Redebeitrag für den Ostermarsch Ellwangen am 8. April 2023

 

- Sperrfrist: 8. April 2023, Redebeginn: 11 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde,

fast auf den Tag genau vor 101 Jahren, am 10. April 1922, verließ hier ganz in der Nähe, in Ellenberg, ein Mann das Haus, um zur Arbeit als Holzhauer zu gehen. Er kam nicht mehr zurück. Er hatte sich im Wald das Leben genommen. Die Bilder in seinem Kopf, die er aus den Schlachten des 1. Weltkrieges mitgebracht hatte, haben ihm das Leben unerträglich gemacht. Dieser Mann war mein Großvater. Er kommt mir immer wieder in den Sinn, wenn ich in diesen Tagen Bilder aus Bachmut oder anderen Orten sehe. Ausgehobene Schützengräben, Berichte vom Frontverlauf, der sich um wenige hundert Meter hin oder her verschiebt. Fast könnte man sagen: „Im Osten nichts Neues.“

Nichts Neues ist es, was uns jeden Tag in den Medien berichtet wird. Auch der Krieg in der Ukraine folgt den Gesetzmäßigkeiten, wie wir sie seit Menschengedenken kennen. Imperialismus, Vernichtungsphantasien, Skrupellosigkeit, Kampf um Ressourcen und Einflusssphären, geopolitisches Kräftemessen – all das kennen wir zur Genüge. Neulich sagte jemand, dass bei den Ostermärschen immer dieselben Forderungen erhoben würden, man würde keine Rücksicht auf die aktuelle Situation nehmen. Ja, leider ist das so: wir müssen immer noch dieselben Forderungen erheben. Es gab in den letzten Jahrzehnten zwar hoffnungsvolle Ansätze (verschiedene Abrüstungsverträge, den KSZE-Prozess). Aber im Grunde hat sich an der Logik, wie unsere Welt funktioniert und in der das militärische Denken eine zentrale Rolle spielt, nichts geändert. Antje Vollmer hat kurz vor ihrem Tod, darauf hingewiesen, dass man die Chance, die die Umwälzungen in den ehemaligen Ostblockstaaten Anfang der 90er Jahre geboten haben, in westlicher Überheblichkeit verspielt habe. Zu sehr haben sich die westlichen Staaten als Sieger der Geschichte verstanden und haben danach auch in diesem Selbstbewusstsein gehandelt. Für mich stellt der 24.2.22 keine Zeitenwende dar, sondern die fürchterliche Zuspitzung eines Prozesses, den man anders hätte gestalten können.

Weil es immer noch keine wirkliche Bereitschaft gab und gibt, Sicherheit neu zu denken, sind die altbekannten Forderungen, wie sie schon immer auf Ostermärschen erhoben wurden, auch in der aktuellen Situation nicht einfach überflüssig geworden. „Kriege beenden – den Frieden gewinnen“ wir werden es wiederholen, solange es Kriege auf dieser Welt gibt.

Wir werden es wiederholen, weil wir überzeugt sind, dass es Alternativen gibt. Pax Christi hat eine Aktion gestartet unter dem Motto „Gewaltfreiheit wirkt“. Wir wollen damit viel stärker ins Bewusstsein rücken, dass Gewaltfreiheit nicht einfach bedeutet, nichts zu tun, die Hände in den Schoß zu legen. Wir wollen daran erinnern, dass Aktionen des gewaltfreien Widerstands Aggressoren und Diktaturen erfolgreich bekämpfen können; allerdings ohne dass damit Waffenschmieden Gewinne erzielen können. In Klammern: Rheinmetall hat 2011 einen 100-Millionen-Vertrag mit Russland geschlossen zur Lieferung eines Übungszentrums für den Häuserkampf und jubelte im Geschäftsbericht von 2013, jetzt gebe es die Chance „in einem der weltweit stärksten Wachstumsmärkte eine signifikante Marktposition zu erobern.“ Nach der Annexion der Krim hat die Bundesregierung die Auslieferung gestoppt, worauf Rheinmetall die Bundesregierung auf 120 Millionen Euro Entschädigung verklagte. Geht es noch zynischer? Ein Übungszentrum für den Häuserkampf! Da hatten die Kriege in Tschetschenien bereits stattgefunden. Nein, solche Geschäfte lassen sich mit gewaltfreien Aktionen nicht machen. Dass es aber auch gewaltfreien, effektiven Widerstand in der Ukraine gab und gibt, darüber wird leider nur selten berichtet. Nicht nur das militärische Vorgehen, sondern auch der Boykott der Zivilbevölkerung und der Verwaltung gegenüber den Besatzern hat dazu geführt, dass die russische Armee immer wieder Positionen räumen musste. Welche Möglichkeiten würden 100 Mrd. Euro bieten, eine gewaltfreie Landesverteidigung zu planen und vorzubereiten? Ich höre schon den Vorwurf, dass ein solches Konzept geradezu eine Einladung an jeden Aggressor sein würde. Aber scheinbar ist das Modell, mit militärischen Mitteln Konflikte zu lösen oder sogar Staatenbildung zu betreiben, ja auch nicht so erfolgreich, wie man in Afghanistan oder Libyen sieht.

Ich bin nicht blauäugig. Pax Christi sieht die Welt nicht mit einer rosa Brille. Natürlich gibt es auch in mir die Frage, ob Solidarität mit dem ukrainischen Volk nicht auch Waffenlieferungen einschließen müsste; angesichts dieses brutalen russischen Überfalls; angesichts der Kriegsverbrechen. Wir haben innerhalb von Pax Christi dazu keine einheitliche Meinung. Was mich und mit mir viele aus unserer Bewegung für Verhandlungen anstelle von Waffenlieferungen aussprechen lässt, ist die Vorstellung, dass wir in einem Jahr wieder hier stehen. Der Frontverlauf wird sich um wenige Kilometer hin oder her verschoben haben. Nur dass dann eben noch tausende Tote mehr zu beklagen sein werden, mehr Verletzte und Traumatisierte, noch weiter verwüstete Infrastruktur, Städte und Landschaften. Und wir werden wieder fragen, wann denn der Zeitpunkt für Verhandlungen gekommen sein wird. Ich finde es geradezu gruselig, wie sich Militärhistoriker und Konfliktforscherinnen in Talkshows über die verschiedenen Phasen des Krieges auslassen, so als wenn sie ein Fußballspiel analysieren würden. Oder wie man plötzlich im letzten Frühjahr wusste, dass es sich um eine jahrelange kriegerische Auseinandersetzung handeln wird. Wo haben Friedensforscher und Friedensforscherinnen in den Medien ihren Platz, die aufzeigen würden, wie eine gewaltfreie Konfliktlösung aussehen könnte; welche Konzepte es dazu gibt; welche geschichtlichen Erfahrungen; welche Schritte dazu getan werden müssten; weniger Clausewitz, dafür mehr Mahatma Ghandi und Martin Luther King!.

Eine Zeitung hat dieser Tage geschrieben, man habe sich in den letzten Jahrzehnten einlullen lassen von Friedensseligkeit und deshalb jetzt nicht genug Waffen und Munition, die man der Ukraine zur Verfügung stellen könnte. Wenn man nur auf unsere kleine Welt blickt, mag man das so sehen. Aber weltweit gesehen waren die letzten Jahrzehnte genauso wenig friedlich wie die Zeit davor; auch mit unserer Beteiligung. Ich will hier gar nicht die völkerrechtswidrigen Aktionen einzelner NATO-Staaten aufzählen, sondern ins Bewusstsein rufen, dass die Industrienationen mit ihrem Wirtschaftssystem und ihrem Lebensstil Verantwortung tragen für den Tod von Millionen Menschen, für die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage. Indien und Südafrika haben sich bei der letzten UN-Resolution zur Verurteilung Russlands enthalten. Das müsste man doch als Chance begreifen, dass solche Länder prädestiniert sind, eine Vermittlerrolle einzunehmen. Aber stattdessen versucht man, sie davon zu überzeugen, sich der westlichen Koalition anzuschließen. Aber was erwarten wir?

Was erwarten wir von Südafrika? Dass es sich an die Seite des so friedliebenden Europas stellt, während es mit ansehen muss, wie wir afrikanische Flüchtende im Mittelmeer ertrinken lassen?

Was erwarten wir von Indien? Dass es sich an die Seite des so freien Westens stellt, während Wetterextreme, hervorgerufen durch unseren freien Konsum, in Südostasien Orte und Ernten zerstören?

Deshalb ist dieses Bild von der Friedensseligkeit so schief, weil eben andere einen Preis dafür bezahlen. Der Satz von Papst Franziskus bringt es auf den Punkt: „Diese Wirtschaft tötet“.

Der aktuelle Krieg spitzt diese Lage noch zu. Er spitzt sie zu; er verursacht sie nicht. Mit Weizen wurde schon immer Politik gemacht. Durch diese Zuspitzung erleben wir aber, wie in unserer vernetzten Welt ein solcher Krieg bis in die letzten Winkel ausstrahlt. Und wie er sich verbindet mit den anderen Krisenerscheinungen unserer Zeit. Während wir versuchen, ein ökologisch verantwortbares Leben auf die Beine zu stellen, werden Unmengen an Ressourcen eingesetzt, werden riesige Umweltprobleme geschaffen mit dem einen Ziel, zu zerstören und zu töten. Sich für das unverzügliche Ende dieses Krieges einzusetzen ist deshalb auch ein klimapolitisches Statement.

Was folgt daraus, wenn wir diese Zusammenhänge sehen? Wenn wir wirklich Frieden wollen, dürfen wir nicht nur das imperialistische Machtstreben einer Nation, eines Präsidenten in den Blick nehmen. Sondern wir brauchen einen Ausstieg aus dem Denken „Hier nur das Gute – dort nur das Böse“. Das ist Voraussetzung für Frieden und Versöhnung.

Pax Christi feiert in diesem Jahr sein 75jähriges Bestehen. Seine Anfänge gehen in Zeit der letzten Tage des 2. Weltkriegs zurück. Pierre-Marie Théas, Bischof von Montauban, hatte noch 1944 aus dem deutschen Kriegsgefangenenlager Compiègne heraus zur Feindesliebe aufgerufen; daraus wurde nach dem Kriegsende ein »Gebetskreuzzug für die Versöhnung der Völker». Katholiken aus Deutschland und Frankreich, den langjährigen »Erbfeinden», begegneten sich zu gemeinsamen Friedensgebeten und Friedenswallfahrten, bis dann 1948 die deutsche Pax Christi-Sektion gegründet wurde. Der Aussöhnung mit Frankreich folgte ein ähnlicher Prozess mit Polen. Versöhnung ist nur möglich, wo ich im Anderen nicht den Feind, sondern den Menschen sehe; ein Gedanke der dem militärischen Denken zuwiderläuft. Die pazifistische Bewegung der Ukraine schreibt: „Falsches und sogar kriminelles Verhalten einer Partei kann nicht die Konstruktion eines Mythos über einen Feind rechtfertigen, mit dem es angeblich unmöglich ist zu verhandeln und der um jeden Preis vernichtet werden muss, einschließlich der Selbstzerstörung.“ Deshalb stehen wir hier mit unseren altbekannten Forderungen. „Kriege beenden – den Frieden gewinnen“.

 

Hermann Merkle ist Diözesanvorsitzender Pax Christi Rottenburg-Stuttgart.