Redebeitrag für den Ostermarsch Jagel am 29. März 2024

 

- Sperrfrist: 29. März, Redebeginn: 14 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreunde,
sehr geehrte Damen und Herren hinter dem Zaun,

wir Menschen leben seit rund achtzig Jahren mit Atombomben. Die Atombomben stellen eine existenzielle Bedrohung der gesamten Menschheit dar. Und wenn wir die Atombomben nicht abschaffen, dann schaffen sie uns ab. Davor warnten kluge Leute wie der Physiker Albert Einstein und der Philosoph Bertrand Russell. Sie rieten uns, unsere einzige Chance zu ergreifen und den Krieg abzuschaffen.

Wir erleben jedoch derzeit, wie die gegenwärtigen Kriege dazu gebraucht werden, Begrenzungen und Beschränkungen von Rüstung und Militär in diesem Land wieder zu beseitigen. Beispielsweise hat Bayern gerade Zivilklauseln verboten und zwingt die Wissenschaftseinrichtungen des ach so freien „Freistaates“, für das Militär zu forschen. Der Einsatz von und die Drohung mit Gewalt soll wieder gesellschaftsfähig gemacht werden – von den schlichteren Gemütern mit der Verheißung eines militärischen Sieges – was auch immer das konkret heißen soll – und von den wortgewandteren Zeitgenossen mit der Verheißung, derart Kriege beenden und Menschenrechte durchsetzen zu können.

Es gibt in der Regierung, in Forschungseinrichtungen und in Think Tanks Menschen, die sich mit Fragen der internationalen Politik beschäftigen und von sich überzeugt sind. Sie meinen, sie würden den Frieden verteidigen und sie suchen zugleich Zuflucht in der vermeintlichen Stärke und Stabilität atomarer Gewaltmittel. Hinter der Fassade dieser atomaren Ideologie werden ganz banal große Geschäfte gemacht.

Die Kosten der Modernisierung der US-Atomwaffen werden für den Haushalt der USA mit ungefähr 1,2 Billionen US-Dollar veranschlagt. Deutschland hat vor gut einem Jahr für rund 10 Milliarden Euro in den USA Kampfflugzeuge vom Typ F35 bestellt, um damit noch jahrzehntelang Atombomben transportieren und abwerfen zu können. Die in Deutschland stationierten US-Atombomben werden nämlich gerade erneuert. An den neuen Bomben soll die Sprengkraft einstellbar sein, um sie vielfältiger einsetzen zu können. Und die neuen Bomben wären mit den alten Tornados nicht mehr einsetzbar gewesen.

Die Grenze zum Atomkrieg ist offen, solange die atomaren Gewaltmittel existieren. Die NATO, an deren atomaren Strukturen Deutschland sich beteiligt, droht mit dem atomaren Erstangriff und auch aus Russland verlauten entsprechende Drohungen. Das zuvor beschriebene Erweitern der Möglichkeiten des Einsatzes von Atomwaffen durch Modernisierung ist ein Beitrag dazu, dass die Atomwaffen uns abschaffen werden. Denn sie werden eingesetzt werden, wenn wir sie nicht vorher abschaffen. Und ein Land kann nun einmal nicht beides tun: Die Entscheidung für die Beschaffung, Lagerung, das Training des Einsatzes von und die ideologische Bindung an Atomwaffen ist eine Entscheidung, die die Mühe scheut den Weg zur Abschaffung der Atomwaffen zu beschreiten. Dieser Weg lässt sich beschreiten durch Entwicklung einer geistigen und mentalen Bereitschaft zu und dann auch praktische Schritte von Lockerung, Entspannung, Empathie, Diplomatie, Verhandlung, Schweigen der Waffen, Rückzug des Militärs in die Kasernen, Abrüstung, Begegnung, Jugendaustausch, Wissenschaftskooperation, Kulturaustausch, Feindbildabbau, Schließen von Freundschaften, Versöhnung, Dialog und Zusammenarbeit im ernsthaften Bemühen um Leben und Überleben der Menschheit.

Diejenigen, die derzeit das Abschaffen der Atomwaffen auf die lange Bank vertagen, die verhalten sich wie die Klimaleugner. Sie schaffen mit ihrer atomaren Aufrüstung Tatsachen, die kurz und mittelfristig die Abschaffung der Atomwaffen blockieren sollen. Die Menschheit ist doch kein pubertierender Jüngling und hat schon längst klügere Methoden der Konfliktbearbeitung entwickelt als Ultimaten und Drohgebärden. Die Gefahr ist lange bekannt und dennoch soll das kaputte Geschäftsmodell fortgesetzt werden. Das sind Versuche eines feigen und unredlichen Reißaus vor den Fragen, die uns der Frieden und die Zivilisation stellen. Diese atomaren Anschaffungen sind eine Fehllenkung gesellschaftlicher, menschlicher Arbeit, die damit einem zivilen und produktiven Nutzen entzogen wird. Und schlimmer noch ist die Behinderung der Rettungskräfte durch das Festklammern am bereits für falsch Erkannten und am Gefährlichen.

Und die Rettungskräfte gibt es längst. Es gibt seit 2021 ein – in den Vereinten Nationen beschlossenes – neues Völkerrecht, den Atomwaffenverbotsvertrag. Friedensbewegte in aller Welt haben den Vertrag auf den Weg gebracht und aus dem globalen Süden wurde er getragen von den Überlebenden der Atombombenexplosionen. Diesen Menschen wurden ihre Freunde und Angehörigen, Gesundheit und Naturschönheiten, ihre Inseln und Nahrungsquellen verwüstet und zerstört – für die atomare Kriegführung und Aufrüstung. Damit ist nun völkerrechtlich verbindlich verboten, Atomwaffen zu entwickeln, zu erproben, zu erzeugen, zu erwerben, zu besitzen, zu lagern, zu stationieren, zu transportieren, über sie zu verfügen, zu drohen sie einzusetzen und sie einzusetzen oder andere darin zu unterstützen oder zu ermutigen dies zu tun.

Schon 70 Staaten haben den Vertrag ratifiziert und weitere 27 haben ihn bereits unterzeichnet. Die verschiedenen Bundesregierungen haben sich bisher diesem neuen Völkerrecht verweigert. Deutschland hat sich sogar in den 1970er Jahren bei der Unterzeichnung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen eine Ausnahme vorbehalten, nämlich Atomwaffen im Kriegsfall entwickeln, beschaffen und einsetzen zu dürfen. Und die zweite Ausnahme in demselben Vertrag wurde sogar im „Atomausstieg“ fortgesetzt: Deutschland hält vertraglich abgesichert und praktisch realisiert an der Urananreicherung und Brennelementefertigung in Gronau und Lingen fest. Und in München-Garching steht ein Forschungsreaktor, der mit waffenfähigem, hochangereichertem Uran betrieben wurde. Derart werden in Deutschland die technologischen, industriellen und personellen Grundlagen für die Bombe aufrechterhalten. Die Politik der atomaren Abschreckung ist im Wortsinn ernst gemeint. Sollte die Abschreckung im Sinne der Verhinderung eines Krieges versagen, so soll im „Ernstfall“ ernst gemacht werden mit dem zweiten „Versprechen“ der Politik atomarer Abschreckung: Dann sollen die Atombomben beschafft und eingesetzt werden.

Anderenfalls würden sich „Realpolitiker“ nicht die makabere Mühe machen solche Ausnahmeregelungen für den Kriegsfall rechtlich zu fixieren. Im 2+4-Vertrag, der eigentlich ein Friedensvertrag sein sollte, wurde in letzter Minute auf westdeutsche Initiative noch mit reingeschummelt, dass „alle Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort[gelten].“ Somit gelten die deutschen Ausnahmeregelung für den Griff nach der Atombombe für den Kriegsfall fort.

Die Politik der atomaren Teilhabe führt in Richtung Ende der Menschheit. Es kann vorkommen, dass man einen Irrweg zurücklaufen muss, um dann voranzukommen. Jedoch wird gerade das Gegenteil vollzogen: Rüstungsindustrie, Militär und Befürworter:innen der Politik der atomaren Teilhabe verführen die Gesellschaft auf alte, längst erkannte morsche Irrwege. Sie füttern den aufgeheizten medialen Diskurs der sogenannten „Zeitenwende“ mit der unbewiesenen Behauptung, dass Abrüstung, Diplomatie, Pazifismus und Gemeinsame Sicherheit widerlegt seien. So wird die einstige Erkenntnis der Irrtümer der Abschreckungspolitik leichtfertig verworfen und tollkühn die Einsicht verdrängt, dass das Leben und Überleben der Menschheit nur durch gemeinsame Zusammenarbeit gesichert werden können.

Abschreckungspolitik destabilisiert, erhöht die Bedrohung, dreht an der Rüstungsspirale und verzehrt die zur zivilen Entwicklung einer Gesellschaft notwendigen Ressourcen. Vor allem ist die Politik der atomaren Abschreckung eine verbockte Verweigerung, sich ernsthaft den schwierigen und drängenden Fragen der Zivilisation zu stellen, von den Friedensfragen im engeren Sinn:
Wie lassen sich Gewaltmittel und Gewalteinsatz begrenzen, reduzieren, beenden?
bis zu den Friedensfragen im weiteren Sinn:
Wie lässt sich die Zusammenarbeit für die Verwirklichung der UN-Nachhaltigkeitsziele entwickeln?

Mit dem Atomwaffenverbotsvertrag hat ein Teil der Menschheit den Weg in die Zivilisation bereits beschritten. Die Vertragsstaaten, geeint in der Absicht die Atomwaffen abzuschaffen, stellen sich ganz realen und praktischen menschlichen Aufgaben: Wie können die verstrahlten Testgebiete saniert werden? Zum Beispiel versickert unter einem Betondeckel auf dem Eniwetok-Atoll der Marshallinseln – vergleichbar dem Sarkophag in Tschernobyl – hochradioaktiver Müll der Atomwaffentests und weiterer untergemischter Atommüll aus den USA. Der Klimawandel lässt den Meeresspiegel steigen und uns rennt die Zeit weg, den gefährlichen Strahlenmüll sorgfältiger zu lagern, bevor das ansteigende Meer das Eniwetok-Atoll verschlingt und Strahlung und Gifte weltweit verteilt. Dies ist der state of the art, der Zeitgeist des modernen Zusammenslebens der Völkergemeinschaft, dem sich das rückständige Deutschland bisher entzieht. Mit welcher Absicht und welcher Aussicht tut dies die eine „Fortschrittskoalition“ eigentlich? Und wie lange will sie ihre Verweigerungshaltung gegenüber solch praktischer internationaler Solidarität noch gegenüber ihrer Wählerschaft durchhalten?

Eine weitere praktische Aufgabe des Atomwaffenverbotsvertrags sind Entschädigungsleistungen und gesundheitliche Hilfen für die Betroffenen von Atomwaffentests und Atomwaffeneinsätzen. Jahrzehntelang wurden die Opfer und Überlebenden wie Versuchstiere beforscht, um für das Militär Erkenntnisse über die Schädigung durch die Verstrahlung abzuschöpfen. Es ist an der Zeit diesen Menschen nach dem Maß ihrer Bedürfnisse und ihrer Wünsche wirklich zu helfen, ihre Würde und ihre Gesundheit zurück zu erlangen soweit es geht. Auch anstatt in abstoßender Ignoranz hier die Krankenhäuser „kriegstauglich“ umzurüsten, muss es um Heilung und Gesundheit für alle Menschen gehen. Es ist nicht zuletzt eine Frage des Anstandes, dass ein so reiches Land wie die Bundesrepublik sich daran beteiligt und weltweit eine materielle Notwendigkeit. Damit wird ein Lernprozess verbunden sein. Die Verdrängungsmechanismen gegenüber der täglich andauernden Unmenschlichkeit einer Politik, die sich auf die Teilhabe an Atomwaffen versteift, werden in dem Maße erschüttert werden, wie die Menschen ein Gehör finden und zu Sprache kommen, in das Leben unserer Gesellschaft treten und uns täglich abfordern unsere Menschlichkeit wiederzuerlangen, um ihnen zu helfen und indem wir ihnen helfen. Menschlichkeit ist unteilbar.

Die verdrängten und geschmähten Erkenntnisse der Entspannungspolitik und der Gemeinsamen
Sicherheit sind nicht unterzukriegen und kehren in aktueller Fassung wieder. Ich zitiere jetzt etwas umfangreicher dem Bericht der Palme-Kommission:

„Ost und West, Nord und Süd haben ein zwingendes gemeinsames Interesse daran, die wirtschaftlichen Nachteile des militärischen Wettlaufs zu reduzieren.“

„Internationale Sicherheit muß von der Verpflichtung zu gemeinsamen Überleben getragen sein, nicht von der Androhung gegenseitiger Vernichtung. Auf der Grundlage dieser Strategie gemeinsamer Sicherheit erörtern wir praktische Vorschläge, wie Rüstungsbeschränkungen und Abrüstung zu erreichen seien. Das langfristige Ziel der Friedensbemühungen muß eine allgemeine und vollständige Abrüstung sein.“

„Das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit gilt besonders zwingend für die Länder der Dritten Welt. Gleich den Ländern, die mit Atomwaffen leben, können sie keine Sicherheit vor ihren Gegnern erlangen. Auch sie müssen politische und ökonomische Sicherheit anstreben, indem sie sich zu gemeinsamen Überleben verpflichten.“

„Gemeinsame Sicherheit kann also finanziell und materiell die Mittel schaffen, die erforderlich sind, um die großen Aufgaben der Menschheit anzupacken: Hunger, Unterentwicklung und das ökologische Gleichgewicht unseres gemeinsamen Lebensraumes, der Erde.“

„Die Völker müssen begreifen lernen, dass der Erhaltung des Weltfriedens eine höhere Priorität zukommt als der Durchsetzung ihrer eigenen ideologischen oder politischen Positionen.“

Und einen wichtigen Hinweis der Palme-Kommission darauf, wie dies in Gang zu bringen ist, möchte ich noch zitieren: „Es war für uns sehr ermutigend, daß, während die Kommission zu ihrer Arbeit zusammentrat, breiteste Schichten der Bevölkerung ihre Meinung so lautstark für Frieden und Abrüstung kundtaten.“ „Es ist erforderlich, dass der politische Wille des Volkes in vielen Teilen der Welt zum Ausdruck kommt. Einzige Vorbedingung ist lediglich eine konstruktive Wechselbeziehung zwischen der Bevölkerung und jenen, die unmittelbar verantwortlich sind für die Durchführung der komplizierten Verhandlungen, die einer Abrüstung vorangehen müssen.“

Lasst uns an der Erfüllung der Vorbedingen arbeiten und uns diese Politiker:innen bilden.

Ich sage deshalb jetzt mal nichts zu den anstehenden Aktivitäten von Friedensbewegten und ermuntere stattdessen dazu, mit den Kandidierenden zu den anstehenden EU-Wahlen ins Gespräch zu gehen. Sie werden ja zu ihren öffentlichen Veranstaltungen einladen. Wenn Ihr dort redet, werden die Teilnehmenden über Eure Friedensargumente nachdenken und die Kandidierenden können mitziehen und lernen, sich bewegen oder „es“ schlicht verbocken. Alle haben die Wahl.

Vielen Dank.

 

Jochen Rasch ist aktiv bei ICAN.