Redebeitrag für den Ostermarsch Osnabrück am 30. März 2024

 

- Sperrfrist: 30.03., Redebeginn: ca. 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreunde,

ich spreche heute zu Euch als langjähriger Betriebsrat von Karmann und sein Vorsitzender - mit so manchem Wasser gewaschen bei der Verteidigung der sozialen Interessen einer Belegschaft, die bis vor knapp 15 Jahren sehr lange in einem heftig geführten Konflikt um ihren Industriestandort stand. Erst dann gelang es, per Betriebsübergang bei Volkswagen anzulanden und wieder einigermaßen sicheren sozialen Boden unter den Füßen zu bekommen. Wir waren seinerzeit jedenfalls gut beraten, nicht die weiße Fahne zu hissen.

Und nun stehe ich hier und möchte beim Osnabrücker Ostermarsch als IG Metall Gewerkschafter ein Plädoyer genau dafür halten: dass nämlich in einem Krieg, der uns alle zu verschlingen droht, genau das eine richtige Strategie wäre. Ich hoffe, dass deutlich wird, dass wir um soziale Existenz ringenden Gewerkschafter damals gut beraten waren, alles auf eine Karte zu setzen und nicht die weiße Fahne zu hissen - und vielleicht wird auch deutlich, warum das im ukrainischen Krieg eine sehr andere Sache ist besonders dann, wenn die weiße Fahne in einem brutalen Krieg hissen sowieso nicht das gleiche ist wie Kapitulation, sondern im Sinne des Papstes "nur" heißt: VERHANDELN! Und wer da - nicht zuletzt aus den Reihen der allerchristlichsten Partei Deutschlands - sich heute über den Papst aufregt, sollte gerade über Ostern einmal darüber nachdenken, wie viel Schuld eigentlich auch Deutschland im Ukrainekonflikt auf sich geladen hat...

Ich sprach gerade von der Gefahr des Verschlingens durch den Krieg - und damit meine ich nicht nur den grausamen physischen Untergang und das damit zusammenhängende Leid, wie das heute mit hunderttausenden Soldaten an der Front und den Opfern und ihren Familien im Hinterland der unmittelbaren Kriegsparteien in Russland und besonders und der Ukraine bereits geschah und geschieht. Verschlungen zu werden, das kann auch uns über 1.000 Kilometer weiter westlich der Front passieren, wenn dem Krieg nicht bald Einhalt geboten wird - denn die globalen Verstrickungen der Kriegsparteien rücken uns immer bedrohlicher auf die eigene Pelle.

Hier meine ich jetzt besonders die immer spürbarer werdende wirtschaftliche Zerrüttung und als Folge die sozialen Zumutungen in Deutschland, was alles noch viel viel schlimmer kommen kann. Während die rasant steigenden Ausgaben für Rüstung in einen schützenden Kokon vor jedem Kürzungszugriff fest verpackt werden, werden die Zugriffe auf die sozialen Sicherungssysteme immer dreister und bedrohlicher: da ist zuerst einmal eine lange Latte von Verschlechterungen, nachdem der Stopp der zaghaften echten Reformpolitik der Ampel (Kindergrundsicherung!) längst erfolgt ist. Hier auch nur einige Stichpunkte dafür, dass es bergab geht:

Bundesfreiwilligendienste: minus 26 Prozent - Wohngeld minus: 16 Prozent - freie Jugendhilfe: minus 16 Prozent - psycho-soziale Zentren minus 60 Prozent - Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer minus 30 Prozent, Kürzungen beim Bürgergeld planen bisher (!!) nur AfD, CDU und FDP.

Und dann einige Schlaglichter auf den Zustand der großen Brocken des Sozialhaushalts und unserer dahinter stehenden sozialen Sicherungssysteme: Unsere (früher - fast - vorbildliche) Gesundheitsversorgung: alles immer katastrophaler. Die Pflege ist im Notstand, das Bildungssystem von Krippe/Kindergarten bis zur Universität: kurz vor dem Kollaps. Die sozialen und Kostenverhältnisse bei Wohnen/Mieten, kommunalen Dienstleistungen: sie werden zunehmend prekärer.

Und dann noch ein paar Worte zur Rente, bei der gegen alle verabreichten Placebos und gegen alle abwiegelnden Worte neue Bedrohungen in der Luft liegen:

Stichworte "Aktienrente" und "Kürzungen des Bundeszuschusses" aus Anlass der (wirklich nur zeitweise!?) geplanten Absenkung der Rentenreserve: Wenn dieser Krieg nicht bald gestoppt und ein neuer (ich sage nur China, China, China!!) nicht gar noch draufgesetzt wird, so prophezeie ich uns an dieser Stelle neben anderen Szenarien sozialer Bedrohungen einen Frontalangriff der sozial konservativen Eliten, deren aggressives Geraune bereits Fahrt aufnimmt, etwa so: "22 Millionen Rentner, hört mal zu: wir müssen Euch bald wegen Krieg und klammen Kassen eine neue Schwundformel für Rentenkürzungen aufs Auge drücken - auch wenn Ihr bereits unter der alten unter Riester aus dem Jahre 2003 zu leiden meint: alles viel zu üppig und Schluss mit lustig: Wir haben Zeitenwende..."

... Und seid gewiss, Freunde: Sie meinen damit nicht sich selbst, sondern uns!!!

Gestrichen habe ich einen Begriff, der mir an dieser Stelle einfiel, als ich über deutsche und europäische Geschichte und den ersten Weltkrieg sowie die darauf folgenden kurzen 15 Jahre der Weimarer Republik bis zur brauen Diktatur 1933 nachdachte: NEIN - es gibt heute, also 2024, keine Kriegswirtschaft wie nach 1914. Aber: wir könnten ganz schnell, wenn wir nicht aufpassen, in einen Krieg hineinschlittern wie damals. Und dann gäbe es sie, die voll ausgeprägte Kriegswirtschaft. Und Elemente davon gibt es schon heute, weshalb ich hier sagen möchte: AUFGEPASST, Leute! Wir haben also viele Gründe, gegen diesen Krieg zu sein aus humanitären Gründen sowieso und weil Kriege - erst recht einer wie dieser - "eine Kulturschande der Menschheit" sind: In der Stadt Remarques muss dieses, sein Wort also heute unbedingt fallen. Und ich erinnere an einen Zeitgenossen Remarques, der in seiner Kriegsfibel und nach Deutschlands größter Schande 1945 sich vor allem an den deutschen Arbeiter mit folgenden Worten wandte: "Dass Du Dich wehren musst, wenn Du nicht untergehen willst, das wirst Du, (Mensch), doch wohl einsehen". So die seinerzeitige Mahnung vor Wiederholungsgefahr durch den großen deutschen Dichter des arbeitenden Volkes Bertold Brecht.

Auch von dieser Stelle aus soll eines wiederholt werden - Achim Bigus und ich haben Ähnliches auf der konstituierenden Delegiertenversammlung der IG Metall bei unseren Kollegen, fast 200 Ehrenamtlichen aus den Betrieben, also vor berufenem Publikum, vor zwei Wochen so ausgedrückt: die jetzt noch nicht für den Frieden aufstehen, die noch abwarten , die vielleicht glauben, dass nur Russland die Schuld an diesem Krieg trägt, dass Putin ein großer Teufel ist und Russland besiegt werden muss - und dann ist alles wieder gut: Denkt also so Kollegen, und wie Ihr wollt, aber bedenkt vielleicht auch, dass alle großen Kriege vor allem auf europäischem Boden immer mit der Illusion von Völkern begannen, nämlich "wir sind die Guten". Nicht zum ersten Mal in der Geschichte nämlich soll die Welt an unserem Wesen bereits genesen. Aber heute ist das zum ersten Male wirklich so und wird nicht wieder im Katzenjammer enden? Oder könnte es vielleicht auch heute so sein wie 1914: Zwei Machtblöcke mit jeweils eigenen klein- und großimperialen Zielen bewehrt rasen aufeinander zu und am Ende werden wieder mal die kleinen Leute aller beteiligten Länder die Zeche bezahlen - woher also diese Sicherheit, dass Deutschland diesmal wirklich auf einem Freiheitspferd reitet?

An die "kleinen Leute" auch in unserer Stadt richtet sich also mein heutiger Osnabrücker Appel: Stehe also zu Putin und Russland jeder wie er will - und ja: Er hat vor 2 Jahren den da schon lange heimlich wabernden Krieg unter dem Radar auch unter westlicher Beteiligung enorm eskaliert, und der Einmarsch in die Ukraine ist ein völkerrechtswidriger Angriff: Gleichzeitig aber ist die westliche Kriegspartei wie in Afghanistan - und auch die Asche dort ist noch nicht kalt! - keine Friedenspartei, sondern sie ist eine Partei mit imperialen Interessen. Wir also haben als Arbeitnehmer mehrere Gründe gleichzeitig, unseren sowieso schmalen Wohlstand nicht auf dem Altar egoistischer Interessen zu opfern. Die heftiger gewordenen Forderungen von Gewerkschaften wie Verdi, auch der Lokführergewerkschaft GDL sowie anderer für sowieso nur notdürftige Besitzstandswahrung - sie sind mehr als berechtigt: Es gibt überhaupt keinen patriotischen Grund für eine neue Art von Verteidigung des Vaterlandes. Im Gegenteil sollte in allen Gewerkschaften, auch und nicht zuletzt meiner IG Metall und das koordiniert und nicht jede für sich allein, der Kampf um die Verteidigung der Sozialinteressen als unser Beitrag zur Wiedererringung des Friedens verstanden werden: wir müssen unsere Tarifkämpfe politisieren. Sich unserer sozialen Haut zu wehren muss mehr denn je unser gewerkschaftlicher Beitrag in einem Friedenskampf sein. Ja: auf uns kommt es ganz vorneweg an:

Schluss also mit dem gegenseitigen Völkermorden, wir wollen nicht für diesen Krieg zahlen. Die Kriegsparteien gehören an den Verhandlungstisch und die weiße Fahne gehört gehisst für einen Verhandlungsfrieden: Dabei geht es auch um soziale Umverteilung der Kriegsfolgen von oben nach unten!!

Ich danke Euch !

 

Harald Klausing ist Gewerkschaftsmitglied und langjähriger Vorsitzender des Betriebsrates von Karmann.