Redebeitrag für den Ostermarsch Berlin am 8. April 2023

 

- Sperrfrist: 8. April 2023, Redebeginn: 11 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde,

Der Krieg in der Ukraine muss so schnell wie möglich beendet werden. Das Leiden in der Ukraine, das der Geflüchteten dort und im Ausland muss gestoppt werden. Die Zahl der Getöteten steigt Monat für Monat um 10.000. Der Krieg ist nicht zu Ende. Im Gegenteil, die Kriegsparteien haben sich über den Winter eingegraben und bereiten sich auf Großangriffe vor.

 

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

es muss alles an Diplomatie aufgebracht werden, was möglich ist, um diesen Krieg, so schnell es geht, zu stoppen! Wir brauchen einen Waffenstillstand!

So wie wir hier stehen, bringen wir das zum Ausdruck, was auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung will. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach von Mitte Februar brachte es hervor: Der folgenden Aussage stimmten bundesweit 62 Prozent zu: „Ich finde, die beiden Kriegsparteien sollten jetzt einen Waffenstillstand vereinbaren, und mit Verhandlungen beginnen. Das Wichtigste ist, dass die Kämpfe aufhören.“ Im Osten sind 77 Prozent dafür, im Westen 58 Prozent. Der gegenteiligen Ansicht, „Russland hat die Ukraine überfallen und muss erst wieder zurückgedrängt werden, bevor es Verhandlungen gibt,“ stimmen nur 29 Prozent zu.

Was macht die Bundesregierung? Sie vertritt nicht die ganz klare Meinung der Mehrheit, sondern die Minderheitsmeinung. Sie folgt der ukrainischen Vorgabe: Selenski hat per Dekret verboten, mit Russland Verhandlungen aufzunehmen, solange Putin russischer Präsident ist, und will erst dann verhandeln, wenn russische Soldaten die Ukraine in den Grenzen von 1991 verlassen haben. Genau dies soll noch 2023 militärisch erreicht werden. Selenski spricht von 2023 als dem Jahr des Sieges. Aber das ist eine Illusion.

Militärexperten weisen immer wieder darauf hin, dass es in einem Krieg für den Angreifer, in diesem Fall wäre es die Ukraine, im Feld einer dreifachen Überlegenheit bedarf, und in überbautem Gebiet, also in Städten und Gemeinden, sogar einer sieben bis zehnfachen Überlegenheit an Mensch und Kriegsmaterial, um den Verteidiger, in diesem Fall die Russen, aus der Ukraine zurückzuschlagen.

Aber dafür ist eben eine mindestens dreifache Überlegenheit bei schweren Waffen nötig. Zum aktuellen militärischen Kräfteverhältnis gab das der NATO nahestehende International Institute for Strategic Studies in London im Februar Zahlen heraus. Die belegen eindrücklich die ukrainische Unterlegenheit: Demnach verfügt die Ukraine nach einem Jahr Krieg noch über knapp 1.000 Kampfpanzer und Russland über 2.070. Für die dreifache Überlegenheit bräuchte die Ukraine praktisch 6.000 Kampfpanzer, um gegen Russland zu siegen. Woher nehmen? Die ukrainischen Fabriken sind kaputt. Aus dem Westen sollen in diesem Jahr Panzer kommen. Wie viele? Wenn man alle Ankündigungen zusammenzählt: 421. Mehr ist nicht drin. Aber damit ist kein Land zu gewinnen.

Ist es bei der Artillerie anders? Die Ukraine hat inklusive der westlichen Lieferungen nach einem Jahr Krieg noch 1.500 Artilleriesysteme, Russland 5.500 – also das 3,6 fache. Also auch hier hoffnungslose Unterlegenheit, zumal bei der Munition auf ukrainischer Seite Mangelware herrscht.

Neuerdings sollen sowjetische Kampfflugzeuge aus dem Westen die Rettung bringen. Bulgarien, Polen und die Slowakei könnten allerhöchstens 50 liefern. Würde das die Wende zugunsten der Ukraine bringen? Nein, denn Russland hat ein Vielfaches an Kampfflugzeugen und eine effektive Luftabwehr.

Die Kräfteverhältnisse lassen nur einen Schluss zu: 2023 wird es keinen ukrainischen Sieg auf dem Schlachtfeld geben. Umgekehrt ist es eher wahrscheinlich, dass sich die russische Armee weiter gen Westen vorarbeitet. Das wiederum würde bedeuten, dass die ukrainische Verhandlungsgrundlage angesichts der russischen Übermacht noch schwächer wird. Die Ukraine ist gut beraten, jetzt in Verhandlungen einzuwilligen. Das bedeutet zweitens, dass westliche Waffenlieferungen den Krieg nur verlängern. Deshalb die Forderung an die Bundesregierung: Stoppen Sie die Waffenlieferungen an die Ukraine!

Wenn nicht, was passiert dann? Die westlichen Waffenlieferungen bergen extreme Gefahren in sich: Sie eskalieren den Krieg. Denn auf jede westliche Eskalation setzt Russland noch eine drauf. So nahm Russland die Zerstörung der Krimbrücke zum Anlass, die ukrainische Energieversorgung zum Großteil zu zertrümmern. Droht Großbritannien mit der Verwendung toxischer DU-Munition, verlagert Russland Atombomber und Nuklearraketen ins vorgelagerte Belarus. Was kommt als nächstes? Wohin führt das, wenn nicht verhandelt wird? Die Antwort ist eine Binse: In unser aller Untergang! Denn wir haben es auf beiden Seiten des Konflikts mit Atommächten zu tun. Es gilt, den dritten Weltkrieg zu verhindern.

Also muss eines Tages verhandelt werden. Je früher desto besser. Zunächst muss eine Feuerpause ausgehandelt werden, dann ein Waffenstillstand. Selbst wenn dieser erreicht ist, wäre dies noch keine dauerhafte Lösung, die einen stabilen Frieden gewährleistet. Ein Waffenstillstand wäre allenfalls Voraussetzung für dauerhaft stabile Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten Europas – für eine stabile Sicherheitsarchitektur in Europa.

Wie kommen wir da hin? Ich glaube, dass wir die Sicherheitsinteressen nicht nur der Ukraine, sondern auch die Russlands sehr ernst nehmen müssen. Wir haben als Bundesausschuss Friedenratschlag seit mindestens 25 Jahren den Stopp der NATO-Osterweiterung gefordert, weil sie Sicherheit auf Kosten anderer schafft und Russland einkreist. Die Friedensbewegung hat Raketenabwehrsysteme und die NATO-Aufrüstung verurteilt und für Entspannung statt Konfrontation geworben. Dem diente auch der Appell „Abrüsten statt Aufrüsten.“ Es hat nichts genützt: Die NATO setzte ihre friedensgefährdende Politik verstärkt fort. Die Osterweiterungen verschafften der NATO neue Stationierungsräume für Truppen, Waffen und Raketen, die immer näher an die russische Hauptstadt und die Silos der russischen Interkontinentalraketen herankommen. Gar nicht unwichtig: Russlands Zustimmung für die Osterweiterungen wurde durch ein nicht eingelöstes Versprechen erkauft. Russland stimmte einst der Erweiterung zu, wenn zugleich nationale Obergrenzen für Waffen und Soldaten in den Staaten Europas vertraglich festgelegt werden. Russland ratifizierte diesen AKSE –Vertrag, die USA nicht. Folglich gibt es keinen. Trotzdem wurde die NATO nach Osten erweitert. Das Vertrauen Russlands in die Vertragstreue des Westens dürfte nicht all zu groß sein. Auch der Grundsatz in der NATO-Russland-Akte von 1997, in einem Raum gemeinsamer Sicherheit nicht die eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer zu gestalten, wurde durch die NATO verletzt. Schon 2008 hat Russland die NATO aufgefordert, ihren Beschluss, die Ukraine in den westlichen Militärblock aufzunehmen, zurückzunehmen. Russlands Anliegen wurde ignoriert: Noch im November 2021 bekräftigten USA und Ukraine ihr strategisches Ziel: die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Nach 2014 rüstete die NATO massiv auf, Russland rüstete ab. Das Verhältnis der Militärausgaben zu Gunsten der NATO veränderte sich bis 2021 von 11 zu 1 auf 18 zu 1. Diese Fakten stehen im Widerspruch zu dem hierzulande gepflegten Narrativ, der russische Imperialismus setze mit dem Krieg seit langem gehegte Eroberungspläne durch.

2019 kündigte Trump einseitig den INF-Vertrag, der die Stationierung von Mittelstreckenraketen überall auf der Welt an Land verboten hatte. Und die USA begannen prompt mit der Entwicklung von Hyperschallraketen für Luftwaffe, Marine und Heer. Für die US-Hyperschallraketen des Heeres, Dark Eagle, die auch nach Europa kommen können, wäre das US-Hauptquartier in Wiesbaden die Kommandozentrale. Was ist Dark Eagle? Ihr Gefechtskopf benötigt nur konventionellen Sprengkopf. Aufgrund seiner Schnelligkeit, seiner Manövrierfähigkeit und Präzision ist er nicht abfangbar. Er hat hochwertige Ziele, die ihren Aufenthaltsort verändern, im Visier. Dem russischen Präsidenten ist seine persönliche Gefährdung bewusst: Er stellte in seiner Rede an die Nation am 21. Februar 2022, drei Tage vor Kriegsbeginn, fest, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine es den USA ermöglichen würden, Raketen in die Ukraine zu stellen. Er sprach von sich in Entwicklung befindlichen „Hyperschall-Schlagmitteln“. Sie benötigten von Charkow bis Moskau nur eine Flugzeit von 4 bis 5 Minuten. Und wörtlich: „Das bezeichnet man als ‚das Messer am Hals‘“. Die Kommandeure der Dark Eagle und das Bedienpersonal sind bereits in Deutschland eingetroffen. Die USA planen, bis Ende September den ersten Protoptypen zu stationieren. Ob dann schon die Raketen hierher kommen, ist ungewiss. Ab 2025 ist mit der Serienproduktion von Dark Eagle zu rechnen. Es droht uns ein Déjà-vu wie vor 40 Jahren mit den Pershing 2.

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

was wir brauchen, sind Verhandlungen, die am Ende Russland und der Ukraine Sicherheitsgarantien geben und der Ukraine einen neutralen Status.

Es müssen Verträge ausgehandelt werden,

die erstens Obergrenzen bei schweren konventionellen Waffen von Heer, Luftwaffe und Marine zwischen der NATO und dem östlichen Pendent OVKS auf möglichst niedrigem Niveau festlegen. Das bedeutet Abrüstung. Der Aufrüstung der NATO-Staaten, ihr Zweiprozentziel, den Jahr für Jahr mehr als 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr wäre damit der Boden entzogen. Das Geld ist besser für Klimaschutz, Bildung und Gesundheit aufgehoben als im Rachen der Rüstungskonzerne.

Zweitens: Die Truppen beiderseits der Blockgrenzen müssen ausgedünnt werden.

Drittens: Es müssen Verträge ausgehandelt werden, die die Stationierung von Mittelstreckenraketen von Lissabon bis zum Ural ausschließen.

Viertens: es müssen Abrüstungsverträge ausgehandelt werden, die sämtliche Atomwaffen von NATO und Russland, die strategischen und die taktischen, einbeziehen, aber auch die Raketenabwehrsysteme und die Drohnen. Das beendet die Nukleare Teilhabe Deutschlands.

Und Fünftens: die gegenseitige Kontrolle muss völkerrechtlich verbindlich vereinbart werden.

Wenn diese Aufgaben nicht unverzüglich angegangen werden, sehe ich für unsere Zukunft schwarz. Dennoch: Die Hoffnung habe ich nicht aufgegeben. Ich vertraue auf eine aktive Friedensbewegung, die sich für den Waffenstillstand, den Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine, für Abrüstung und eine stabile europäische Friedensordnung einsetzt. Ich vertraue auf uns alle.

Vielen Dank.

 

Lühr Henken ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag (http://www.Friedensratschlag.de ), Herausgeber der Kasseler Schriften zur Friedenspolitik (https://jenior.de/produkt-kategorie/kasseler-schriften-zur-friedenspolitik/ ) und arbeitet mit in der Berliner Friedenskoordination (http://www.frikoberlin.de).