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Redebeitrag für den Ostermarsch in Büchel am 21. April 2025
- Sperrfrist: 21.04., Redebeginn: ca. 14 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort –
Für ein Europa ohne Atomwaffen!
Keine Mittelstreckenwaffen in Europa!
Liebe Freundinnen und Freunde,
vielen Dank an alle Beteiligten für die Organisation dieses Ostermarsches und für die Einladung, hier zu sprechen!
Vor drei Monaten war es wieder soweit: Das Expertengremium der Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists stellte die »Doomsday Clock« neu. Dieses Symbol für das Handeln oder Versagen der Weltgemeinschaft zeigt seit 1947 an, wie groß die Gefahr für das Überleben der Menschheit ist.
1991 war der Zeiger der »Doomsday Clock« so weit von Mitternacht entfernt wie noch nie zuvor. Der Kalte Krieg, die Blockkonfrontation zwischen Ost und West, schien zu Ende zu sein. Im ersten START-Vertrag vereinbarten die USA und die Sowjetunion eine deutliche Reduzierung von strategischen Trägersystemen und Atomsprengköpfen. Kurz zuvor wurde Vollzug des INF-Vertrags über landgestützte Mittelstreckenwaffen gemeldet; die letzte dieser Waffen wurde demontiert – die Pershing-II und Cruise Missiles des Westens und die SS-20 des Ostens waren komplett abgerüstet. US-Präsident Bush kündigte den einseitigen Abzug Tausender taktischer Atomwaffen an, und einige Tage später zog die Sowjetunion nach. Kurz darauf löste sich die Sowjetunion auf, die Verantwortung für die sowjetischen Atomwaffen ging auf Russland über. Der Zeiger der »Doomsday Clock« stand damals, vor 34 Jahren, auf 17 Minuten vor 12, das sind 1.020 Sekunden.
1.020 Sekunden. Und wo steht der Zeiger seit Januar? Bei 89 Sekunden! Inzwischen berücksichtigt das Expertengremium außer den Gefahren der nuklearen Rüstung auch andere: den Klimawandel, die rasanten Entwicklungen in den Biowissenschaften und neue disruptive Technologien, wie Künstlicher Intelligenz. Uns interessiert vor allem die Einschätzung des »Bulletin« der nuklearen Gefahren.
Hier werden folgende Faktoren als besonders Besorgnis erregend genannt:
- dass der Krieg in der Ukraine schon drei Jahre tobt und bewusst oder aufgrund von Fehleinschätzungen die Schwelle zum Atomwaffeneinsatz überschreiten könnte;
- dass alle neun Atomwaffenstaaten Hunderte Milliarden Dollar in den Ausbau ihrer Atomwaffenarsenale investieren und Atomwaffen wieder eine größere Rolle in ihrer Politik spielen;
- dass Abrüstung und Rüstungskontrolle zusammenbrechen und die Atomwaffenstaaten keine adäquaten Kontakte mehr miteinander haben und
- dass in immer mehr Nicht-Atomwaffenstaaten über eigene Atomwaffen nachgedacht wird.
Und spätestens bei diesem Punkt können wir in Deutschland nicht mehr mit dem Finger auf „die anderen“ verweisen. Auch bei uns werden in immer rascherer Folge Forderungen bekannt nach einer eigenen Atomwaffe. Wie ist das denn gemeint? Sollen wir aus dem Atomwaffensperrvertrag austreten und den Kollaps des globalen Nichtverbreitungsregimes auslösen? Sollen wir es Iran gleichtun und für vorgeblich friedliche Zwecke Uran anreichern bis zu einem Grad, der den Bombenbau ermöglicht?
Was ist das für ein Unsinn! Als wäre die nukleare Teilhabe, für die der Fliegerhorst Büchel steht, nicht schon schlimm genug!
Hier in Büchel sind wohl 15 Atomsprengköpfe der USA stationiert. Jeder davon mit der mehrfachen Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe. Auch der neue Bombentyp für die nukleare Teilhabe, die B61-12, ist keine »kleine« Bombe, sondern kann bis zu 45 Kilotonnen Sprengkraft entfalten. Das ist fast das Vierfache der Hiroshima-Bombe. Die B61-12-Bombe ist mit einem Raketenmotor, einem steuerbaren Heckteil und einem Navigationssystem ausgestattet. Das ermöglicht eine gewisse Lenkfähigkeit und eine deutlich höhere Zielgenauigkeit. Obendrein kann die Bombe tief in die Erde eindringen oder zu einem gewissen Maß auch Bunker brechen. Strategen halten die neue Bombe aufgrund dieser Charakteristika für »einsetzbarer« als den alten Bombentyp.
Tatsächlich – eine einsetzbare Atombombe? Denken die Politiker*innen, Militärs und Medienleute, die sich für »nukleare Abschreckung« stark machen oder leichtfertig von einem »nuklearen Schutzschirm« sprechen, je darüber nach, was der Einsatz einer Atomwaffe anrichtet? Im Sommer werden wir den 80. Jahrestagen von Hiroshima und Nagasaki gedenken. Ich bin sicher, wir alle haben Bilder vor Augen von den grauenhaften Folgen dieser beiden Atomwaffenabwürfe. Wie kann man da von »besserer Einsetzbarkeit« des Bücheler Atomwaffenarsenals reden?
Ein weiterer Aspekt der Teilhabe Deutschlands und anderer NATO-Länder am US-Atomwaffenarsenal wird in der öffentlichen Debatte ganz ignoriert: Deutschland, ja die ganze NATO, kann in anderen Ländern nicht anprangern, was hier seit Jahrzehnten Usus ist. Als der russische Präsident Wladimir Putin vor zwei Jahren ankündigte, in Belarus würden russische Trägersysteme und Atomsprengköpfe stationiert, blieben unsere Politiker*innen merkwürdig still. Inzwischen wurden Iskander-Raketen nach Belarus verbracht, belarusische Kampfflugzeuge umgerüstet, belarusische Piloten für den Abwurf von Atombomben trainiert und vom belarusischen Präsidenten Lukaschenko öffentlich Einsatzszenarien thematisiert. Die deutsche Politik quittiert das mit Schweigen. Was auch sonst? Kritik ist unmöglich, Büchel ist ja das deutsche Gegenstück.
Es geht aber immer noch schlimmer: Seit Amtsantritt von US-Präsident Trump meinen viele, Deutschland müsse militärisch unabhängiger von den USA werden. Es treibt sie der Gedanke an Donald Trumps Unzuverlässigkeit um. Für den künftigen Bundeskanzler Friedrich Merz liegt offenbar auf der Hand, dann müsse man sich eben einen anderen nuklearen Bündnispartner suchen. Nukleare Teilhabe mit Frankreich schwebt Herrn Merz vor. Die einen überlegen, in Deutschland französische Atomsprengköpfe zu stationieren, deren Einsatz allerdings der französischen »Force de frappe« vorbehalten wäre. Dem deutschen Militärhistoriker Sönke Neitzel fällt noch eine andere Option ein: Französische Marschflugkörper mit Atomsprengköpfen könnten auch auf deutschen U-Booten stationiert werden, die durch die Ostsee pflügen.
Echt jetzt, meint der Potsdamer Professor für Militärgeschichte das ernst? Vielleicht sollten wir ihm ein Buch über Hiroshima schenken, damit er nochmal über diesen Vorschlag nachdenkt …
Aber selbst wenn wir bei dem bleiben, was es schon gibt, nämlich bei der nuklearen Teilhabe hier in Büchel, gibt es genug Anlass für Protest. Von der Stationierung des neuen Bombentyps B61-12 sprach ich schon. Der Kauf neuer Trägerflugzeuge, der US-amerikanischen F-35, wird aus dem Sonderschuldenpaket finanziert, das der Bundestag 2022 beschloss. Und im neuen Koalitionsvertrag heißt es in punkto Atomwaffen knapp: „Wir halten an der nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO fest. Sie ist integraler Baustein der glaubhaften Abschreckung durch das Bündnis.“ (S. 129/130)
Abschreckung – pah! Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen, wir lassen uns nicht durch Verbiegung der Sprache einlullen!
Nun treibt uns aber neben den Atomwaffen seit Juli vergangenen Jahres ein weiteres Thema um: der Plan, in Deutschland landgestützte Mittelstreckenwaffen der USA zu stationieren. Die wurden – ich hatte es im Zusammenhang mit der »Doomsday Clock« bereits erwähnt, von Roland Reagan und Michail Gorbatschow vor knapp 40 Jahre wegverhandelt und in der Folge verschrottet. In seiner ersten Amtszeit kündigte US-Präsident Trump den zugrunde liegenden INF-Vertrag allerdings auf. Und jetzt sind beide Seiten, die USA und Russland, dabei, diese Waffengattung wieder einzuführen.
Russland zeigte vergangenen November mit dem Beschuss einer Rüstungsfabrik im ukrainischen Dnipro demonstrativ, dass es bereits eine ballistische Raketen mittlerer Reichweite hat und welchen Schaden diese auch ohne nukleare Bewaffnung anrichten kann. Das lässt sich als Antwort verstehen auf die Vereinbarung, die Kanzler Scholz und Präsident Biden am Rande des NATO-Gipfels vergangenen Juli vorstellten. Sie ist nur wenige Zeilen lang und besagt unter anderem: „Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.“
Klingt verworren? Ist es auch. Was soll das denn sein, eine zeitweilige Stationierung als Teil zur Planung einer dauerhaften Stationierung?
Die Vereinbarung zählt folgende „weitreichenden Waffensystemen“, also Mittelstreckenwaffen, auf: „SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen“.
Nach Deutschland soll wohl eine Version der ballistischen Rakete Standard Missile 6 (SM-6) verlegt werden, die mit Hyperschallgeschwindigkeit 1.600 km weit fliegt. Der Marschflugkörper Tomahawk fliegt je nach Variante bis zu 2.500 km weit. Und die Reichweite der Hyperschallrakete »Dark Eagle« beträgt etwa 2.700 km.
Stellen wir uns mal eine Landkarte von Europa vor, einschließlich Russland bis zum Ural. Vom US-Stützpunkt Grafenwöhr im Osten Bayerns liegt Moskau etwa 2.000 km entfernt. Mit 2.700 km geraten auch Ziele weit im russischen Kernland ins Visier, nicht weit weg vom Ural.
Die Raketen und Marschflugkörper sind auf große Sattelschlepper montiert, also mobil. Nuklear bewaffnet sind sie nicht, sondern konventionell, bzw. Dark Eagle hat gar keinen Sprengkopf – der Hyperschallgleiter zerstört ein Ziel durch die schiere Wucht des Aufpralls.
Ein Marschflugkörper fliegt zwar langsam, aber besonders tief, buchstäblich unter dem Radar, und kann deshalb von den Frühwarnsystemen der gegnerischen Seite nur schwer entdeckt werden. Hyperschallraketen hingegen fliegen besonders schnell – Dark Eagle wird eine Geschwindigkeit bis 21.000 km/h nachgesagt. Werden solche Waffen von Frühwarnsystemen entdeckt, bleibt kaum Zeit, um zu reagieren.
Die zur Stationierung in Deutschland vorgesehenen Mittelstreckenwaffen der USA eignen sich daher gut, um mit einem Überraschungsschlag so genannte »Hochwertziele« auf russischem Territorium auszuschalten, Abschussrampen für Atomraketen etwa oder mobile Kommandozentralen. Und Frühwarnradars. Russland ist auf landgestützte Frühwarnsysteme angewiesen, da es kaum Frühwarnsatelliten im Weltraum hat.
Es liegt also auf der Hand, dass Russland die Stationierung dieser Systeme in Deutschland als Bedrohung einstuft. Präsident Putin bezeichnete sie gar als „Messer an der Kehle“. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Fehlwahrnehmungen, Missverständnissen, Computerfehlern und falschen Alarmmeldungen kommt und Russland einen Gegenangriff startet, obgleich es gar nicht angegriffen wird. Dann würde die Situation leicht außer Kontrolle geraten, denn der Westen, die NATO, würde ebenfalls Waffen abschießen, es könnte sogar zum Einsatz von Atomwaffen kommen.
Deutschland läge dann im Zentrum des Geschehens, denn hier sind die US-Waffen ja stationiert. Sie fliegen nach Wiesbaden, weil hier seit gut drei Jahren die Multi-Domain Task Force und das 56. Artilleriekommando untergebracht sind, denen die Mittelstreckenwaffen zugeordnet sind. Sie fliegen nach Stuttgart, weil im EUCOM die Befehlszentrale des US-Militärs für Europa ist. Sie fliegen nach Grafenwöhr, wo das 41. Artilleriekommando der USA schon vor sieben Jahren reaktiviert wurde – Ihr seht, die Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen war seit Jahren geplant.
Vermutlich fliegen russische Raketen dann auch nach Berlin und anderen politisch oder militärisch wichtigen Orten, wie zur Ramstein Airbase – oder zum Atomwaffenstützpunkt Büchel.
Unser Widerstand gegen diese Stationierung wird durch einen weiteren Faktor erschwert: Auch in Europa wird an landgestützten Mittelstreckenwaffen gearbeitet. Die deutsche Regierung will mit sechs Partnerländern eigene Marschflugkörper mittlerer Reichweite entwickeln, bauen und stationieren. Das Projekt läuft unter dem Namen ELSA – European Long Range Strike Approach – und wurde u.a. von Kanzler Scholz initiiert. Beteiligt sind außer Deutschland aktuell Frankreich, Italien, Polen, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich. Die Rüstungsindustrie rangelt sich schon um die Aufträge.
Und Deutschland will es nicht bei einem Marschflugkörper belassen. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir fördern verstärkt Zukunftstechnologien für die Bundeswehr und führen diese in die Streitkräfte ein. Dies gilt insbesondere für […] Hyperschallsysteme.“ (S. 131) Eigene Hyperschallraketen also für die Bundeswehr?
Wir müssen aus dieser Rüstungsspirale raus, und das geht nur gemeinsam!
Die USA, Europa und Russland müssen miteinander reden – die Ausrede, dass eine Seite gar nicht verhandeln wolle, lassen wir nicht gelten, egal, um wen es geht. Wir müssen weiter streiten! Die neue Bundesregierung kann sich Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung nur noch als „langfristiges Ziel“ vorstellen. Unsere Vorstellungskraft reicht weiter – und unsere Forderungen auch!
Wir fordern:
- Keine neuen Mittelstreckenwaffen, nicht in Deutschland, nicht in Russland, nirgendwo in Europa!
- Abzug der Multi-Domain Task Force und des Artilleriekommandos aus Wiesbaden und auch des Artilleriekommandos aus Grafenwöhr!
- Dialog statt Aufrüstung! Verhandlungen über einen neuen Mittelstreckenvertrag! Und Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag!
- Nicht Missachtung und Schwächung, sondern Stärkung des Völkerrechts!
- Und neue Initiativen für gemeinsame Sicherheit und Zusammenarbeit und Europa!
Wir wissen, das ist nicht einfach, und dennoch:
- Wir beharrend auf der langfristigen Vision einer gemeinsamen Friedensordnung in Europa!
Vielen Dank für’s Zuhören!
Regina Hagen ist aktiv im Darmstädter Friedensforum und im Kampagnenrat »Friedensfähig statt erstschlagfähig! Für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen« (friedensfaehig.de). Für das Aktionsbündnis atomwaffenfrei.jetzt ist sie eine Sprecherin.