Redebeitrag für den Ostermarsch Goslar am 8. April 2023

 

- Sperrfrist: 8. April 2023, Redebeginn: 11 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,

wie alle illegalen Kriege der letzten Jahrzehnte, die das UNO-Gewaltverbot verletzt haben, ist auch die aktuelle Invasion Russlands in die Ukraine ein Völkerrechtsbruch und unmissverständlich zu verurteilen. Die Berücksichtigung der Vorgeschichte dieses Krieges kann vielleicht manches erklären, aber nicht entschuldigen oder gutheißen. Die Friedensbewegung verurteilt ganz grundsätzlich Kriege und Gewalt als Mittel der Politik. Deshalb völlig eindeutig: Rote Karte für Putin!

Wo stehen wir heute, nach gut einem Jahr Ukraine-Krieg? Haben Waffenlieferungen und beispiellose Sanktionspakete der Ukraine Frieden gebracht? Ist die Welt durch diese Kriegs- und Eskalationslogik sicherer geworden? Wenn wir einen Blick in die Realität werfen, müssen wir leider erkennen, dass die Lage in der Ukraine katastrophal ist. Zugleich steht die Menschheit näher am Abgrund, als jemals zuvor. Nach hunderttausenden Toten und Verletzten sowie Millionen Geflüchteter haben wir offenbar zugelassen, dass sich der anfänglich begrenzte Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg des kollektiven Westens gegen Russland ausgeweitet hat. Die ganze Welt droht in Flammen zu stehen, solange die Kriegstreiber aller Seiten die Eskalationsleiter immer höher hinaufsteigen. Die sogenannte Weltuntergangsuhr, mit der Forscher auf die Gefahren für die Menschheit aufmerksam machen, ist mittlerweile auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt - so weit wie nie zuvor! Einer der bekanntesten Intellektuellen der Welt, der Linguist Noam Chomsky schlägt Alarm: „Wir nähern uns dem gefährlichsten Punkt in der Geschichte der Menschheit“. Und UN-Generalsekretär Antonio Guterres sagt kaum beruhigender: „Ich befürchte, die Welt schlafwandelt nicht in einen größeren Krieg hinein - ich befürchte, sie tut dies mit weit geöffneten Augen“. Das bedeutet: die politisch Handelnden sind heute noch ignoranter und überheblicher als diejenigen, die den 1. Weltkrieg zugelassen haben. Und sollte kein neuer Weltkrieg unsere Hoffnungen und unsere Zukunft vernichten, befürchtet der ehemalige US-Chefdiplomat Henry Kissinger einen 2. Kalten Krieg, der in seinen Auswirkungen für die Menschen noch „gefährlicher“ wäre als der erste. Um die Jahrtausendwende herum gab es eine Phase der Hoffnung für eine friedlichere Welt. Nun bauen wir aber neue unüberwindbare Mauern in Köpfen und Herzen, wo doch internationale Kooperation bei allen wesentlichen Fragen des sozialen Fortschritts, des Wohlstands, der Bildung, der Gesundheit, der Umwelt und des Klimas so unbedingt erforderlich ist.

Die Strategie, auf Diplomatie zu verzichten und ausschließlich auf militärisch-wirtschaftliche Eskalation zu setzen, ist offensichtlich krachend gescheitert. Eigentlich müssten sich alle politisch Verantwortlichen heute fragen: Wie beenden wir diesen unsäglichen Krieg? Und wie kommen wir aus dieser Spirale des Eskalationswahnsinns wieder heraus? Um es mit dem ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt zu sagen: „Es gilt sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser wieder einmal ein falsches Bett zu graben versucht“. Wenn ich den heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz auf seinen Reisen nach Washington D.C. sehe, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jemand zum Rapport einbestellt wird. Mal zögert er hier, mal zögert er da, um letztlich dann doch dem Verlangen des Großen Bruders nachzukommen. Wo ist der selbstbewusste Dialog auf Augenhöhe, der auch deutlich machen müsste, dass europäische und insbesondere deutsche Interessen nicht zwingend deckungsgleich mit denen der Vereinigten Staaten sind? Und was macht unsere so kluge Außenministerin? Die großartige, unlängst leider verstorbene Grünen-Politikerin und ehemalige Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer nannte Annalena Baerbock die „schrillste Trompete“ im Club der NATO-Versteher. Baerbock möchte Russland „ruinieren“ und erklärt Russland mal eben so den Krieg… Gott sei Dank nur „versehentlich“. Sie betätigt sich als „Elefant im Porzellanladen“ und zertrümmert diplomatisches Porzellan, wann immer es ihr gefällt. Geschichtsvergessen ignoriert Baerbock die besondere Verantwortung deutscher Außenpolitik gerade gegenüber Russland und der Ukraine, indem sie Hitlers Vernichtungskrieg und Gorbatschows Geschenk der deutschen Einheit offenbar völlig verdrängt. Ich schäme mich zutiefst dafür, dass heute wieder deutsche Panzer in den Osten rollen, um Russen zu töten. Meine respektvolle Empfehlung für unsere Außenministerin lautet, sich einfach mal „um 360°“ zu drehen, um die Welt mit anderen Augen zu sehen. Dann würde sie möglicherweise erkennen, wie sie der von ihr angestrebten „Feministischen Außenpolitik“ augenblicklich Sinn und Bedeutung verleihen könnte.

Indem sie auf Grund ernsthafter und umfassender diplomatischer Initiativen tausende, zehntausende, möglicherweise hunderttausende ukrainische und russische Mütter und Ehefrauen davor bewahrt, ihre Söhne und Ehemänner in diesem unfassbaren „Abnutzungskrieg“ elendig krepieren zu lassen. Denn so unglaublich es klingen mag, es gibt einflussreiche politische, wirtschaftliche und militärische Eliten, die diesen Stellvertreterkrieg gegen Russland gerne bis „zum letzten Ukrainer“ fortführen möchten, wie es in unübertrefflichem Zynismus z.B. der amerikanische Senator Lindsey Graham ausdrückt. Hierzu passend leidet der politisch-mediale Diskurs an einer Art militaristischem Tourette-Syndrom: „Krieg! Waffen! Krieg! Waffen! Krieg! Panzer! Krieg! Kampfjets!“. Auch die knallenden Champagnerkorken der Rüstungsindustrie, angesichts ihrer über Jahre prall gefüllten Auftragsbücher, kann man bis nach Goslar hören. Hinzu kommen orwellsche Sprachumdeutungen nach dem Motto „Frieden schaffen mit immer mehr Waffen“: „Waffen helfen, Leben zu retten! Krieg beenden – Panzer senden!“. Das ist Propaganda pur: wir sollen das Gegenteil glauben, von dem wir tief in unserem Inneren wissen, dass es wahr ist. Und meine Antwort an alle Sofabellizisten und Strack-Zimmermanns dieser Welt lautet: Mit Verlaub… Das ist „Bullshit“! Der berühmte Schriftsteller und Kriegsgegner Erich Maria Remarque drückt es etwas feiner aus: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind. Besonders die, die nicht hineingehen müssen.“ Die einfache Wahrheit ist: Waffen töten! Panzer sind keine niedlichen Wildkatzen, sondern verheerende Tötungsmaschinen.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Waffenlieferungen Kriege anfeuern und verlängern, wie es die Grünen noch bis in den Bundestagswahlkampf 2021 wussten, als Sie plakatierten „Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete“, kann den aktuellen Krieg in der Ukraine als Lehrbeispiel nehmen. Man kann vielleicht darüber diskutieren, ob dieser Krieg vermeidbar gewesen wäre. Nicht mehr diskutieren kann man, dass der Krieg im April 2022 hätte beendet sein können. Es gab weitreichende ukrainisch-russische Friedensverhandlungen und man hatte sich nur einen Monat nach Ausbruch des Krieges auf Grundzüge einer Friedensvereinbarung geeinigt. So versprach die Ukraine, der NATO nicht beizutreten und keine Militärbasen ausländischer Mächte auf ihrem Territorium zuzulassen. Russland versprach im Gegenzug, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine anzuerkennen und alle russische Besatzungstruppen abzuziehen. Jetzt dürft Ihr raten, warum dieser greifbare Frieden nicht zu Stande kam. Bestimmt war Putin schuld! Aber NEIN… einige NATO-Staaten – gemeint sind insbesondere USA und Großbritannien – wollten, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht, um Russland zu schwächen, wie es der damalige Ministerpräsident Israels und der türkische Außenminister später übereinstimmend bestätigen. Der ehemalige UN-Diplomat Michael von der Schulenburg sagt dazu: „Wie viel Leid, wie viele Menschenleben und wie viele Zerstörungen hätten vermieden werden können, wenn sich die NATO im März hinter die ukrainisch-russischen Friedensbemühungen gestellt hätte? Dafür, dass sie diese aber verhindert hat, tragen die NATO-Länder eine schwere Mitschuld an den Opfern des Krieges seit dieser Zeit“. Wird eines Tages in den Geschichtsbüchern stehen: „Russland war der Kriegsverursacher, aber der Westen der große Friedensverhinderer“? Was sage ich meinen Nachkommen eines Tages, wenn sie mich fragen, warum wir es zulassen konnten, dass ein Krieg so dermaßen aus dem Ruder läuft, wo doch ein Frieden zum Greifen nahe war? Was würde ich antworten?

Immer wieder höre ich, dass Waffenlieferungen sein müssten, weil wir der Ukraine damit helfen, sich selbst zu verteidigen. Was ist aber, wenn die dahinter stehende gute Absicht das Gegenteil von dem bewirkt, was sie möchte? Damals, im März 2022 waren einige Tausend Menschen im Krieg gestorben. Nach Abbruch der Friedensverhandlungen und bei beständigen Lieferungen immer schwerer Waffen sind seither mehr als 200.000 Tote zu beklagen! Ich möchte die Fallhöhe des Scheinarguments „solidarischer“ Waffenlieferungen an einem Beispiel aus meinem früheren Berufsalltag als Lehrer illustrieren: In einer Pausenaufsicht sehe ich plötzlich, dass ein großer, starker Schüler einen kleineren, schwächeren schlägt. Ich weiß nicht, was vorher passiert ist, ob der Große nur aus einer bösartigen Laune heraus zugeschlagen hat oder ob im Gebüsch Mitschüler sitzen, die den Kleinen angestachelt haben, den Großen zu ärgern, mit dem Versprechen, ihm später zu helfen. Ich gehe also schnellstmöglich hin… und was tue ich? Ich drücke dem Kleinen natürlich einen Holzknüppel in die Hand, weil ich finde, dass er das Recht hat, sich selbst zu verteidigen. Nach einer Weile erzielt der Kleine wirklich ein paar Fortschritte. Der Große hat ein paar blaue Flecken, aber er ist immer noch stärker. Na gut, sage ich mir, so geht das nicht weiter… und drücke dem Kleinen eine Eisenstange in die Hand! Ich hoffe, dass deutlich wird, wie absurd ein solches Handeln wäre, abgesehen davon, dass ich meinen Beruf in kürzester Zeit verloren hätte.

In Wirklichkeit bin ich auf die beiden Streithähne zugeeilt und habe einen sofortigen „Waffenstillstand“ herbei geführt. Danach gab es ein klärendes Gespräch, in dem jeder seine Sicht der Dinge darlegen konnte. Dabei stellten wir regelmäßig fest, dass es einseitige Boshaftigkeit praktisch nicht gibt. Daraufhin haben wir gemeinsam besprochen, also „verhandelt“, wer welche Konsequenzen zu tragen hat, wie das zugrundeliegende Problem zu lösen ist und was zu tun ist, um solche Zusammenstöße zukünftig zu vermeiden.

Die Rezepte für eine erfolgreiche Konfliktlösung sind kein Geheimnis und sie funktionieren im Kleinen wie im Großen. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant sagt zwar bedeutungsschwer „Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft“, aber eigentlich ist alles ganz einfach. Man braucht nur die EINSICHT, dass die archaisch anmutende Kriegs- und Eskalationslogik in eine Sackgasse führt, aus der es nur schwer ein Entrinnen gibt. Man braucht den MUT, einen ersten Schritt zu wagen und man benötigt VERANTWORTUNGSBEWUSSTSEIN. Hier kommen wir, hier kommt die Friedensbewegung ins Spiel. Wir können nicht Putin beeinflussen, wir können aber versuchen in der deutschen Öffentlichkeit zu wirken und die politisch Handelnden zu einem Umdenken zu bewegen. Unsere Aufgabe ist es nicht, für geostrategische Vorteile einzutreten, sondern das bedingungslose Kriegsnarrativ zu hinterfragen. Max Frisch, der große Schweizer Schriftsteller sagt: „Wir können das Arsenal der Waffen nicht aus der Welt schreiben, aber wir können das Arsenal der Phrasen, die man hüben und drüben zur Kriegführung braucht, durcheinanderbringen“(Zitat Ende). Wir können und wollen nicht sagen „naja…100000 Tote mehr nehmen wir noch in Kauf, um dann vielleicht eine bessere Verhandlungsposition zu haben“. Für uns, für die Friedensbewegung gibt es keine Menschenleben 1. oder 2. Klasse - jedes Menschenleben ist gleich viel wert! Und jeder einzelne Tote ist einer zu viel. Wir wollen das tägliche elendige Krepieren beenden…, das tägliche unfassbare Leid der Menschen, die Zerstörung von Familien und die auf Jahre und Jahrzehnte angelegte seelische Vergiftung durch Hass verhindern und deshalb diesen Krieg und alle anderen Kriege so schnell wie möglich beenden.

Wir stehen nicht auf der Seite Putins oder von sonst wem. Wir alle stehen nicht auf der Seite des Todes und des Krieges, sondern auf der Seite der Vernunft und der Verantwortung, auf der Seite des Lebens und sogar der Liebe. Nicht geopolitische Strategie, sondern Menschenliebe ist unsere Motivation und unsere gemeinsame Basis. „Wer Frieden will, redet nicht mit seinen Freunden, sondern mit seinen Feinden“, gab uns der Geistliche, Menschenrechtsaktivist und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu mit auf den Weg.

Deshalb sagen wir unüberhörbar: „Reden statt schießen – Vorrang für Diplomatie!“

Wir unterstützen bedingungslos die Resolution der UN-Generalversammlung vom 2. März 2022, welche die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts fordert… „durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel“! Denn wir brauchen zwingend einen tragfähigen Verhandlungsfrieden. Sogenannte Sieg- oder Diktatfrieden – egal von welcher Seite – tragen immer die Saat zukünftiger Kriege in sich.

Wir unterstützen bedingungslos die Friedensgebote des Grundgesetzes und der UN-Charta!

Wir fordern in diesem Sinne die Bundesregierung dazu auf:

  • umfassende diplomatische Initiativen für einen sofortigen Waffenstillstand zu initiieren,
  • die immer umfänglicheren Waffenlieferungen zu stoppen,
  • Verhandlungen ohne Vorbedingungen z.B. unter Beteiligung der UNO aktiv vorzubereiten,
  • Friedensinitiativen durch China, den Papst oder andere Initiatoren konstruktiv zu unterstützen
  • und die Entwicklung einer gesamteuropäischen Sicherheits- und Friedensstruktur zu initiieren oder sich an einer solchen ernsthaft zu beteiligen!

Die Aufgabe jedes Einzelnen von uns besteht darin, den politisch Verantwortlichen Mut zu machen, zu einer vernünftigen, verantwortungsvollen und zukunftsweisenden Friedens- und Sicherheitspolitik zu finden, die die Zerstörung der Ukraine beendet, die das Töten und Leiden beendet und die eine friedliche Koexistenz auf dem eurasischen Kontinent ermöglicht. Dazu müssen wir täglich mehr werden, täglich lauter werden, keinem Gespräch zu Krieg und Frieden ausweichen, für das Leben und gegen den Tod argumentieren, Leserbriefe schreiben, lokal und regional politisch Verantwortliche ansprechen und anschreiben, öffentlich agieren und Bündnisse eingehen, wo es nur möglich ist.

Lasst mich abschließend in Anbetracht des morgigen Osterfestes christlich werden: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen“

Peace!

 

Gerhard Stein ist aktiv beim Friedensbündnis Goslar.