Redebeitrag für den Ostermarsch Weimar am 8. April 2023

 

- Sperrfrist: 8. April 2023, Redebeginn: 11 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe friedliebende Menschen,
2001 sagte der Dalai Lama angesichts der Terroranschläge auf das World Trade Center: Dies ist eine Chance für das Gute auf der Welt! Und er erklärte das so:

„Es gibt zwei mögliche Reaktionen auf das, was heute passiert ist. Die erste kommt aus der Liebe, die zweite aus der Angst. Wenn wir aus Angst handeln, können wir in Panik geraten und Dinge tun – als Einzelpersonen und als Nationen – die nur weiteren Schaden anrichten. Wenn wir aus Liebe handeln, werden wir Zuflucht und Kraft finden, indem wir sie anderen weitergeben.“

Das kann man sicher naiv nennen. Aber wir wissen, wie die Geschichte weiter ging: Präsident Bush rief stattdessen den „Krieg gegen den Terror“ aus, der nach vorsichtigen Schätzungen der Ärzte gegen den Atomkrieg in 20 Jahren mehr als 3 Millionen Todesopfer forderte, darunter auch tausende US-Bürger, und der den IS und andere Terrorgruppen nicht eliminiert, sondern sogar erheblich gestärkt hat. Ist es angesichts dieses unermesslichen Leides nicht legitim, ja sogar überlebensnotwendig, naiv zu sein?

Ich erinnere so ausführlich an diese Ereignisse, weil wir gerade wieder an einem solchen Scheideweg stehen. Die Wahrscheinlichkeit ist leider groß, dass wir auf den russischen Überfall wieder ausschließlich mit Gewalt reagieren und eine neue Spirale von Rüstung und Gegengewalt in Gang setzen, ohne nach den Ursachen dieses schrecklichen Krieges zu fragen und ohne nach Möglichkeiten zu suchen, den aktuellen und zukünftige Konflikte gewaltfrei zu lösen. Deshalb stehe ich hier, und ich möchte zu drei Themen etwas sagen: Erstens will ich aufmerksam machen auf die extreme Militarisierung, die im Schatten des Ukraine-Krieges gerade „den Turbo zündet“ und die unsereSprache, unsere Medien, unsere Politik vergiftet und unvorstellbare Ressourcen verschlingt, die wir dringend an anderen Stellen brauchen. Ich möchte zweitens auf einem anderen, nicht-militärischen Verständnis von Sicherheit insistieren und darauf, dass wir nicht hinter die Erkenntnisse und Erfolge der zivilen Konfliktprävention zurück fallen.

Drittens will ich darauf aufmerksam machen, dass dieser Krieg inzwischen so gefährlich für uns alle geworden ist, dass wir alles, wirklich alles für sofortige Friedensverhandlungen unternehmen müssen, um einen womöglich atomar geführten Dritten Weltkrieg zu verhindern.

Und zum Schluss möchte ich noch kurz auf die grassierende Verdammung „der Russen“ und alles Russischen eingehen.

Zum ersten Punkt: Vielleicht erinnert ihr euch noch an die denkwürdige Sitzung des Deutschen Bundestages vom 27. Februar letzten Jahres. Nur drei Tage nach dem russischen Überfall zauberte Bundeskanzler Scholz seine 100 Milliarden „Sondervermögen für die Bundeswehr“ aus dem Hut. Mal abgesehen von dem bewusst irreführenden Begriff „Sondervermögen“ – de facto sind das Kredite, die trotz der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse aufgenommen werden und ab 2031 zurückgezahlt werden müssen – ist inzwischen klar, dass der Schock des Ukraine-Krieges genutzt wurde und wird, um lang gehegte Aufrüstungspläne umzusetzen. Um die Bundeswehr zur stärksten Armee in Europa zu machen, wie Scholz, Lindner und Pistorius öffentlich mehrfach verkündet haben. Um Einsätze in der ganzen Welt zu ermöglichen, um unseren Wohlstand zu sichern und unseren Ressourcenhunger gegen potenzielle Konkurrenten durchzusetzen.

Dazu werden für irre teures Geld mit Frankreich ein neuer „europäischer Kampfpanzer“ und eine neues Kampfflugzeug geplant. Geschätzte Entwicklungskosten derzeit: weit über 100 Milliarden Euro.  Wohlgemerkt:Entwicklungskosten – da ist noch kein einziger Panzer und kein einziges Flugzeug gekauft. Weitere Projekte sind ein neuer schwerer Transporthubschrauber (6 bis 8 Milliarden), neue Korvetten, Fregatten und U-
Boote (9 Milliarden), Nachfolgemodelle des Truppenpanzers Fuchs sowie der Schützenpanzer Puma und Marder (16 Milliarden) und eine Extrabereich Digitalisierung (21 Milliarden). Ein wahres El Dorado für die Rüstungsindustrie, anders kann man es nicht sagen!

Und, wen wundert es da: Der unglaubliche Geldhaufen des Sondervermögens reicht natürlich noch lange nicht. Schon hat Pistorius „Nachschlag“ in den aktuellen Haushaltsverhandlungen verlangt und angekündigt, dass es bei den dauerhaften Rüstungsausgaben von 2% des BIP, was immerhin schon fast eine Verdoppelung der bisherigen Rüstungsausgaben bedeutet, nicht bleiben wird. Es muss uns allen auch klar sein, dass das sogenannte „Sondervermögen“ nur bis 2027 reicht und dass dann mit Sicherheit neues Geld gefordert wird, um die gerade begonnenen Rüstungsprojekte weiter zu führen.

Und nur zur Erinnerung: Die Kindergrundsicherung in diesem reichen Land droht gegenwärtig an fehlenden Finanzen zu scheitern. Es fehlt an Geld zur Finanzierung unseres Gesundheitssystems und zur Sanierung der Bahn. Ganz abgesehen davon, dass wir jeden Euro für einen möglichst schnellen Übergang in eine klimaneutrale Zukunft brauchen.

Ich sage ganz klar: Ich lehne diese Aufrüstung und diese Militarisierung unserer Gesellschaft voll und ganz ab! Ich fühle mich durch eine hochgerüstete Bundeswehr in keiner Weise sicherer, ganz im Gegenteil! Denn hier werden die Kriege der Zukunft vorbereitet, schon lange ist China im Visier.Wir brauchen deshalb, und das ist mein zweiter Punkt, dringend ein anderes, nicht-militärisches Verständnis von Sicherheit. Wir brauchen entschiedene Schritte und vorbeugende Maßnahmen zu einer zivilen Konfliktprävention. Und wir brauchen jetzt wo das Kind in der Ukraine bereits im Brunnen liegt, alle nur möglichen Anstrengungen und diplomatischen Initiativen, um einen umgehenden Waffenstillstand zu erreichen.

Hier können wir von der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges einiges lernen.

Über Jahre und Jahrzehnte wurden die – wie ich finde, durchaus nachvollziehbaren – Sicherheitsinteressen Russlands missachtet, die NATO rückte immer weiter nach Osten vor, bis Putin eben die Nerven verloren hat.

Ähnliches deutet sich derzeit mit China an, das schrittweise zum Bösewicht aufgebaut und von westlichen Militärbasen und Manövern umkreist wird. Zur Erinnerung: Im letzten Jahr war auch die Bundeswehr mit der Fregatte Bayern im Südchinesischen Meer unterwegs. Man stelle sich einmal die Aufregung vor, wenn plötzliche ein chinesisches Kriegsschiff in der Nordsee auftauchte!

Das muss aufhören! Lernen wir daraus! Sicher gibt es vieles in vielen Ländern, das mit unseren vielbeschworenen westlichen Werten nicht konform geht. Doch spätestens seit dem Desaster in Afghanistan wie auch schon vorher im Irak, in Syrien, in Libyen und anderswo sollten wir doch gelernt haben, dass wir unseren Willen eben nicht mit Waffen erzwingen können, trotz haushoher militärischer Überlegenheit.

Kultivieren und entwickeln wir stattdessen vielfältige Formen ziviler Konfliktbearbeitung und vor allem Konfliktprävention. Versuchen wir, die Motive und Interessen der anderen Seite zu erkennen und Ernst zu nehmen, in
bester Tradition von Egon Bahr und Willy Brandt.Denn, und das ist mein dritter Punkt: Es gibt in diesem unserem 21. Jahrhundert keine legitimen Kriege mehr – einfach weil sie alle die Gefahr eines atomaren Infernos beinhalten. Die Weltuntergangsuhr, die seit 1946 von amerikanischen Nobelpreisträgern gestellt wird, um die Gefahr der atomaren Auslöschung der Menschheit zu illustrieren, steht seit dem 23. Januar 2023 auf
90 Sekunden vor 12 - so dicht wie noch nie in der Geschichte.

Ich finde es ist absolut ernüchternd, unverständlich und nicht akzeptierbar, wie die Gefahr eines Atomkrieges bagatellisiert wird, nach dem Motto: So weit wird Putin schon nicht gehen. Und wenn doch? Und wenn aus Versehen oder aufgrund von Fehlalarm oder wegen eines Softwarefehlers die erste Rakete abgefeuert wird? Europa und nicht zuletzt Deutschland wird dann sicher der Hauptschauplatz sein, schließlich lagern nach wie vor in Büchel amerikanische Atomwaffen, und von Ramstein aus werden viele NATO-Einsätze koordiniert.

Es ist mir vollkommen unverständlich und ich finde schon die Wortwahl unendlich zynisch, wenn unsere Regierenden vom „atomaren Schutzschild“ reden und atomwaffenfähige neue Kampfflugzeuge für die Bundeswehr
bestellen. Nein, nein und nochmals nein! Deutschland muss stattdessen endlich den Atomwaffenvertrag unterzeichnen, der die Lagerung solcher Massenvernichtungswaffen verbietet.

Und noch drei letzte Sätze zu „den Russen“. Diese gelten ja in der offiziellen Politik und in den Mainstream-Medien derzeit als Inbegriff des Bösen, das man am besten mit Stumpf und Stiel ausmerzen und mit Rüstung, Sanktionen und Boykotten von der Landkarte tilgen möchte. Mal abgesehen davon, dass es allein schon wegen der schieren Größe dieses Landes kaum möglich sein wird, Russland „zu besiegen“, wie die Ukraine und auch unsere Regierenden es sich offenbar wünschen, sage ich aus eigener Erfahrung: Es gibt ein anderes Russland! Ich kenne über meine Familie (meine Schwiegertochter ist Russin) und über Kultur- und Bildungsprojekte viele herzliche, kultivierte, offene Menschen dort. Ich habe 2003 bis 2009 zwei Projekte der Klassik Stiftung beziehungsweise der Stadt Weimar mit dem Tolstoi-Museum in Jasnaja Poljana koordiniert. Hellmut Seemann, der damalige Präsident der Klassik-Stiftung, der OB Volkhardt Germer, Schüler und Schülerinnen der Waldorf-Schule, Kunstfest-Chef Bernd Kaufmann, Künstlerinnen und Künstler, Studierende und etliche andere Weimarer waren, teils mehrfach, dort, und es gab eine ganze Reihe von Gegenbesuchen.

Es ist mir unverständlich und ich halte es für absolut kontraproduktiv, wenn wir, was leider überall im Lande passiert, diesen Menschen die Türen zuschlagen und diese am besten dauerhaft verrammeln wollen. Auch hier kann
ein Blick in die Geschichte zeigen, wie es anders geht: Die Alliierten haben nach 1945 den Deutschen, die halb Europa verwüstet und Millionen Menschen ermordet hatten, die Hand gereicht und sie sogar noch beim Wiederaufbau unterstützt. Mit Erfolg, wie man heute weiß. Das sollte gerade uns Deutschen als Richtschnur dienen beim Umgang mit Russland, heute und in Zukunft.

Liebe Friedensbewegte,

Eine letzte Sache ist mir noch wichtig: Ich möchte dazu aufrufen, in der Diskussion um Krieg und Frieden, um Rüstung und Sicherheit das Trennende hintan zu stellen und sich auf das gemeinsame Interesse an einer friedlichen Zukunft zu konzentrieren. In meiner Familie, in meinem Freundes- und Bekanntenkreis und sicher auch hier auf dem Platz gibt es extrem unterschiedliche Positionen zu den Waffenlieferungen an die Ukraine, zur
Möglichkeit von Friedensverhandlungen oder zur Frage nach der Mitschuld des Westens. Ich habe zu diesen Fragen eine klare Position: Ich lehne die Waffenlieferungen ab, weil sie Krieg und Leid immer weiter verlängern. Ich
sehe eine erhebliche Mitschuld des Westens an der gegenwärtigen Situation, ohne den brutalen Überfall Russlands damit in irgendeiner Weise zu entschuldigen. Und ich finde, dass wir, gerade auch wir Deutschen, alle nur
denkbaren diplomatischen Anstrengungen für einen schnellstmöglichen Waffenstillstand unternehmen sollten, ja müssen!

Ich kann aber auch andere Positionen verstehen, die meinen, wir müssten das ukrainische Volk mit allem Mitteln und vor allem auch mit Waffen gegen die russischen Aggressoren unterstützen, und die eine Mitverantwortung des Westens vehement ablehnen. Diese Unterschiede sollten aber nicht den Blick verstellen auf die Gefährlichkeit der Lage, und vor allem dürfen sie gemeinsame Aktionen für eine friedliche Zukunft nicht behindern. Denn wir brauchen euch alle, um die Spirale von Rüstung und Krieg und Rüstung und neuen Kriegen zu durchbrechen, die seit Jahrtausenden die Menschheit im Griff hat und die jetzt gerade wieder mächtig Fahrt aufnimmt.

Wir müssen uns engagieren und unsere Stimme erheben, wir müssen Flagge zeigen im besten Sinne des Wortes, und wir dürfen und müssen vielleicht sogar „naiv“ sein im Sinne des Dalai Lama, in der Tradition von Bertha von Suttner, Mahatma Ghandi, Martin Luther King, Nelson Mandela und vielen anderen.

Vielen Dank.

 

Burkhardt Kolbmüller ist aktiv bei der Zukunftswerkstatt Schwarzatal.