Redebeitrag für den Ostermarsch Münster am 3. April 2021

 

- Sperrfrist: 3. April 2021, Redebeginn: 11 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

das sog. Traindenkmal am Ludgeriplatz in Münster bezieht sich nicht nur auf den Völker-mord an den Nama und Herero in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika Anfang des letzten Jahrhunderts, sondern auf der westlichen kleinen Gedenktafel wird ein deutscher Soldat geehrt, der bei der brutalen und blutigen Niederschlagung des Boxer-Aufstand in China 1901 "für Kaiser und Reich" zu Tode kam - "den Heldentod starb".

"Es starb den Heldentod / für Kaiser und Reich / in China 1901 / Trainsoldat / Karl Adami II. Komp."

Ich werde mich deshalb heute nicht – wie sonst seit jetzt fast 4 Jahrzehnten – zum Genozid der kaiserlichen Armee an den Menschen in Namibia äußern, sondern zur Geschichte der Beziehungen der imperialistischen Mächte zu China, als Kaiserreich, als Republik und Volksrepublik; insbesonders wegen der heute immer mehr aufgeputschten Stimmung auch hier gegen chinesische / asiatische Menschen oder solche, die dafür gehalten werden.

Es gibt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, seit den beiden Opiumkriegen Großbritanniens und Frankreichs (1839 - 42 und 1856 - 60), die den Beginn der Kolonisierung des chinesischen Reiches markieren, eine lange Reihe der rassistischen Schmähung chinesischer Menschen, die bis heute andauert.

Die "gelbe Gefahr" war von Beginn an im 19. Jahrhundert das übergreifende Narrativ der imperialistischen Mächte von den USA bis zu den europäischen Mächten, die sich Stücke vom chinesischen Kuchen abschneiden wollten. Billige chinesische (Zwangs)Arbeiter waren das Hauptarbeitskräfte - Potential für den Bau der Eisenbahnlinien in den USA. Als der dann für's erste beendet war, stießen chinesische Ankömmlinge in den 1880er Jahren auf immer heftigere Feindseligkeit, neue Gesetze wurden erlassen, um sie von der Einwanderung in die USA auszuschließen, aber viele kamen illegal an. Die Feindseligkeit zwang sie in "Chinatowns" oder ethnische Enklaven in den größeren Städten.

Die "Strafexpeditionen", welche das deutsche Expeditionskorps ab September 1901 im Zuge der Niederschlagung des sog. Boxeraufstands im chinesischen Hinterland durchführte, waren in besonderer Weise von einem rassistischen Rachegedanken motiviert. Wilhelm II. hatte die 20.000 Freiwilligen in Bremerhaven mit den Worten verabschiedet: "Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen."

Als 1949 mit dem Sieg der Kommunistischen Volksbefreiungsarmee (People's Liberation Army - PLA) China zur Volksrepublik wurde, wurden die chinesischen Menschen im weiteren Verlauf der Geschichte mit einem Narrativ aus der Tierwelt rassistisch beleidigt: die blauen oder roten Ameisen. Bücher mit diesen Bezeichnungen im Titel erscheinen massenhaft nach 1949.

Heute ist es ganz normal, dass in Bezug auf China von Dieben die Rede ist, die unsere Technik stehlen, von Soldaten, die uns im südchinesischen Meer (!!) bedrohen und unsere gottgegebenen Rechte dort nehmen wollen, von chinesischen Arbeiter*innen und Unternehmer*innen, die uns unsere Weltmarktanteile und  Einflußgebiete stehlen wollen... was erdreisten sich diese Ameisenmassen?

Als schwerwiegendste Fälle antiasiatischer Gewalt nach 1945, die mit antichinesischem Rassimus in enger Verbindung stehen, sind die Pogrome in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 in das kollektive Gedächtnis asiatischer Deutscher eingegangen. Wohngebäude, in denen eine größere Anzahl von Vietnames*innen lebte, wurden unter den Augen applaudierender Zuschauer*innen von gewalttätigen Rechtsradikalen angegriffen. Die Polizei wartete in beiden Fällen tagelang, bis sie geringfügig eingriff.

Im Kontext der Corona-Pandemie, die weltweit mit steigender rassistischer Diskriminierung und Übergriffen auf chinesische Menschen und die chinesische Kultur und Politik einhergeht, wird nun vermehrt über antichinesischen / anti-asiatischen Rassismus in Deutschland gesprochen. Es wird fast unterschiedslos in allen Medien das Bild des unzivilisierten Chinesen gezeichnet, der alles in und aus der Tierwelt frißt und gebraucht und deshalb - vereinfacht dargestellt - für den Corona - Virensprung von den Fledermäusen auf die Menschen verantwortlich ist.

Dass in China mit seinen über 1,4 Milliarden Menschen die Pandemie praktisch eingedämmt ist, ist wiederum nur erklärlich damit, dass chinesische Menschen sich allen Zwangsmassnahmen ihres Staates furchtsam und ohne eigenen Willen unterwerfen, auf keinen Fall darf es irgendeine bewußte, von den Menschen getragene rationale Begründung für das erfolgreiche Vorgehen Chinas gegen das Corona-Virus geben.

Gegen diese Fortschreibung der rassistischen Politik und Geisteshaltung aus der Kolonialzeit und später dann der Zeit des sog. „kalten Krieges“ nach dem 2. WK gegenüber asiatischen Menschen müssen wir uns als Antikriegs- und Friedensbewegung heute explizit stellen, gegen alle Versuche, den imperialistischen Block der Kolonialzeit gegen China im Gewand der NATO wiederherzustellen und die NATO im südchinesischen Meer gegen die Volksrepublik in Stellung zu bringen.

Laßt uns hier in DE eine konkrete Aufgabe ins Auge fassen, die mir in den kommenden Monaten erreichbar scheint: verhindern wir politisch auf alle mögliche Weise die geplante Ausfahrt eines Zerstörers der Bundesmarine in den Indo-Pazifik und in das südchinesische Meer, der zur Unterstützung der NATO und sonstigen westlichen Präsenz in der Region gegen die Volksrepublik dienen soll.

Aufstand der Boxer gegen die Präsenz ausländischer Mächte in China 1901

"Iltis" hieß das deutsche Kanonenboot, das unter seinem Kapitän Lans am 17. Juni 1900 das chinesische Fort Taku beschoss. Zum ersten Mal tauchte die Bewegung, der die Europäer den Namen "Boxer" gaben, 1898 im Hinterland des deutschen "Pachtgebietes" Tsingtau in der Provinz Shandong auf. Man gab den Aufständischen den einprägsamen Namen in Anlehnung an die von ihnen praktizierten traditionellen Kampfsportarten. Tatsächlich aber wussten die imperialistischen Staaten, die sich überall in China Einflusssphären gesichert hatten, so gut wie nichts über die Boxer. "Sie besaßen weder eine einheitliche Führung, noch eine zusammenhängende Ideologie", sagt Klaus Mühlhahn, Sinologe am Institut für Ostasienwissen-schaften der FU Berlin.

Hinter dem Aufstand stand die Verzweiflung der von Naturkatastrophen heimgesuchten Landbevölkerung. 1898 überschwemmte der Gelbe Fluss die Äcker. Ein Jahr später vernichte-te eine Dürre die Ernte. Zahlreiche Gedichte, Pamphlete und Wandzeitungen, die von taoistischen Priestern und buddhistischen Mönchen verfasst wurden, machen die Ideenwelt der Boxer anschaulich. Klaus Mühlhahn hat sie ausgewertet. Es regnete nicht mehr, weil die Götter über die Anwesenheit der "fremden Teufel", der Christen, Missionare und Ausländer, erbost seien. Nur wenn man sie töte, würden die Götter wieder milde gestimmt sein.

Im Frühjahr 1900 hatte sich die Boxerbewegung bis in die Mandschurei ausgedehnt. War sie zunächst noch ein ländliches Phänomen, griff sie seit Sommer auch auf die nordchinesischen Städte über. Die kaiserlich-chinesische Regierung, selbst wenn sie gewollt hätte, war außerstande, den Aufstand einzudämmen. Am 13. Juni 1900 drangen Boxerscharen in Peking ein, töteten chinesische Christen und plünderten.

Angriff auf das Diplomatenviertel

Am 21. Juni - eine Reaktion auf die Beschießung der Forts von Taku durch die imp. Mächte - erklärte China allen Kolonial-Mächten offiziell den Krieg. Die Boxer, unterstützt von regulären kaiserlichen Truppen, belagerten das Diplomatenviertel. Der deutsche Gesandte (Botschafter) Clemens August Freiherr von Ketteler (seit 1900), der aus Münster kam, u.a. in Coesfeld aufs Gymnasium ging und in Münster beerdigt ist, fiel am 21.6. den Schüssen eines chinesischen Soldaten zum Opfer. Schon am 13. Juni hatte von Ketteler selbst einen „Boxer“ mitten aus einem Haufen auf der Gesandtschaftsstraße angegriffen. Dieser trug die geheiligte Haube und war mit einem Schwert bewaffnet.

Fast zwei Monate wehrten sich die in der Hauptstadt eingeschlossenen Ausländer gegen die chinesische Übermacht. Erst am 14. August, nach 55 Tagen, in denen 62 Ausländer und eine nicht bekannte Zahl chinesischer Christen ihr Leben verloren hatten, befreite sie ein über 20.000 Mann starkes multinationales Heer aus britischen, französischen, amerikanischen, deutschen, russischen und japanischen Marineinfanteristen.

Zu dieser Zeit befand sich das am 27. Juli von Bremerhaven gestartete deutsche Expeditionskorps unter dem Kommando des Generals Alfred von Waldersee noch immer auf hoher See. Es traf erst Ende September in China ein. Zwar standen sich die imperialistischen Mächte in der brutalen Art der Kriegführung gegen die Chinesen in nichts nach. Das Völkerrecht, immerhin in Europa in Ansätzen in der ersten Haager Konvention formuliert, blieb hier ein Fremdwort. Doch die "Strafexpeditionen", welche das deutsche Expeditionskorps ab September im Hinterland durchführte, waren in besonderer Weise von einem rassistischen Rachegedanken motiviert. Wilhelm II. hatte die 20.000 Freiwilligen in Bremerhaven mit den Worten verabschiedet: "Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen."

Die "Hunnen-Rede" des Kaisers machte in aller Offenheit die Brutalität eines sozialdarwinistisch aufgeladenen Gesinnungsmilitarismus deutlich. Der Sinologe Mühlhahn hat in Wilhelms Rede zahlreiche religiöse Ausdrücke entdeckt: Für ihn ein Beleg dafür, den Boxerkrieg vor allem als einen Glaubenskrieg zu deuten. Die Chinesen, die es "gewagt" hatten, die christliche Kultur anzugreifen und das Leben von Europäern zu bedrohen, hätten nicht mehr auf die Humanität des Abendlandes bauen können und das Recht auf faire Behandlung verwirkt.

Unverhohlen appellierte der Monarch an seine Soldaten, jegliche moralischen und humanitären Bedenken hinter sich zu lassen. "Die Aufgabe, zu der ich Euch hinaussende, ist eine große. Ihr sollt schweres Unrecht sühnen. Aber Ihr sollt auch rächen, nicht nur den Tod des Gesandten, sondern auch vieler Deutscher und Europäer. Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht."

Von diesem Freibrief machten die deutschen Truppen regen Gebrauch. Sie hielten sich nicht lange damit auf, Boxer und Nicht-Boxer auseinander zu halten. Galt ein Dorf als "Boxer-Dorf", wurden kurzerhand alle Bewohner ermordet und die Häuser niedergebrannt. Wie viele Chinesen diesem Völkermord zum Opfer fielen, ist bis heute nicht bekannt. Die Ankündigung des deutschen Kaisers "Gefangene werden nicht gemacht" wurde Wirklichkeit. "Es gab während der noch fast einjährigen Kämpfe nirgendwo Gefangenenlager", berichtet der Sinologe Mühlhahn.

Eine Kriegführung, die sich in erster Linie gegen die Zivilbevölkerung richtete, war bis dahin in Europa unbekannt. Sie wurde in den Kolonien erprobt und gelangte im Ersten und Zweiten Weltkrieg nach Europa zurück. Als im Herbst 1901 der letzte Widerstand auf dem Land gebrochen war, zwangen die Sieger dem Land einen Friedensvertrag auf. Das sogenannte "Boxerprotokoll" enthielt drakonische Bestimmungen. Zehn hohe chinesische Beamte wurden hingerichtet, viele weitere zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Vor allem ließen sich die kolonialen Mächte ihr "Engagement" in barer Münze zurückzahlen: über 300 Millionen Dollar betrug die "Entschädigung".

Fast noch wichtiger war es dem Deutschen Reich, neben der materiellen auch eine symbolische Wiedergutmachung durchzusetzen. Der chinesische Prinz Chun musste im Rahmen einer "Sühne-Reise" im September 1901 vor Wilhelm II. in Berlin den Kotau vollziehen und ihn offiziell um Verzeihung bitten. Unter den Mandschu, der aus der Mandschurei stammen-den seit 1644 herrschenden Dynastie, erfuhr China seine tiefste Demütigung.

(Einschub: deshalb sollten für uns die Umbenennung der Ketteler Str. + die Umwidmung des kolonialistischen Ketteler Denkmals im Schloßgarten in Münster in Zukunft weitere Angriffs-punkte antirassistischer und antikolonialistischer Politik sein - Und die Universität muss sich endlich von ihrem Namensgeber, dem vielfachen Völkermörder Wilhelm II trennen und sich einen Namen geben, der mit unserem demokratischen (Aus)Bildungsideal kompatibel ist)

Der Nationalismus wurde mächtig

Indes gelang es schon nach 1900 keiner der imperialistischen Mächte mehr, China Interessenssphären, Wirtschaftskonzessionen oder Pachtgebiete gewaltsam abzuringen. Der Nationalismus war auch im "Reich der Mitte" zu einer Macht geworden. Der Boxeraufstand hatte also indirekt dazu beigetragen, das moderne China herauszubilden. Als 1949 mit dem Sieg der Kommunistischen Volksbefreiungsarmee (People's Liberation Army - PLA) China zur Volksrepublik wurde, stand die Erinnerung an den Boxeraufstand erstmals unter positivem Vorzeichen. Besonders während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 galten die Boxer als mutige Helden und antiimperialistische Patrioten.

 

Rede Thomas Siepelmeyer ist aktiv bei AKAFRIK – Arbeitskreis Afrika – Münster.