Redebeitrag für den Ostermarsch Mannheim am 8. April 2023

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

zweimal schon hat Europa die Welt in einen Weltkrieg gestürzt, der letzte endete mit dem Abwurf zweier Atombomben. So erinnert sich die Welt. Nur in Europa und ganz besonders in Deutschland, das beide Weltkriege losgetreten hat, nimmt man die Geschichte etwas anders wahr. Da gibt man sich geläutert und leitet aus diesem Geläutert sein wieder eine neue Überlegenheit ab, nimmt für sich eine überlegene Rationalität in Anspruch. Man ignoriert die weltweit erhobenen Forderungen nach einem Waffenstillstand und Verhandlungen oder weist sie brüsk zurück. Wer sie hierzulande erhebt, wird verunglimpft, ihm wird Sympathie mit dem Aggressor vorgeworfen oder Naivität.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

ein solcher Diskurs ist Kriegshetze und zeigt, wie sehr wir als Staaten, als Gesellschaften und Öffentlichkeiten schon Partei geworden sind in diesem Konflikt, in diesem Krieg.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

meiner Meinung nach zeugt diese Debattenkultur von einer Fehlwahrnehmung in Europa, das sich immer noch als Hort der Aufklärung und der Vernunft versteht. Nehmen wir einmal einen anderen Blick ein, als hätten wir nicht einen großen Teil unseres Lebens in dieser europäischen Informationsblase gelebt. In weiten Teilen der Welt wird Europa verbunden mit Kolonialismus und Sklaverei – die übrigens lange über die so genannte Aufklärung hinausreichten – und heute mit den zehntausenden Menschen, die jährlich an den europäischen Grenzen ihr Leben verlieren – elendig. In weiten Teilen der Welt ist durchaus bekannt, dass die Technologien und Industrien, die hauptverantwortlich für den Klimawandel sind, vor allem in Europa Reichtum geschaffen haben und wir die Kosten dafür exportiert haben – auch in Form der Stabilisierung autokratischer Regime im so genannten Globalen Süden. In weiten Teilen der Welt ist man sich durchaus bewusst, dass Kapitalismus, Neoliberalismus, Extraktivismus und Imperialismus europäische „Erfindungen“ sind, die mit aller Gewalt über Jahrzehnte in den Rest der Welt exportiert wurden. In weiten Teilen der Welt traut man Europa, mit seiner spezifischen Form von Nationalismus in Verbindung mit industrieller Effizienz durchaus zu, die Welt wieder einmal und diesmal vielleicht sogar endgültig in die Katastrophe zu führen.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

wir stehen an der Seite dieser Menschen weltweit, die auf uns hoffen, diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen und dafür ist es höchste Zeit!

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

wir stehen hier in der Tradition einer Friedensbewegung, die schon lange gegen Kolonialismus und Imperialismus, gegen die Aufrüstung auch der Grenzen, gegen den Extraktivismus, die Privatisierung der Gewinne und Auslagerung der Risiken, gegen Nationalismus und Rassismus gekämpft hat für internationale Solidarität und globale Gerechtigkeit und wer uns versucht, in die rechte Ecke zu stellen, der tut das ganz offensichtlich ganz überwiegend mit böser Absicht.

Dieser Tradition sollten wir jedoch auch treu bleiben und Menschen und v.a. Gruppen, die für Nationalismus und Rassismus stehen, konsequent von unseren Kundgebungen fernhalten, denn sie teilen nicht unsere Werte und Ziele!

 

Liebe Leute,

im Rest der Welt wird vielleicht viel klarer wahrgenommen als hierzulande, dass Europa dabei ist, vollends die Vernunft zu verlieren. Im Rest der Welt wurde zum Beispiel kaum geglaubt, dass Russland hinter den Anschlägen vom September 2022 auf die Nord-Stream-Pipelines steckt, wie es hier tagelang hoch und runter spekuliert wurde. Wie groß war damals, im September 2022, die Aufregung über diesen spektakulären und folgenreichen Anschlag, auf den hin der EU-Außenbeauftragte Borrell eine „robuste und gemeinsame Reaktion“ ankündigte, Kommissionspräsidentin von der Leyen gar mit „härtesten Reaktionen“ drohte, die deutsche Regierung „fieberhafte“ Ermittlungen mit „Hochdruck“ versprach. Stattdessen herrscht seit dem Geheimhaltung, Desinformation und ein dröhnendes Schweigen darüber, dass es höchstwahrscheinlich Verbündete waren, die diese kritische Infrastruktur angegriffen haben, die – so wird das ja häufig formuliert – Europa mit Russland verbunden habe. Die Washington Post zitierte vor wenigen Tage EU-Beamte, wonach sich unter den Regierungen ein Konsens etabliert habe, bei internationalen Treffen das Thema nicht anzusprechen und „nicht zu tief zu graben“, weil man auf „unangenehme Wahrheiten“ stoßen könnte.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

keine zwei Wochen ist es her, dass die Sprengung der Nord Stream Pipelines am 27. März Thema im UN-Sicherheitsrat war – und in Deutschland, dessen Infrastruktur und Energieversorgung damals angegriffen wurde, war das nur wenigen Medien überhaupt eine Berichterstattung wert. Liebe Leute, das ist doch ein deutliches Zeichen des Nicht-Wissen-Wollens und der internationalen Selbstisolation und das ist hochgefährlich in solch einer Situation.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

und man will hier auch gar nicht wissen, wie der Krieg eigentlich verläuft. Oder man will nicht, dass wir das wissen und dabei spielen alle mit. Es geht mir um das Phänomen, dass wir in dieser Zeit nie dagewesener Digitalisierung, Überwachung; in einem Krieg, der so genau von den technologisch führenden Staaten beobachtet wird, so wenig über die Opfer wissen – v.a. auf ukrainischer Seite. Denn die Zahlen getöteter und verletzter Ukrainischer Soldaten ist dort als Staatsgeheimnis klassifiziert und aus so genannter „Solidarität“ hält man sich auch hier mit entsprechenden Schätzungen zurück, auch in der Politik und in den Denkfabriken.

 

Liebe Leute,

und das ist umso frappierender, als dieser Krieg in den Regierungen und westlichen Denkfabriken längst als Abnutzungskrieg konzipiert wird – ein War of Attrition, wie das zum Beispiel das European Council on Foreign Relations schreibt, das diesen Krieg gerne fortsetzen möchte. Die Wende sollen neue Technologien und Innovationen bringen, die man der Ukraine zur Verfügung stellen müsse, um die Abnutzungsrate, die Kill-Ratio zu verändern. Diese Abnutzungsrate, das Verhältnis zwischen den Getöteten und Verwundeten auf beiden Seiten gilt nämlich als entscheidend dafür, welche Seite „gewinnen“ könnte. Diese Abnutzungsrate wird aktuell auf 1:1,8 oder 1:2 geschätzt – aber nicht vom European Council of Foreign Relations, das verschiedene sechsstellige Zahlen verwendet, um über die Massen an toten Russen zu spekulieren aber keinerlei Vermutung darüber anstellt, wie die ukrainischen Verluste sind und damit die tatsächliche „Kill-Ratio“, die eigentlich Dreh- und Angelpunkt ihrer Diskussion ist. Einzig, dass sie überhaupt auf eine Wende hoffen deutet an, dass diese Abnutzungsrate noch lange nicht ausreicht für einen wie auch immer gearteten „Sieg“ der Ukraine – weil Russland nunmal ein erheblich größeres Mobilisierungspotential zugesprochen wird.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Waffen und Menschen in einen Krieg zu schicken, in die als „Knochenmühle“ und „Fleischwolf“ bezeichnete Schlacht um Bachmut zu schicken und zugleich die Öffentlichkeit bewusst und gezielt im Unklaren darüber zu lassen, wie die Erfolgsaussichten sind, das ist doch ein Rezept fürs Desaster, das ist doch das Gegenteil von Rationalität - von Demokratie obendrein.

Liebe Leute, im Militärsprech wird da gerade gerne der Buchstabe K für „Kilo“ verwendet, um die geschätzten Zahlen der Getöteten und Verwundeten in Tausenden anzugeben. Ich nenne hier mal Zahlen. Das European Council on Foreign Relations schätzt die Zahl der russischen Verluste im ersten Jahr auf 200.000 bis 250.000. Wie gesagt gibt es dort keine entsprechende Schätzung über ukrainische Verluste, obwohl das Verhältnis zwischen beiden Dreh- und Angelpunkt ihrer Argumentation ist. Das Handelsblatt hat kürzlich für die Ukraine von 100.000 bis 120.000 Toten und Verletzten geschrieben, was mit den sicherlich noch vorsichtig und sehr selten von hochrangigen westlichen Militärs und Politikern geäußerten Schätzungen gut zusammenpasst. Selbst wenn das Verhältnis, die „Kill-Ratio“ 1:2 wäre, so ließt man in westlichen Militärblogs von optimistischen Diskutant*innen, so sei das immer noch ein Weg zum – Zitat - „Sieg durch Abnutzung“.

 

Liebe Leute,

ich werde jetzt mal einige Sekunden Pause zu machen, damit wir aus dieser Logik wieder heraustreten können und kurz darüber nachdenken, dass es hier um bis zu 370.000 tote und verstümmelte, überwiegend junge Menschen geht.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

hinzukommt, und das ist ein weiteres Beispiel des Nicht-Wissen-Wollens, dass die Vorstellungen über einen endgültigen Sieg der Ukraine sehr vage sind, so vage, dass sie kaum diskutiert werden. Und – und da komme ich nochmal auf den Anfang zurück, den internationalen Blick auf das vermeintlich rationale Europa – hier kommt hinzu, dass mindestens eine Atommacht direkt und weitere zumindest indirekt an diesem Krieg beteiligt sind. Hier in Europa steht auch darüber hinaus ein industrielles und technologisches Potential zur Massenvernichtung an Menschenleben und des Klimas bereit. Europa hat sich wieder einmal an sich selbst besoffen und führt die Welt an den Rande des Abgrunds. Und unsere Aufgabe ist es, in Solidarität mit der ganzen Weltbevölkerung, dies zu verhindern.

 

Liebe Leute,

Während wir offensichtlich auf verschiedene Kippunkte des Klimawandels zumarschieren, erhöhen v.a. die NATO und die europäischen Staaten ihre Rüstungsausgaben in nie erreichte Höhen. Wir betäuben diesen Widerspruch mit einem Teppich aus verschleiernden Begriffen wie Klimaneutralität und technologiepolitischen Heilsversprechen wie Elektromobilität und grünem Wasserstoff. Im öffentlichen Diskurs spielt demgegenüber der Begriff der „Kriegswirtschaft“ v.a. in Deutschland noch keine große Rolle, wohl aber in der Fachdebatte auch hierzulande und in offiziellen Strategiepapieren vieler unserer so genannten Partnerländer. Das 100-Mrd. Sondervermögen, die Ankündigung der EU, innerhalb eines Jahres 1 Mio. Schuss Artilleriemunition zu liefern, die verschiedenen Ringtausch- und Waffenlieferungen: All das setzt die Umstellung auf eine „Kriegswirtschaft“ mehr oder weniger voraus bzw. hat diese zum Ziel: Dass am Fließband Waffen und Munition produziert werden, die schnell an der Front landen und da in giftige Luft aufgehen – unter Vernichtung von Menschenleben auf beiden Seiten. 1 Mio. Geschosse im Jahr sind knapp 3.000 pro Tag – ein Verbrechen bereits in der Produktion.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

uns sollte klar sein: mit so einer Kriegswirtschaft ist der Klimawandel nicht aufzuhalten, mit solch einer Kriegswirtschaft richten wir den Planeten wieder einmal zu Grunde – diesmal vielleicht auch ohne nukleare Konfrontation unwiederbringlich.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

der Papst, der UN-Generalsekretär und Politiker aus allen Teilen der Welt rufen zu einem Waffenstillstand und Verhandlungen auf. Zumindest die ersten beiden tun das eigentlich jedesmal, bei jedem Konflikt und meist schließen sich die westlichen Regierungen dem an – zumindest in Form von Lippenbekenntnissen. Im Jemen und Äthiopien zum Beispiel. Im Falle der Ukraine aber werden diese Appelle von europäischen Regierungen zurückgewiesen oder ignoriert und verkommen auch in der Berichterstattung zu einer Randnotiz. So, wie es in den anderen genannten Kriegen in den Ländern der Fall ist, die Konfliktpartei sind. Während der Rest der Welt dort kopfschüttelnd dem Sterben und der Zerstörung zusieht und dem Einhalt gebieten will, sind es jeweils diese Konfliktparteien, die insistieren, dass noch diese oder jene Offensive abgewartet, diese oder jene Stadt eingenommen oder dieses oder jene Verbrechen gesühnt werden müsse. Genau so agieren im Hinblick auf die Ukraine gerade unsere Politiker; unsere Leitmedien; große Teile der kulturellen Elite. Um es ganz klar zu sagen: Wer weiter Waffen für die Ukraine fordert, der setzt auf einen Sieg durch Abnutzung auf dem Rücken zehntausender, vermutlich hunderttausender Leichen – auch und vor allem: ukrainischer Leichen. Wir, liebe Freundinnen und Freunde, machen uns diese Logik nicht zu eigen, wir werden ihr weiterhin widerstehen!

Ich danke Euch deshalb, dass Ihr hier seid und danke allen an der Organisation der Ostermärsche Beteiligten, dass sie uns die Möglichkeit geben, auch hier unseren Widerspruch und Widerstand sichtbar zu machen!

Vielen Dank.

 

Christoph Marischka ist aktiv bei der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.