Wer es dazu macht, auf dem Schulhof oder anderswo, muss sofort in seine Schranken verwiesen werden. Worte für einige andere Minderheiten sind dagegen schon Schimpfworte: Das N-Wort für people of colour, das Z-Wort für Sinti und Roma. Ich weiß schon, in Bayern sagen das viele, ohne sich was zu denken, ob beim Schokokuss oder beim Schnitzel. Bitte fangt an zu denken! Ihr beleidigt damit Menschen und grenzt sie aus, ob Ihr wollt oder nicht.

Meinen Leserbrief zu einem Urteil über antisemitische Chats von Münchner PolizistInnen hat die SZ leider nicht abgedruckt. Also lese ich ihn hier vor:

Nein, sie haben es wahrscheinlich nicht böse gemeint, die Amtsrichter aus Dillingen in Schwaben. Ein Video mit einem kleinen jüdischen Jungen beim Klavierspiel, akustisch unterlegt von einer klingenden Registrierkasse, sei keine Volksverhetzung. Ihr Argument: Es sei doch nichts dabei, Juden als geizig und geldgierig zu beschreiben. Das gebe es schließlich auch bei anderen Bevölkerungsgruppen.

Stimmt: das gab es auch bei Deutschen, die sich als arisch bezeichneten. Im Kleinen haben sie hinweggeschaut über die Tränen eines kleinen Mädchens, deren Puppenwagen für eine Mark versteigert wurde - so geschah es meiner Mutter 1934. Im Großen haben sie Millionen von Juden in Deutschland und Europa alles geraubt, was sie hatten - allen voran SS, Finanzbehörden und Arisierungsstellen. Nur ein Bruchteil wurde jemals vom deutschen Staat zurückgegeben.

Es besteht der begründete Verdacht, dass die Richter nicht aus Gemeinheit, sondern aus der Mitte der Gesellschaft zu ihrer Fehleinschätzung kamen. Tragende Teile der Gesellschaft scheinen das Klischee vom habgierigen Juden weiter zu brauchen für ihre Mitte, ihre innere Balance: Um abzulenken von der Raffgier der arischen Täter, die für ihre Verbrechen nie Verantwortung übernahmen und deren Schuld unbewusst weiter gefühlt – und auf die Opfer projiziert wird. Armselig.

Die Richter sollten mindestens drei Veranstaltungen der Reihe „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ besuchen. Nicht zur Strafe - sondern damit sie anfangen nachzudenken. Und begreifen, dass die Menschen heute nicht mehr Opfer – und nicht mehr verkappte Täter sein müssen.

Soweit der Leserbrief. Die Münchner Familie meiner Mutter musste Deutschland verlassen, um der rassistischen und auch der politischen Verfolgung zu entgehen. Viele Verwandte wurden von den Nazis ermordet. Meine Mutter und ihre Schwester gelangten als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge über Dänemark nach England in Sicherheit. Hätten ihnen nicht viele Menschen geholfen, gäbe es mich heute nicht.

Und so liegt es gewissermaßen in der Familie, dass ich mich für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einsetze. Als vor fast 10 Jahren immer mehr von ihnen nach Bayern kamen, viele aus Afghanistan, wurden ihre Rechte als besonders schutzbedürftige Menschen grob verletzt. Sie mussten in der Bayernkaserne und ähnlichen Lagern mit vielen Erwachsenen zusammenleben, unter erbärmlichen Bedingungen.

Mit Münchner KollegInnen habe ich damals die „Bayerische Ärzteinitiative für Flüchtlingsrechte“ gegründet. Wir haben einiges erreicht und durchgesetzt, dass das Jugendamt für alle unter 18 zuständig ist. Doch immer noch werden viele für volljährig erklärt, auch durch sehr zweifelhafte ärztliche Gutachten. Und die Lebensbedingungen in den Ankerzentren heute sind noch viel furchtbarer als damals in der Bayernkaserne.

Immerhin: erst letzten Monat haben wir es mit einem Gegengutachten geschafft, dass ein afghanischer Junge aus dem Ankerzentrum herausgenommen und in die Jugendhilfe gebracht wurde.

Viele haben es wie er in die Jugendhilfe geschafft, konnten in die Schule gehen, haben viel gelernt und alles gegeben trotz schwieriger Umstände – nur um dann nach einem unfairen Asylverfahren von der Abschiebung bedroht zu sein.

Mit vielen Kolleginnen und Kollegen habe ich vor vier Jahren eine Petition an die Bundeskanzlerin geschrieben, die inzwischen von fast 118.000 Menschen unterstützt wird. Wir alle fordern: Die Abschiebungen in ein Kriegs- und Krisengebiet wie Afghanistan sind unrechtmäßig! Sie müssen aufhören – sofort!

Ganz sicher kennen wir die Unterschiede zwischen den KZs der Nazis und den Abschiebungen von heute. Aber wenn unschuldige Menschen vom Staat aus unserer Mitte gerissen und in eine unsichere und lebensbedrohliche Umgebung verschleppt werden – dafür gibt es nur ein angemessenes Wort: Deportation. Das dürfen wir nicht zulassen, nie wieder!

Gedenken wir nun gemeinsam aller Opfer des faschistischen Terrors damals und heute, all derer, die auf der Flucht ihr Leben lassen mussten oder weiter um ihr Leben bangen müssen.

Vielen Dank.

 

Dr. Thomas Nowotny ist Kinderarzt aus Stephanskirchen bei Rosenheim und Mitglied der Ärzteorganisation IPPNW.